Kapitel 1
Mungo schluckte, aber er konnte es wohl kaum verheimlichen. Man sah es ihm an, so wie er rumlief. Seine Weigerung, sich der modernen Kleiderordnung anzupassen, schlug sich nieder in Skepsis, mit der man ihm begegnete.
Er trug eine Leggins aus Hirschleder und ein schmutziges Hemd, das mit bunten Perlen bestickt war, die früher mal ein Muster gebildet haben mussten. Statt eines normalen Huts, trug er ein Stirnband aus Leder, das ihm die langen, strähnigen, grauen Haare aus dem Gesicht hielt.
Seit er wieder hier war, wünschte sich Mungo, er müsste niemandem mehr begegnen. Einsamkeit jedoch machte ihm andererseits große Angst. Einen solchen Zustand konnte man nur mit Unzufriedenheit und dem Empfinden von Unglück – grundsätzlichem Missmut – bezeichnen. Er wollte nichts und er konnte es nicht ertragen, nichts mehr zu haben.
Er kannte hier niemanden und er war nur hergekommen, um diesen Mister Frank zu treffen, den man ihm empfohlen hatte. Er frage nicht nach, wo man herkomme. Er nähme alle, die sich als tüchtig und treffsicher erwiesen. Er bezahle gut, weil er für die Eisenbahn arbeite. So hieß es. So versicherte man es ihm.
Mungo hatte es sich so vorgestellt, dass er ein paar Schüsse auf ein Ziel würde abgeben müssen. Dann würde Frank feststellen, dass er nicht geeignet war und ihn fortschicken. Große Hoffnungen machte er sich nicht, aber er musste es versuchen. Für ein erbärmliches Leben zu kämpfen war immer noch besser als der Tod.
Stattdessen saß er nun in einer dunklen Kaschemme, deren Fußboden mit Stroh ausgelegt war und trank Bier auf Kosten eines feinen Pinkels, der ihn mit einem Raubtiergebiss angrinste. Die Frage nach dem Alter war bisher nicht gestellt worden und seine Schulter war nur mit einem kurzen Nicken quittiert worden. Ein seltsamer Typ, dachte Mungo. Aber das dachte er in letzter Zeit immer, wenn er mit jemandem ins Gespräch kam.
Seltsame Typen schienen die Weltherrschaft an sich gerissen zu haben. Niemand schien mehr aufrichtig zu sein und anderen mit Respekt und Ehrlichkeit zu begegnen.
Mungo war es nicht mehr gewohnt zu verhandeln, zu feilschen, zu beschönigen oder zu lügen. Er war es auch nicht mehr gewohnt, belogen zu werden und wie er feststellte, logen die Leute in diesen Siedlungen immer, wenn sie den Mund aufmachten. Es fiel ihm schwer, das Gespräch in Gang zu halten und trank schnell einen Schluck Bier.
Gemustert zu werden, gefiel ihm nicht, denn er gefiel sich selbst nicht. Alt, krumm und lädiert humpelte er mit schmerzenden Gelenken durch die Straßen. Aufs Pferd steigen kostete Überwindung und Kraft. Das alles musste Frank doch beim ersten Blick gesehen haben. Wieso aber starrte er Mungo immer noch an? Diese Blicke waren unangenehm, bohrten sich durch Haut und Fleisch wie Pfeile.
Vor seinem Gespräch mit Frank hatte Mungo versucht, seine Erscheinung etwas zu verbessern, hatte gebadet und sich rasiert. Die Haare ließ er sich jedoch nicht schneiden. Wenn Frank ihn haben wollte, dann musste er das mit den Haaren hinnehmen. Und auch das mit seiner Kleidung.
„Indianerkluft", erläuterte Frank, als Mungo nicht auf seine vorherige Anmerkung antwortete.
Mungo nickte und wischte sich den Bierschaum von der Oberlippe.
„Sioux", erkannte Frank.
Mungo nickte wieder.
„Nun, wir haben alle unser Steckenpferd, was?"
„Man muss die Menschen nehmen, wie sie sind", bestätigte Mungo.
„Ich will ehrlich sein", sagte Frank, „Als man Sie mir empfohlen hat, habe ich Sie mir anders vorgestellt. Jünger und...".
„Weniger krank?", ergänzte Mungo.
„Ja", es klang, als wäre es Frank peinlich, das zuzugeben, doch Mungo wusste es besser. Alles, was diese Menschen von sich gaben, waren Übertreibungen, Schau und Lügen. Damit musste man umgehen, wenn man ein ruhiges und angesehenes Leben führen wollte.
Eine seltsame Form von Einsamkeit, dachte Mungo. Unter all diesen Menschen, ist man trotzdem immer allein, weil man seine Gedanken unter allen Umständen für sich behalten muss. Denn es waren unanständig Gedanken, wie Mungo wusste. So gut wie alles war unanständig. Jemanden zu beleidigen war unanständig. Jemanden zu loben war ein Zeichen von Schwäche. Jemandem die Meinung zu sagen, war inakzeptabel. Aber jemanden zu belügen war in Ordnung, solange die Lüge nett klang.
Mungo musste sich diese Regeln immer wieder ins Gedächtnis rufen, wenn er ein Gespräch führte. Freundlichkeit und Scheinheiligkeit wurde immer wichtiger, seit aus den ehemaligen Siedlungen Städte mit Einfluss und Prestige geworden waren. Die Zivilisation schleicht sich an uns heran, dachte Mungo, aber die Wildnis versteckt sich überall – in diesem Lächeln zum Beispiel.
„Sie können schießen?", fragte Frank mit einem Nicken in Richtung von Mungos linker Schulter.
„Da, wo ich her komme, musste ich schießen, egal wie weh es tat. Ich denke, ja", sagte Mungo und versuchte das Grinsen zu imitieren.
„Sie denken?", bohrte Frank.
„Ich meine: Ja", verbesserte Mungo, der sich wieder an den Grundsatz der veränderlichen Ehrlichkeit erinnerte.
„Wo Sie herkommen... Wo ist das genau?"
Mungo seufzte. Er hasste es, ausgefragt zu werden. Er wollte, dass es respektiert wurde, wenn er etwas für sich behalten wollte. Außerdem hatte er doch gehört, dass dieser Frank diskret sei. Auf nichts konnte man sich verlassen! Die Sprache dieser Menschen bestand nur aus Worthülsen, fiel ihm erneut ein.
„Wounded Knee", sagt er, als hätte er damit ein Geständnis abgelegt.
„Das dachte ich mir. Schließlich sind Sie hier. In diesem Aufzug. Freiwillig sind sie sicher nicht zurückgekehrt. Sie sind ein trotziger Mann, nicht wahr?"
„Immerhin bin ich ein überlebender Mann", sprach Mungo dazwischen und war stolz auf seine Kühnheit, Frank einen solchen Satz entgegen zu schleudern. Freundlich hatte er ihn nicht formuliert, aber offenbar gefiel Frank diese Art und in seinen Augen begann etwas zu glimmen, das nur Interesse sein konnte.
Zuvor hatte er nur da gesessen und mit halbem Ohr zugehört, was Mungo ihm zu sagen hatte. Es waren keine besonders interessanten Dinge gewesen. Er wusste bereits beim ersten Blick, dass er es mit einem Kerl zu tun hatte, der sich für eine Rothaut hielt. Solche Dinge berührten ihn jedoch wenig. Seine Leute mussten schießen und reiten können. Einen alten Kopfgeldjäger in seine Dienste zu nehmen, konnte Vorteile bringen. Aber einer, der Wounded Knee überlebt hatte, der war wirklich interessant.
Mungo bemerkte, dass Frank ihm plötzlich mehr Aufmerksamkeit zu schenken bereit war. Die Haltung des Mannes straffte sich und die unnatürlichen Augen bekamen ein unheilvolles Blitzen. So etwas hatte Mungo schon einmal gesehen und seit dem war er vorsichtig, bei allzu neugierigen Menschen. Ehe er weiter sprach, nahm er noch einen Schluck Bier. Eigentlich hatte er keinen Durst und eigentlich trank er nicht, aber dieser Ort und dieses Gespräch und vor allem dieser Kerl machten ihn nervös.
Er hatte sich Franks Äußeres und sein Gebaren in etwa so vorgestellt, aber jetzt, wo er Mungo gegenüber saß, wirkte diese Aura von Autorität plastisch. Die Zeit der theoretischen Gedankenspiele waren vorbei. Jetzt galt es, hier heil wieder rauszukommen!
Ein Blick in diese Schlangenaugen genügte, um Mungo zu überzeugen, dass er den Job nicht mehr haben wollte. Dummerweise schien Frank immer deutlicheres Interesse an ihm zu zeigen. So sollte das eigentlich nicht laufen, dachte Mungo und nippte erneut an seinem Bierkrug.
Ein Mann in schwarz bedeutete in der Wüste, dass man es mit einem eitlen und zugleich gefährlichen Kerl zu tun hatte, der sich noch nicht einmal von der Witterung etwas vorschreiben ließ. Der Anzug war sauber und hochwertig. Die Nieten und Schnallen glänzten, als hätte Frank sie die ganze Nacht über poliert. Trotzdem konnte dieser Tand nicht gegen die Wirkung der Augen ankommen. Schlangen schauten einen so an. Ja, der Vergleich passte, dachte Mungo. Eine Klapperschlange in Menschengestalt. Und mit dem Gebiss eines Wolfes. Es wunderte ihn, dass kein Blut an den Zähnen klebte. Im Gegenteil: Auch die Zähne glänzten. Weißere hatte Mungo nie gesehen. Irgendwas machte dieser Frank damit, dass sie so aussahen!
Zum Zeichen, dass er es sich hier gemütlich machen wollte, legte Frank seinen Hut ab und platzierte ihn auf dem Tisch. Es war ein Zeichen dafür, dass er zwar neugierig war und bleiben wollte, gleichzeitig aber langsam ungeduldig wurde. Er lehnte sich zurück und blickte zur Zimmerdecke, als suche er nach Worten, die Mungo nicht beleidigen sollten.
Mungo beobachtete ihn schweigend. Er wollte, dass Frank sagte, was er sagen wollte. Unausgesprochene Dinge fand Mungo mit den Jahren immer anstrengender. Er konnte nicht mehr in Mimik und Gestik lesen. All diese Gewohnheiten waren ihm fremd geworden. Fremd und verhasst, wie er zugeben musste.
Seltsam, dachte er, dieser Frank poliert die Knöpfe an seinem Anzug und seine Zähne gleich mit, aber seine Haare trägt er wirr und ungekämmt. Mungo hatte Frank für eitel gehalten. Und auch sein Hut strahlte eine gewisse Affinität zu Luxusartikeln aus. Er war krachneu – nicht gebraucht oder gepflegt, nein, direkt vom Hutmacher, maßangefertigt. Aber die Haare, die Frank darunter verbarg...
Mungo verstand, warum Frank schwarze Kleidung bevorzugte. Sein Image war ihm wichtig und zu diesen Haaren passte nur ein schwarzer Anzug. Verfilzte, schwarze Locken machten nicht viel daher, aber mit diesen Augen, den Zähnen und polierter Verzierung konnte man auch diese Unzulänglichkeit ausgleichen. Frank versteckte die Wildheit hinter zivilisierter Kleidung, aber was darin steckte, war ein Tier.
„Erzählen Sie mir von Wounded Knee!", forderte Frank Mungo auf und Mungo frage sich, warum er das tat. War es echtes Interesse daran, was er in der Lage war zu leisten oder spiegelte sich in den Reißzähnen des schwarzen Mannes eine sadistische Lust am Tod?
Wounded Knee, dachte Mungo wie an eine unwirkliche Schauergeschichte. Doch die Erinnerungen breiteten sich langsam aus, wie ein Tropfen Gift, der ein Fass mit kostbarem Wasser in eine tödlichen Brühe verwandelte.
Eigentlich wollte er es in sich begraben, es zuschütten wie ein Grab. Wounded Knee, es war wie ein Traum gewesen und jetzt, zurückblickend erkannte er, dass es das nicht gewesen war. Die Erkenntnis traf ihn erneut wie ein Schlag in die Magengrube. Es war alles vergangen und unmöglich zurückzuholen. Es war endgültig vorbei. Und er hatte hier her zurückkommen müssen.
***
Es war ein klirrend kalter Morgen. Schnee bedeckte die Prärie beinahe kniehoch. Es gab schon seit einigen Wochen Probleme mit der Versorgung. Die Pferde mussten gefüttert werden, da sie in der ohnehin kargen Landschaft unter dem Schnee kaum etwas zu Fressen fanden und die Sioux waren auf die Lebensmittellieferungen der umliegenden Forts angewiesen. An Jagen war nicht zu denken, denn hier gab es kein Wild. Es war fortgezogen oder ausgerottet worden.
Die meisten Kinder kannten Büffel nur noch aus den Erzählungen der Älteren. Sie starrten mit großen Augen, wenn sie von den riesigen Tieren erfuhren, die einst ihre Vorfahren ernährt hatten, ohne dass diese auf die weißen Soldaten angewiesen waren.
„Sie lebten in Herden und zogen durch die Prärie. Sie hatten Routen und nahmen immer den gleichen Weg, wenn sie von einem Ort zum nächsten zogen. Wir mussten nur warten, bis sie kamen. Dann stiegen wir auf unsere Ponys und jagten, bis wir keine Kugeln mehr hatten", erzählte Mungo, der diese Jagden auch nur aus Erzählungen kannte. „Wir horchten am Boden und wenn sie kamen, vibrierte das Gras. Die Pferde wurden nervös, denn sie wussten es ebenfalls, wenn die Büffel kamen. Denkt immer daran, so ein Pferd ist oft schlauer als ein Mensch. Hört immer auf euer Pferd!"
In letzter Zeit wurde viel erzählt und von alten Zeiten gesprochen, fiel Mungo auf. Es gefiel ihm nicht, denn wenn Menschen sich wehmütig an die Vergangenheit erinnerten, lief irgendetwas in der Gegenwart schief. Ab und zu sprach er es an und man versprach ihm, darüber nachzudenken, aber zu einem Ergebnis kam nie jemand.
Mungo atmete Verzweiflung ein. Was war nur aus seinen Freunden geworden? Jedes Volk hatte seinen Stolz, aber die Sioux waren mehr als stolz. Sie hielten Überheblichkeit für eine Form von Stärke. Die Erkenntnis, dass sie am Ende waren, hatte sie gebrochen.
Noch immer betrachtete sich Mungo manchmal als Außenstehender, obwohl er bereits seit Jahren hier lebte, die Kinder sich ein Leben ohne ihn gar nicht vorstellen konnten und er beliebt und geachtet war. Zugegeben, manchmal spottete man über seine Eigenheiten, aber niemand schloss ihn deswegen aus. Das Gefühl, nicht so ganz dazuzugehören, erwuchs in Mungo allein und es meldete sich jede Nacht, wenn er allein in seiner Unterkunft lag und darum rang, endlich einzuschlafen.
Dann ließ er sich durch den Kopf gehen, was ihm schon früher einmal aufgefallen war: Die Rothäute gehen an ihrem eigenen Aberglauben vor die Hunde!
Die Geschichten über die guten, alten Zeiten, welche zu Anfang nur dazu da waren, die Kinder nicht vergessen zu lassen, dass sie stolz sein mussten, wenn sie Menschen sein wollten, bekamen immer absonderliche Formen. Waren es zuerst Heldengeschichten über glorreiche Krieger gewesen, erzählte man sich bald alte, fast vergessene Märchen über die Entstehung der Welt und der Menschen. Mungo hatte fast den Eindruck, dass die Männer und Frauen, die sich Abends in ihre Felle kuschelten, um der Kälte zu entgehen, diese Geschichten für bare Münze nahmen - oder nehmen wollten. Auch die Sioux suchten nach einfachen Erklärungen für die Wirklichkeit.
Das ist es, was einen Menschen ausmacht, dachte Mungo und hielt sich damit zurück, seinen Freunden ihre Illusionen zu Nichte zu machen. Er fragte sich, ob die Sioux in ihrem Inneren die gleichen Dinge dachte wie er und es ebenso nicht wagten, sie auszusprechen. Dann wären sie ja doch nicht so anders als ich, überlegte Mungo und fand tatsächlich etwas Tröstliches in diesem Gedanken. Ein egoistischer Trost ist das, schalt er sich, wenn man sich darüber freut, dass man mit seinen Zweifeln und seiner Angst nicht allein ist.
Schließlich aber kamen Geschichten zu den Sioux, die nicht mehr von der Entstehung des Büffels oder des Pferdes durch Geisterhand berichteten, sondern Bezug nahmen auf konkrete Geschehnisse und eine realistische Zukunft zu zeichnen behaupteten. Erst wirkten sie befremdlich, aber fanden dann doch den Weg in die Gemüter der Menschen.
Jemand der Verzweiflung ausdünstet, jemand der das Lachen verlernt hatte, weil Angst und Trauer zu ständigen Begleitern werden, weil Hunger, Krankheit und Demütigung einem die letzten Kräfte raubten, der ist anfällig für alles, was als Hoffnung verkauft wird.
Die Lieder kamen aus dem Süden und wurden zuerst von selbsternannten Medizinmännern verbreitet, die umherzogen, um sich feiern zu lassen. Mungo misstraute Priestern und Messiassen, die einem etwas über eine golden Zukunft erzählen wollten, aber er brachte es nicht übers Herz, das den verzweifelten Kriegern, den verwahrlosten Kindern und Frauen zu sagen. Und hier war der Punkt, an dem sich Mungo von den Sioux tatsächlich unterschied: Ihm war die Zukunft egal. Ihm war auch völlig egal, was mit seinem Volk passierte, solange es ihn persönlich nicht betraf.
In dieser Hinsicht verstand er nichts von wahrem Stolz – eine Sache, die ihm die Sioux hin und wieder aufs Brot schmierten, wenn sie ihn aufziehen wollten.
Die Sioux konnten es sich jedoch nicht leisten, so zu denken wie Mungo. Ihre Existenz stand am Abgrund und das wussten sie ganz genau. Keiner von ihnen stand – wie Mungo – allein in der Welt. Sie alle sorgten sich nicht nur um sich, sondern auch um ihre Familie, Freunde und Kinder.
Sie waren der klägliche Rest einer einst ruhmreichen Nation. Sie stellten die letzte Hoffnung ihrer Vorfahren dar und diese Bürde lastete schwer auf ihnen, denn sie wussten, wie erbärmlich sie lebten und wie wenig Anlass das zur Hoffnung für die Zukunft gab.
Vielleicht ist es Scham, der auf ihnen lastet, überlegte Mungo. Sie schämen sich dafür, dass sie es nicht schaffen werden zu überleben.
Wer konnte es ihnen da verdenken, dass sie singen und tanzen wollten. Schließlich hatte das immer zu ihrer Kultur gehört. Man konnte ihnen nicht die Lieder und die Tanzschritte nehmen, oder? Das konnten sie ihnen nicht verbieten!
Es werde ein goldenes Zeitalter anbrechen, in dem sich der rote Mann gegen den weißen erhebt und ihn bezwingt. Es werde wieder Wild geben und niemand werde Hunger leiden müssen. Es werde wieder Gerechtigkeit herrschen und das Land würde denen gehören, die zuerst hier gelebt hatten.
Mit jedem Fußstampfen, mit jedem Schritt würden die Vorfahren zurückkehren. Und sie würden mittanzen und sie würden immer mehr werden. Bald tanzten alle Stämme, alle Generationen bis zurück zu jenen, die die Erschaffung der Welt selbst geschaut hatten. Und ihr Tanzen brächte auch die Büffel zurück. Sie fielen vom Himmel wie das Brot, das der Gott der Israeliten seinem Volk geschenkt hatte, als es durch die Wüste zog, um schließlich gerettet zu werden, so wie die Indianer von ihren Göttern gerettet werden würden. Und schließlich würden die Weißen wiederum fortziehen, bauten sich Schiffe mit weißen Segeln, die sie zurück nach Europa brachten, wo sie hergekommen waren und wo ihre eigentliche Heimat lag. Im Land der Indianer aber würde es keinen Tod, keinen Hunger, keinen Krieg und kein Leid mehr geben.
Mungo glaubte, den einen oder anderen unfreundlichen Blick auf sich bemerkt zu haben, als er sich mit seinem Enthusiasmus über den Inhalt der neuen Lieder zurück hielt.
Und dann tanzten sie die ganze Nacht. Geistertanz. Ihr Aberglaube wird sie eines Tages umbringen, dachte Mungo bei sich, schwieg und ließ seine Weigerung für sich sprechen.
Wer konnte ahnen, dass sich diese kleine, bedeutungslose Bewegung, dieser Strohhalm, an den sich die hoffnungslosen Indianer klammerten, zu einer Angelegenheit von nationalem Interesse entwickeln würde?
Die Indianer tanzten von Oregon über Kalifornien bis in die Plains. Sie hatten eine Beschäftigung gefunden und ein Gesprächsthema. Sie sangen und sie glaubten.
Wenn nichts mehr vom ehemaligen Wissen übrig ist, dann fangen die Leute an zu glauben und sie glauben die unmöglichsten Dinge, dachte Mungo. Gestandene Krieger kamen zu ihm und freuten sich darüber, dass bald all die gefallenen und ermordeten Verwandten, Vorfahren und Freunde zurückkehren würden, dass bald das Leben ohne Tod und Leid anbrechen würde und alle Bleichgesichter in die Flucht geschlagen werden würden. „Womit ich nicht dich meine, mein Freund!", hieß es dann bevor sie selig davon hüften.
War ich in meiner Jugend auch so leichtgläubig, fragte sich Mungo und wagte es nicht, der Sache näher nachzugehen. Er wollte die Vergangenheit ruhen lassen und hier seinen Platz einnehmen.
Wenn die Sioux tanzten, sangen und beteten, empfand Mungo mehr und mehr, dass er fremd war. Das enthemmte Tanzen und Anrufen der Vorfahren war noch nie seine Welt gewesen und er konnte sich in dieser Sache auch nicht assimilieren. Seine Vorfahren sollten gefälligst tot bleiben und sich nicht in sein Leben einmischen! Mehrmals forderten die Tänzer ihn auf, mitzumachen, gaben ihm das Gefühl, ganz und gar willkommen zu sein, dennoch hielt Mungo sich zurück.
Wenn sie merken, dass die Indianer sich zusammenschließen, werden sie zuschlagen, dachte er. Sie können es nicht leiden, wenn Leute, die sie unterdrücken wollen, anfangen, sich zusammenzuschließen, auch wenn es nur eine lockere Religionsgemeinschaft ist. Sie werden es nicht zulassen, dass sie Hoffnung schöpfen und ihre Chancen kalkulieren.
Und vielleicht haben sie auch gar nicht so Unrecht. Irgendwann kommt immer einer auf die Idee, einen Angriff zu starten. Irgendwann wird sich eine Gruppe finden, die den Aufstand probt. Aber darauf werden sie nicht warten. Soldaten sind wie Pferde: Wenn sie nervös werden, sollte man dem Aufmerksamkeit schenken, denn es steckte immer etwas dahinter. Und die Soldaten waren nervös.
Mungo wusste es, denn er war derjenige, der mit ihnen sprach, der bei den Verhandlungen übersetzte. Meistens ging es nur über den Preis von Pelzen oder die Menge an Fleisch, die benötigt wurde, um die Gruppe zu ernähren. Manchmal ging es um Waffen und Alkohol und ihm war aufgefallen, dass Waffen und Munition für Indianer immer teurer wurden und nur noch widerwillig ausgehändigt wurden. Bald gab es sie nur noch unter der Hand, geschmuggelt oder gestohlen. Alkohol hingegen fand fast automatisch seinen Weg in das Lager der Sioux.
„Damit wollen sie uns fertig machen!", hatte Mungo gewarnt und den billigen Fusel ins Feuer gegossen. Die kurze Stichflamme unterstrich seine Warnung und tatsächlich rührte niemand den Whiskey an, den man ihnen geschickt hatte. Ist das jetzt ein gutes Zeichen oder ein schlechtes, hatte Mungo sich gefragt. Waren die Sioux übermütig in ihrem neuerlichen Selbstbewusstsein geworden, oder war diese die Rückkehr des gesunden Menschenverstands?
Letztendlich kam es darauf jedoch nicht an. Die Sioux waren es nicht, die entschieden, was geschehen sollte. Und so erreichte die Nachricht sie, ohne dass sie irgendetwas dagegen unternehmen konnten. Man stellte sie vor vollendete Tatsachen, präsentierte ihnen die Rechnung für die Unverschämtheit, sich als wertvolle Menschen fühlen zu wollen und Gerechtigkeit zu verlangen.
Sie hatten Sitting Bull erschossen. Ohne dass er einen Prozess bekommen hatte und ohne, dass man ihn überhaupt angeklagt hätte, hatte man hingerichtet.
Als diese Nachricht über die Sioux hereinbrach, herrschte Verwirrung, ohne dass jemand nach der Wahrheit suchte. Zuerst hieß es, er wäre gefangen genommen worden und vor ein Erschießungskommando gestellt worden, dann kristallisierte sich heraus, dass es Polizisten gewesen waren, die ihrerseits zu den Sioux gehörten. Es habe ein Handgemenge gegeben, Widerstand gegen die Verhaftung, dann sei ein Schuss gefallen.
Gerüchte machten die Runde, dass man seine Leiche geschändet hätte, dass Sitting Bull keine ordentliche Bestattung bekommen hatte und dass die Regierung dahinter steckte.
„Das würden sie nicht tut!", hörte Mungo sich zu einem völlig verstörten Jungen sagen, obwohl er es selbst nicht glaubte. Natürlich würden sie es tun. Es war schließlich nicht das erste Mal, dass sie so etwas taten.
„Das sagst du nur, weil du selbst ein Bleichgesicht bist!", schallte es Mungo entgegen und es war das erste Mal, dass jemand so mit ihm sprach. Es traf ihn und es beschämte ihn. Vielleicht war er selbst auch ein bisschen schuld an der Misere der Sioux. Er wusste zwar nicht, wieso das so sein sollte, aber allein sein Spiegelbild ließ solche Gedanken aufkommen.
Der Halbwüchsige, der den Satz mit dem „Bleichgesicht" zu Mungo gesagt hatte, bekam sofort eine Standpauke von seiner Mutter, aber die änderte sicher nichts an den Empfindungen des Jungen und denen aller Jungen. Die meisten von ihnen hatten mindesten ein Mitglied ihrer Familie verloren und in Sitting Bull einen Helden, ein Vorbild und einen Hoffnungsträger gesehen.
Desillusionierung, so hätte man es nennen können, machte sich breit. Die Angst kehrte zurück und die Gewissheit, dass der Geistertanz nichts weiter vermochte, als die Zeit bis zum Unausweichlichen zu verkürzen.
Mungo hatte Sitting Bull nicht persönlich gekannt, aber er hatte ihn mehrmals gesehen und fand, dass er wirklich eine imposante Persönlichkeit gewesen war. Solche Vorbilder brauchten die Jungen, fand er, damit sie nicht wahnsinnig wurden angesichts eines Lebens, das ihnen nur Leid und Verachtung bot.
Mehrere Tage stand das Leben still in dem kleinen Lager, dem Mungo angehörte. Alle stapften sie ziellos und wie betäubt durch den Schnee, erledigten ihre täglichen Arbeiten irgendwie und irgendwie auch nicht. Einige, die einst mit Sitting Bull geritten waren, schnitten sich die Haare ab, fügten sich Schnittwunden zu, um ihre Trauer auszudrücken. Die meisten jedoch verloren den Mut und den Antrieb, dies auch noch auf sich zu nehmen.
Frieden. Vom Frieden hatte Spotted Elk im Gegensatz zu Sitting Bull immer wieder gesprochen. Dafür war er ausgelacht und von einigen verachtet worden. Weil er aber einst ein siegreicher Krieger gewesen war, stellte niemand seine Position in Frage.
Mungo jedoch stand immer auf seiner Seite. Auch er war der Meinung, dass die Sioux nur eine Chance hatten zu überleben: Wenn sie es schafften, einen Frieden zu stabilisieren. Wie es danach weiter gehen würde, wussten jedoch weder Spotted Elk noch Mungo. Es war trotzallem der erste Schritt, der getan werden musste.
„Wir haben so viele erste Schritte getan!", hatte einer eingewandt, „Und wir sind immer wieder zurückgestoßen worden. Ich frage, wohin gehen wir überhaupt?"
Niemand hatte eine Antwort geben können und so schwiegen die Sioux. Kein Gesang, kein Tanz in den dunklen Dezembernächten nach Sitting Bulls Tod.
In den folgenden Tagen kamen immer mehr der Hunkpapa-Lakotas, die mit Sitting Bull ihren Anführer und Medizinmann verloren hatten, und schlossen sich den Minneconjou um Spotted Elk an. Natürlich wurden sie aufgenommen, denn die beiden Stämme waren durch die Freundschaft und die glorreiche Geschichte ihrer berühmten Häuptlinge miteinander verbunden. Inzwischen lebten sie ohnehin zusammengepfercht auf engstem Raum, wo man kaum noch einen Unterschied zwischen den einzelnen Stämmen ausmachen konnte.
Immerhin hatten sie es geschafft, aus dem für sie vorgesehenen Reservat auszubrechen und zu lagern, wo es ihnen gefiel. Aber wenn man auf so engem Raum zusammenlebte, musste man sich vertragen, wenn man zusätzlich noch gegen einen größeren, gemeinsamen Feind rüsten wollte.
Mungo argwöhnte schon länger, dass einige junge Männer ihm vorenthielten, dass sie etwas planten. Es war nichts ungewöhnliches, schließlich war Mungo kein junger Mann und schon lange kein Krieger mehr. Er musste nicht in alles eingeweiht sein und unter normalen Umständen gönnte er jedem sein Geheimnis. Doch nun befürchtete er, dass eine unbedachte Tat vorbereitet wurde. Ein Feldzug? Ein Aufstand? Diesen Hitzköpfen musste doch klar sein, mit welcher Härte zurückgeschlagen werden würde!
Offenbar hatte auch Spotted Elk die Unruhe in seinem Lager und in der ganzen Gegend bemerkt, weshalb er Mungo zu sich rief.
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