6. ein anderer Morgen
Langsam öffnete ich die Augen. Von draussen hörte ich das leise Plätschern des nahen Baches und das Zirpen der Grillen. Gähnend richtete ich mich auf und fuhr mir durch meine Haare, die sofort nach allen Seiten abstanden. Lustlos kletterte ich von meinem Kajütenbett herunter und ging ins Bad. Gerade als ich den Spiegelschrank öffnete, kam mein grosser Bruder durch die Badtür, während er mit seinem Zwilling darüber stritt, wer das Frühstück machen musste. «Du bist heute dran!» «Ich? Ich habs schon gestern gemacht, damit du weiter schlafen konntest. Heute bist du dran.» Ich erwartete schon, dass er sich zu mir drehte und mich bat, Georg zu überzeugen, dass er dran sei. Doch als er sich umdrehte, blickte er mich nicht einmal an und beschwerte sich auch nicht, dass ich das Bad in Beschlag nähme. Stirnrunzelnd musterte ich ihn. Es war zwar nicht so, dass ich es vermisste, dass er mich in einen ihrer Streite hineinzog, doch inzwischen gehörte es schon fast zum morgendlichen Ritual. Stirnrunzelnd überliess ich die beiden sich selbst und wollte gerade Richtung Küche gehen, als ich aus dem Augenwinkel den Spiegel im Flur sah. Normalerweise wurde er etwas dunkler, wenn jemand dran vorbeilief. Doch heute veränderte er sich nicht. Misstrauisch kniff ich meine Augen zusammen. Hatten Georg oder Ferdinand etwas damit angestellt, um unseren Eltern einen Streich zu spielen? Zuzutrauen wäre es ihnen auf jeden Fall. Doch selbst als ich ganz nah an ihn herantrat, spiegelte er nichts. Ich schnippte dagegen, um zu sehen, ob die Zwillinge etwas draufgeschmiert hätten, doch er war blitzblank. Mir kam ein fürchterlicher Gedanke. Rasch lief ich zum Zimmer der Zwillinge, worin die beiden gerade verschwunden waren. Ich hob die Hand und klopfte. Ferdinand öffnete zwar die Tür, runzelte allerdings nur verärgert die Stirn. «Wer ist es?», kam Georgs Stimme von hinten. «Es ist niemand da», kam die Antwort. Ich hob die Hand und wedelte vorm Gesicht von Ferdinand herum, doch er zeigte keine Regung. Schliesslich boxte ich ihn sogar, doch noch immer verzog er keine Miene. Meine Hände begannen zu zittern. Konnten sie mich etwa wirklich nicht sehen? Was war passiert? Ich rannte schon fast in mein Zimmer zurück und blieb schlitternd vor meinem Schrank stehen. Auch dort hing ein Spiegel doch auch hier war ich nicht zu sehen. Ich war unsichtbar.
Schreiend wachte ich auf. Von draussen drang nur das kalte Mondlicht ins Zimmer und beleuchtete es notdürftig. Rasche Schritte waren zu hören und Ferdinand riss besorgt meine Zimmertür auf. «Was ist passiert?», rief er. Als er allerdings sah, dass ich allein im Zimmer und auch nicht aus dem Bett gefallen war, stiess er ein genervtes Seufzen aus. «Wirklich Kathe?» «Du kannst mich sehen?», erwiderte ich und ignorierte seine Frage einfach. «Was soll die Frage? Natürlich kann ich dich sehen. Du bist doch kein Geist.» Er wirkte immer noch genervt und dachte scheinbar, ich wolle ihn veräppeln. Stumm kletterte ich aus dem Bett und schlang die Arme um ihn. Ich war selten so froh gewesen, ihn aus dem Schlaf gerissen zu haben.
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