1. Das Foto seines Lebens

Seufzend betrat er seinen Laden. Draussen regnete es und die fehlende Sonne animierte niemanden hinaus auf die Strassen zu treten. Darunter war auch sein Geschäft betroffen. Er holte deswegen seine alten Kameras heraus und begann sie zu putzen. Da er versuchte, immer neuere Bilder zu erschaffen und auch mit dem Charme alter Fotoapparate spielte, war ihm die Pflege seiner Utensilien wichtig. Besonders die alten waren sehr heikel. Gerade als er über eine alte Kamera gebeugt war, die er auf dem Tresen abgestellt hatte, um sie zu reinigen, bimmelte die Glocke seines Ladens. Eine grosse schlanke Frau betrat seinen Laden und blickte sich suchend um «Ist hier jemand?» Er richtete sich auf. «Sie wünschen?», fragte er und überging den überraschten Blick der Frau. «Nun, ich brauche ein Foto. Allerdings möchte ich nicht, dass mich dabei jemand sieht.» Verwundert zog er die Augenbrauen zusammen. «Bitte Madam?» Sie seufzte und zog ihre Sonnenbrille herunter. Darunter verbargen sich die wohl hellsten und klarsten Augen der momentanen Stars. Er erkannte sie natürlich. Die neue Schauspielerin, deren Karriere noch in den Startlöchern war, hatte seinen Laden aufgesucht! Ausgerechnet seinen Laden. Dabei gab es noch dutzende andere in der Stadt. «Natürlich, kommen Sie.» Er verdrängte den Gedanken, wen er gleich ablichten würde und setzte seine Professionalität ein. Damit es auch wirklich niemand bemerkte, wer in seinem Laden war, hängte er das «geschlossen» Schild ins Fenster und führte die junge Frau in den hinteren Bereich des Ladens, der sich hinter einigen Stangen mit Kleidern befand. Selten kamen auch Touristen hierher und wollten gestellte Fotos mit Kleidern aus anderen Epochen anfertigen lassen. Nun kam dieser Wirrwarr an Kleidern ihm zugute. Die junge Frau richtete ihre Frisur neu und stellte sich lächelnd schräg vor den Hintergrund. Es war offensichtlich, dass sie sich schon an das Fotografieren gewöhnt hatte und wusste, wie sie sich hinstellen musste, damit es nicht lächerlich erschien. «Perfekt», murmelte er begeistert. Normalerweise musste er den Leuten immer tausende Male sagen, wie sie sich am besten hinstellten, damit aus den Fotos auch was wurde. «Bitte lächeln», bat er, stellte sich hinter die Kamera und drückte den Auslöser.

Langsam tauchte der alte Mann aus seinen Erinnerungen auf. Damals, vor fünfzig Jahren war die junge Frau in den Laden gekommen und er hatte somit eines der ersten Bilder von ihr geschossen. Lächelnd blickte er zur Wand hinüber. Sie hatte ihm damals erlaubt, als Erinnerung einen Abzug zu behalten. Nie hätte er sich erträumt, dass sie es so weit in der Film- und Modelbranche bringen würde. Doch das hatte sie getan. Leider war sie vor einigen Jahren gestorben und war nur unter den älteren Leuten eine Ikone geworden. Langsam fuhr er über den Bilderrahmen. Er war staubig und sollte dringend wieder einmal abgestaubt werden. Vielleicht sollte er seinen Neffen daran erinnern. Er hatte ihm erst kürzlich den Laden überlassen, allerdings mit der Auflage, dass dieser keines der Bilder entfernte. Jedes einzelne war ein besonderes Meisterwerk geworden. Doch obwohl sich in all den Jahren seines Berufslebens so einige einzigartige Fotos angesammelt hatten, so hatten sie doch nie an dieses Bild herangereicht. «Grossvater», rief eine Stimme. Er wandte sich um und sah seinen jungen Enkel in der Tür zum Obergeschoss stehen. «Ich dachte, du seist oben und schläfst. Was machst du denn hier unten? Kannst du immer noch nicht von deinem Beruf Abschied nehmen und deinen wohlverdienten Ruhestand antreten?» Ein Lächeln stahl sich auf das Gesicht des alten Mannes. «Mach dir keine Sorgen, dies ist nicht der Grund, weshalb ich hier bin. Ich habe dir doch den Laden überlassen und ich weiss, dass er bei dir in guten Händen ist. Nein, ich wollte nochmals in Erinnerungen schwelgen.» «Du meinst wohl die Erinnerung an diese Frau, nicht wahr?», fragte sein Enkel und schaute nun ebenfalls auf das Foto. «Weshalb ist dieses Foto für dich so wichtig? Es zeigt doch nur eine junge Frau.» Er drehte sich um und blickte ihn an. «Für dich vielleicht. Doch für mich zeigt es das Foto meines Lebens.»

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