The art of companionship*

„may love find you.
even
when you are specifically, strategically.
hiding from it."
-nayyirah waheed
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The art of companionship

31. Oktober 1976


Vorsichtig strich ich über das Foto. Es zeigte eine Familie, welche nebeneinander aufgereiht in die Kamera lächelte.

Ich seufzte leise und betrachtete das gewinnende Lächeln meines Vaters, das freundliche Gesicht meiner Mutter. Beide trugen elegante Kleidung und winkten in die Kamera.

Zwischen ihnen und ihrem strahlenden Sohn stand ich. Klein und rundlich, mit meiner hellgrünen Grüntal Uniform und einem höflichen, schmalen Lächeln. Die blonden Haare waren straff zurückgebunden, doch es war nicht unschwer zu erkennen, dass einzelne helle Locken der Frisur bereits entkamen.

Neben mir wirkte mein Bruder wie mein größeres, lebendigeres Gegenstück. Honigblonde Locken fielen ihm in die blauen Augen und seine vollen Lippen verzogen sich immer wieder zu einem breiten Lächeln. Er trug seine Durmstrang Uniform.

Leopold, der hübsche, sommersprossige Leopold, legte mir auf dem Foto einen Arm um die steifen Schultern. Und mein Foto-Ich lachte.

Ich stellte den Bilderrahmen zurück auf meinen Nachttisch. Das Bild darin war zwei Jahre alt.

Möglichst leise kletterte ich aus meinem Bett und im Schein des schwach glühenden Feuers im Kamin, sammelte ich ein paar Kleidungsstücke vom Boden auf. Am vorherigen Abend hatte ich mit Lily und den anderen lange vor dem Feuer gesessen. Wir hatten gelacht und Kürbiskuchen gegessen, nach dem es immer noch im Schlafsaal roch.

Ohne die anderen zu wecken, zog ich mich an und putzte mir die Zähne. Doch gerade als ich die Tür öffnete, erklang eine verschlafene Stimme, „Lulu?"

„Schlaf weiter, Ruby" Ich schob mich nach draußen, bemüht möglichst wenig Licht hereinzulassen. „Ich weck dich zum Frühstück."

„Das glaubst du doch selber nicht" Zu meiner Verwunderung sprang Ruby aus dem Bett und bevor ich die Tür ganz zuziehen konnte, hatte sie sich schon einen großen Gryffindorpullover übergezogen. „Ich komme mit."

„Auch ohne Hose?", fragte ich amüsiert und deutete auf ihre nackten Beine.

„Bin sofort wieder da" Sie warf mir einen strengen Blick zu. „Rühr dich nicht von der Stelle."

Mit reichlich Getöse wuselte sie durch den Schlafsaal und halb erwartete ich, dass eines der anderen Mädchen aufwachen würde. Doch bevor sich etwas in den Himmelbetten bewegte, stand Ruby auch schon wieder vor mir. Grinsend schubste sie mich aus dem Raum.

„Du bist morgens viel zu früh hellwach.", ließ ich sie kopfschüttelnd wissen.

„Dir auch einen guten Morgen" Ruby drückte mir ein Päckchen in die Hand. „Und alles Gute zum Geburtstag."

„Oh" Überrascht sah ich von dem Päckchen zu meiner Freundin. Mit warmen Wangen sagte ich, „Danke."

„Es ist ein Festumhang, meine Cousine hat ihn mir in London besorgt" Sie lächelte mich über die Schulter hinweg an. „Dunkelblau, wie deine Augen." Bei ihrem Zwinkern musste ich lachen.

„Liebsten Dank" Ich holte auf der Wendeltreppe auf und legte einen Arm um sie.

„Dann jetzt auf zum Frühstück" Mit ihren verstrubelten Haaren und dem rot goldenen Pullover gab sie ein sehr charmantes Bild ab. „Immerhin kannst bei deinem Geburtstag nicht hungrig auftauchen."

„Klingt nach einem Plan." Ich warf einen Blick auf meine Armbanduhr. Bis Jake mich abholen würde, blieb mir noch einiges an Zeit.

Zu unserer Überraschung war die Große Halle nicht vollkommen leer. Die Decke war immer noch mit Sternen übersäht, doch am Ravenclaw Tisch saß bereits eine ganze Gruppe. „Ach" Ruby grinste. „Da hat James die geheimen Trainingszeiten der Ravenclaw." Über die letzten Wochen hatte James verzweifelt versucht herauszufinden, wann die Ravenclaw trainierten.

Bevor wir uns zu unserem Haustisch aufmachen konnten, kam uns auch schon ein bekannter Ravenclaw in voller Quidditch Montur entgegen. „Hey Alec."

Gut gelaunt rief er, „Hallo Luné, hey Rubina. Was treibt euch denn schon um diese Uhrzeit aus dem Bett?" Seine Augen betrachteten mich von oben bis unten. „Alles Gute zum Geburtstag, Luné."

„Danke", erwiderte ich überrascht. „Woher-"

„Ruby hat es gegenüber Sam erwähnt" Er nickte zu ihr.

„Stimmt" Sie zuckte mit den Schultern. „Deshalb wollte ich auch eigentlich noch-"

Doch Alec sprach bereits weiter. Seit dem Duell hatte ich ihn nur flüchtig auf den Gängen gesehen, obwohl wir zwei Fächer zusammen hatten. „Ich hätte da auch noch eine Frage. Da Ruby ja ein Date mit Sam hat-" Verdutzt drehte ich mich zu ihr. Doch sie schüttelte nur wild den Kopf. „-könnten wir doch zusammen mit ihnen ins Dorf nächstes Wochenende?"

„Nach Hogsmead?" Der Aushang für den Ausflug war seit letzte Woche am schwarzen Brett im Gemeinschaftsraum. „Gerne, warum nicht?"

Von Ruby kam ein unglückliches Geräusch, das mich beinah zum Lachen brachte. „Klasse" Alec schenkte mir ein letztes breites Lächeln, bevor er zurück zu seinem Team lief, welches sich gerade erhob.

„Super" Ruby verschränkte die Arme und lief zum Gryffindortisch. Dort begann sie sich Rührei auf den Teller zu schaufeln. Mit beunruhigender Geschwindigkeit verschwand es in ihrem Mund. „Jetzt kann ich Sam doch nicht mehr absagen."

„Warum solltest du das tun?" Sie sagte nichts, sondern schob sich weiter Essen in den Mund. „Rubina."

„Unhöflich, Luné-Marie" Mit einem Schnauben, hob sie den Blick. „Sehr unhöflich."

„Du hast mir überhaupt nicht gesagt, dass dich Sam nach einer Verabredung gefragt hat." Ich ließ mich ihr gegenüber auf die Bank sinken. Dort versuchte ich ohne viel Erfolg durch meine vom Schlaf zerzausten Locken zu fahren und mir gleichzeitig einen Reim aus ihrem Verhalten zu machen.

Sie schnaubte erneut, dieses Mal weniger glaubwürdig. „Wärst du gestern nicht so plötzlich aus dem Unterricht verschwunden...zusammen mit Sirius." Durch ihren Pony warf sie mir einen verärgerten Blick zu.

Verwundert lehnte ich mich zurück. „Was hat Sirius damit zu tun?"

„Das ist nicht so einfach-" Unwohl rutschte sie auf ihrem Platz herum. „-dafür musst du wissen...also bevor du hier warst..."

„Du und Sirius?" Fragend hob ich eine Augenbraue. „Deshalb führt ihr euch so auf?"

„Bei Merlin...so einfach ist das nicht." Sie kratzte mit ihrer Gabel auf dem Tisch. „Wir waren zusammen."

„Oh", entkam mir. Selbst beim Training wechselten Sirius und Ruby kein Wort miteinander. Sich die beiden als Paar...besonders Sirius in einer romantischen Beziehung...Allein bei dem Gedanken schüttelte ich den Kopf. „Und nun...?"

„Er hat mich fallen gelassen" Mit einem Schulterzucken lud sie mir Rührei auf den Teller, dabei blieb mir nicht verborgen, wie sie den Löffel umklammerte. „Iss."

„Soll ich mal mit ihm reden?"

„Wie bitte?" Sie warf mir einen fassungslosen Blick zu.

„Nichts." Ich biss mir auf die Unterlippe und widmete mich meinem Frühstück.

Stumm beendeten wir das Frühstück. In der Stille kamen auch wieder meine Sorgen zurück und der Hunger verging mir schnell. Würde ich nächstes Wochenende überhaupt wieder im Schloss sein?

„Du bist nicht gut auf deine Familie zu sprechen, oder?" Ruby schüttete Kaffee in unsere Tassen, ohne mich anzusehen. „Und sie nicht gut auf dich?"

"Wie kommst du darauf?"

"Na ja, du springst nicht gerade vor Freude in die Luft beim Gedanken an heute?"

„Meine Familie und ich...haben Meinungsverschiedenheiten."

„Seit?"

„Nun...seit mein Großvater und mein...also mein Vater...", begann ich und gab auf halben Weg wieder auf. "Nicht so wichtig."

„Lulu" Ruby sah mich aufmerksam an „Was hat dein Vater getan?"

„Meine Mutter ist Muggelstämmig." Als die Worte heraus waren, war ich beinah selbst so verdutzt, dass ich vergaß weiter zu sprechen. „Er hat sie während seines Studiums in Frankreich kennengelernt."

„Und geheiratet?" Ruby wirkte neugierig. Und nicht überrascht. „Keine Sorge, ich bin eine Lestrange. Ich weiß, dass gerade die perfektesten Familien die meisten Leichen im Keller haben." Mit einem Schulterzucken trank sie einen Schluck. „Oft auch wortwörtlich." 

„Die Lestrange haben Leichen im Keller?"

„Ja" Sie grinste schief. „Mich." Bevor ich etwas sagen konnte, fuhr sie schon fort, „Hat dein Vater sie geheiratet? Oder sie fallen gelassen?"

„Geheiratet" Über meine Kaffeetasse hinweg sah ich mich in der Halle um. Doch niemand befand sich in Hörweite. „Er hat sie als Reinblut einer ausgestorbenen Linie ausgeben, selbst mein Großvater hat es geglaubt."

„Die Erbin der mächtigen Rosendorn ist also ein Halbblut?"

„Mein Bruder und ich, ja. Unsere Eltern haben es uns diesen Sommer mitgeteilt." Dumpf erinnerte ich mich an weiches, geblümtes Polster unter meinen Händen. Laute Stimmen und eine Tür, die hinter Leopold zuschlug.

Ohne sie wirklich zu sehen, starrte ich auf die Kaffeetasse in meiner Hand. Bei Merlin, ich wollte doch nur meinen großen Bruder zurück.

„Hey" Über den Tisch hinweg griff Ruby nach meiner Hand und drückte sie. „Kopf hoch, kleine Rosendorn. Noch ist das Kind nicht in den Kessel gefallen."

„Das sagt sich leicht."

Sie schüttete mir Kaffee nach. „Du bist also deshalb aus Deutschland weg?"

Ich blieb ihr eine Antwort schuldig, indem ich die Tasse lehrte und aufstand. „Sollten wir nicht langsam los?"

Doch bevor weit kam, rief jemand sehr laut an meiner rechten Seite, „Da seid ihr ja!" Erschrocken sprang ich zurück, stolperte über eigenen Füße und landete unsanft auf dem Boden.

Vielstimmiges Lachen erklang um herum und als ich aufsah, hielt mir Marlene McKinnon eine Hand hin. „Herzlichen Glückwunsch, Sonnenschein." Ihre kurzen, blonden Haare standen ihr wild vom Kopf ab und sie sah aus, als hätte sie jemand aus dem Bett geschmissen.

Verdutzt, und mit schmerzendem Hinterteil, ließ ich mich hochziehen. Wenn ich mich einem nicht gerecht hatte, dann irgendjemanden so früh auf den Beinen zu sehen.

Hinter ihr entdeckte ich Dorcas und Lily breit grinsend. Als sie zur Seite traten, kam Melody zum Vorschein. Sie trug eine große Schokoladen Torte und vollkommen aus dem Konzept gebracht, starrte ich diese an. "Was-"

„Also sich einfach aus dem Schlafsaal verdrücken." Lily, die eindeutig ihren Schlafanzug unter ihrem Umhang trug, drückte mich auf die Bank zurück.

„Ich muss mich eigentlich fertig machen..."

„Feengeschwätz" Ruby grinste breit und griff nach einem Messer, um den Kuchen anzuschneiden. „Jetzt wird erst mal ordentlich gefrühstückt."

„Du hast bereits gefrü..." Bei ihrem Grinsen musste ich auflachen. „Du hast das geplant?"

„Feengeschwätz, Lulu" Es war beinah ein handbreites Stück, welches mir Ruby auf den Teller lud. „Alles Feengeschwätz."

"Das hat noch niemand für mich getan", murmelte ich leise und verlegen.

"Dann wurde das aber auch Zeit-" Marlene ließ sich neben mich fallen. "-Hey, Rubina, lass mir was vom Kuchen übrig."

Mit der Kuchengabel schon im Mund, erwiderte Ruby, "Marl', Isch hab' doch nur-"

Doch der Rest ihrer Worte ging darin unter, dass Marlene sich über den Tisch beugte, um Ruby den Kuchen wieder zu entwinden. Beinah gingen sie mitsamt Torte zu Boden, als Ruby den Kuchen mit einem Kampfschrei verteidigte. Ich tauschte einen Blick mit Melody, diese zuckende grinsend mit den Schultern.

"Wie gesagt, Willkommen in Gryffindor."

Es dauerte eine ganze Weile, bis Lily uns aus der Großen Halle ließ. Erst als der Himmel der verzauberten Decke sich rosa verfärbte und mir der Bauch vor Lachen weh tat, machten wir uns gemeinsam wieder zum Gemeinschaftsraum auf.

Ruby zerrte mich an der Hand noch oben und steckte mich in meinen neuen Festumhang. Er war tiefblau, beinah schwarz und erneut fiel ich ihr um den Hals.

Als wir gemeinsam wieder die Treppe hinab liefen, hörte ich eine bekannte Stimme im Gemeinschaftsraum und laufend überwand ich die letzten Meter. „Jake!"

In all dem Chaos aus neuen Eindrücken der letzten Monate, stach das dunkle, vertraute Gesicht meines besten Freundes hervor. Mit zwei großen Schritten kam dieser auf mich zu und drückte mich an seine Brust. „Beim heiligen Erkling, Lulu."

„Hab dich auch vermisst, Jake" Ich hatte automatisch ins Deutsche gewechselt, froh meine Muttersprache wieder zu benutzen. „Wie geht es dir? Gut hergefunden?"

„Großes Schloss mitten in der Landschaft?" Er grinste sein breites Lachen. „Konnte ich kaum verfehlen. Hab übrigens deine Freunde kennengelernt." Mit dem Daumen zeigte er hinter sich.

Dort saßen Lily und Melody, zusammen mit James und Sirius in verdächtiger Eintracht. Alle taten so, als würden sie sich angeregt mit den Büchern vor ihnen beschäftigen.

„Was hältst du von ihnen?", fragte ich mit einem Lächeln. Beim Anblick meiner Freunde wurde mir warm.

„Na ja, in Grüntal könntest du sie nicht stecken. Aber du scheinst sie auch so gut um den Finger gewickelt zu haben." Er vergrub die Hände in den Taschen seines Reiseumhangs. „Stellst du mich wenigstens ordentlich vor?"

„Klar" Ich zog ihn mit mir. „Leute, das ist Jake Berghaus."

Alle hoben bemüht überrascht den Kopf, worüber ich nur lachen konnte. „An dem Gesicht würde ich noch mal arbeiten, James." Dieser hatte erschrocken die Hand vor den Mund geschlagen.

„Für dich doch immer, kleine Rosendorn" Neugierig betrachtete er Jake. Dieser tat es ihm gleich.

„Was für ein idyllisches Bild" Ruby legte mir von hinten einen Arm um die Schulter. „Bereit, Lulu?"

„Hey" Jake streckte ihr die Hand hin und stellte sich vor.

„Freundchen" Ich konnte mich nicht ganz entscheiden, ob ich belustigt oder wütend sein sollte. „Du kannst nicht einfach hierherkommen und dich an meine Freundinnen ranmachen."

Angesichts meiner schnellen, auf Deutsch gezischten Worte, tauschten alle einen verdutzten Blick. „Komm schon." Lachend wich er meinem Ellenbogen aus.

Angesichts seiner guten Laune, konnte ich nicht anders als ebenfalls zu Grinsen.

„Wir sollten so langsam mal-" In seiner Hand schwenkte er einen Samtbeutel. „-Emilia darf man nicht warten lassen."

„Danke für die Erinnerung" Dieses Mal war mein Lächeln nur halbherzig. Ich griff in den Beutel und warf eine Handvoll auf den Kaminrost.

Sogleich erstrahlten die Flammen smaragdgrün.

„Bis Montag" Lily umarmte mich lächelnd. „Feier schön deinen Geburtstag."

„Danke" Ich erwiderte die Umarmung. Über die Schulter traf ich Sirius' Blick, er hob eine Augenbraue. Rasch verabschiedete ich mich von den anderen und trat an die Flammen heran.

Als ich an Sirius vorbeilief, versuchte dieser nach meinem Arm zu greifen. Doch ich wich aus. „Bis Montag?" Er seufzte, dann erwiderte er, „Bis Montag."

Ich drückte meine Umhängetasche an mich und trat dann in die Flammen. Laut rief ich, „Landsitz der Rosendorn, Ankunftshalle."

Kurz sah ich noch die lächelnden Gesichter meiner Freunde, dann verschwand der rot goldene Gemeinschaftsraum. In einem Wirbel aus Farben reiste ich durch die Kamine, mehrere hundert Meilen. Nur knapp schaffte ich es meine Arme vor einer Begegnung mit der Wand zu retten, als ich die vertraute Ankunftshalle erkannte. 

Taumelnd stolperte ich aus dem Kamin. Erst als die Wände aufhörten sich zu drehen, zog ich meinen Zauberstab aus der Tasche und entfernte den Ruß von meiner Kleidung.

Dann hob ich den Kopf und stellte überrascht fest, dass ich allein war. Hinter mir prasselten wieder normale Flammen in dem mannshohen Marmorkamin und meine Schritte hallten von den hohen, stuckverzierten Decken wieder, als ich auf die Fenster zutrat. Dicke Samtvorhänge verhüllten den Blick nach draußen und ich schob sie zur Seite

Beinah ließ ich den schwereren Stoff wieder zurückfallen. Nicht weit entfernt, zwischen den hohen Laubbäumen, sah ich unser Familien Mausoleum. Der weiße Kuppelbau leuchtete gespenstisch unter dem nassen rotbraunen Laub.

Ab heute geht es mit den Rosendorn bergab. Beinah wollte ich mich erschrocken herumdrehen. Doch dann wurde mir klar, dass die Stimme aus meiner Erinnerung stammte.

Mein Onkel hatte mir diesen kleinen Satz bei der Beerdigung meines Großvaters zugeflüstert.

Hinter mir hatte sich der schier endlose, schwarze Trauermarsch aufgereiht und ich konnte mich immer noch an die kalte Hand meiner Mutter erinnern. Ich hatte sie umklammert, während wir darauf warteten, dass die Sargträger sich endlich in Bewegung setzten.

Als es so weit war, hatte meine Großmutter ungeduldig mit der Zunge geschnalzt, während meine Mutter mich umarmte.

Da hatte ich bereits gespürt, wie mein Bruder meine Hand aus ihrer löste. Doch bevor Leopold mich endgültig von ihr wegzog, hatte meine Mutter mein Gesicht in ihre Hände genommen.

An diesem Tag sah ich zum ersten Mal in meinem Leben Tränen in ihren schönen Augen. Du musst immer stark sein, mein Herz. Immer.

„Luné?" Überrascht fuhr ich herum und die Vorhänge glitten wieder zurück an ihren Platz. In dem großen, hallenden Raum wirkte Jake seltsam klein, wie er einsam vor dem großen Kamin stand. „Emilia kommt." Er nickt zu den Flügeltüren.

„Woher-" Doch da schwangen die Türen auch schon auf.

Mit großen Schritten rauschte Emilia Rosendorn in den Raum. Sie trug einen grün schimmernden, eleganten Umhang und bevor ich ihr in die Augen sah, knickste ich.

„Steh auf, Marie." Sie wischte mit der Hand durch die Luft, schwere Siegelringe schimmerten daran.

Ich hob den Blick. Wie üblich durchbohrten mich ihre tiefblauen Augen und in ihrem Nacken waren ihre silbernen Haare zu einem tiefen Knoten geschlungen. Emilia Rosendorn ähnelte den Porträts unserer Vorfahren so sehr, wie ich es nicht tat.

„Komm" Für Jake hatte sie keinen Blick, als sie mich in die Eingangshalle winkte. „Elonis sollte gleich eintreffen, gerade genug Zeit um dich vorzubereiten." Über die Schulter sah sie zurück. „Deine Eltern-" Beinah unmerklich zögerte sie. "-und dein Bruder, werden erst später erwartet."

Sie bedeutete mir mit der Hand vorauszugehen. „Bereit, Marie?"

Unsere Blicke begegneten sich, als ich an ihr vorbei trat. Eine Antwort blieb ich ihr schuldig.

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