Leipziger Tage
Leipziger Tage waren ganz anders als Leipziger Nächte. Leipziger Tage werden von Leuten regiert, die morgens früh aufstehen, in ihren großen Karren durch die leeren Straßen der Stadt düsen und sich auf Konferenzen wie ein Platzhirsch beweisen. Wenn es in Leipzig Tag ist, haben Leute das Sagen, die weiß, männlich, heterosexuell, zumeist übergewichtig sind und christliche Ideale verfolgen. Männlichkeit ist hier noch ein positiv besetzter Begriff, dem man sich hingibt. Man stellt sich eine ausländische Putzkraft ein, denn sie ist billig. Man wird schließlich nicht reich, indem man sein Geld ausgibt. Seine Macht hat ihm der freie Markt geschenkt: er hat das Geld und er kann entscheiden, wem er es gibt. Ihm fällt es leicht, sich zwischen einer gerechten Bezahlung einer zumeist Deutschen Angestellten nach dem Standard des Mindestlohn oder einer zumeist ausländischen Arbeiterin mit Schwarzarbeit zu entscheiden. Er ist nicht an Gerechtigkeit interessiert, denn sie bringt ihm nichts; im Gegenteil. Gerechtigkeit klaut ihm Geld, dass er sich gestohlen hat. Da er keinen Grund hat, darüber nachzudenken, ist es ihm auch nicht bewusst. Was ihm wichtig ist, wie jedem anderen Menschen, ist glücklich, vielleicht auch sicher zu sein. Je mehr Geld er hat, desto mehr kann er sich kaufen, desto sicherer ist sein Leben. Denn das Geld verleiht ihm Macht. Mit Geld kann er sich alles kaufen: Gold, politische Entscheidungen und Frauen. Mehr braucht er nicht zum Leben. Er hat eine dicke Villa, denn er hat etwas erreicht. Sein ganzes Leben hatte er darauf ausgerichtet, etwas zu erreichen. Das Ergebnis war eine neu errichtete Villa mit Hochglanzfliesen. Sie war sauber. Kein Staubkorn konnte man finden. Er hatte sich einen flackernden Kamin geleistet. Vor dem Feuer trank er mit seiner jungen ukrainischen Frau ein Glas Rotwein. Er liebte das Leben, denn er hatte es verstanden. Seine Villa, die er durch sein Geld in der Nähe eines Naturschutzgebietes errichten konnte, bot mehr Platz, als sie brauchten. Große Fensterscheiben, allesamt fleckenfrei geputzt, zeugten von seiner Überzeugung. Pünktlichkeit und Sauberkeit waren wichtige Ideale in seinem Leben, auf die er stolz gewesen war; fast so sehr wie auf seine christlichen Leitbilder. Auch wenn er selbst nichts dafür tat, dass sein Haus porentief rein gewesen war, hatte er Stolz entwickelt. Stolz war er auf ganz vieles; auf seine Fähigkeit, Geld zu verdienen, Frauen zu kaufen und sich im Jacuzzi zu vergnügen. Wurde es ihm langweilig, holte er sich ein neues Auto, mit dem er dann durch die Straßen Leipzigs fuhr und neidische Blicke von anderen Männern auf sich ziehen wollte. Die, die früh aufstanden, hatten dasselbe Ziel wie er. Während sie die Gemeinsamkeit teilten, zu denken, dass Erfolg tatsächlich mit eigener, harter Arbeit einherging, trennte sie doch eigentlich nur Glück; vielleicht auch die Einstellung, alles für Geld zu tun. Aber auf jeden Fall spotteten sie gemeinsam über die Putzkräfte, die zehn Stunden am Tag, manchmal sogar mehr arbeiteten, und dennoch nur eine Putzkraft geblieben waren. Der reiche Mann hatte es dem armen eingetrichtert und letzter übernahm es, nahm den Lolli an wie ein Kleinkind. Der reiche Mann versprach Gerechtigkeit im Arbeitsleben und dass jeder so reich sein könnte, wenn man sich nur anstrenge. Er verschwieg die Mittel, die man dafür einsetzen musste. Und so bildeten sich beide etwas auf Fleiß, Pünktlichkeit und Sauberkeit ein; aus ganz unterschiedlichen Perspektiven.
Jedenfalls düste so einer durch die Straßen von Leipzig und fuhr an mir am Bundesverwaltungsgericht vorbei. Ich hatte rot und er hatte grün. Ich wartete als Fußgänger vor einer leeren Straße, damit er, der im Auto saß, schneller ans Ziel kam als ich. Als Fußgänger, der sich ein Auto weder leisten noch kaufen wollte, war ich weniger wert als jene, die mit ihren SUVs durch die Straßen rasten, um ans Ziel zu kommen. Es war eine passende Metapher: er hatte die besseren Voraussetzungen, um an ein Ziel zu kommen, dass wir beide anstrebten. Er ist schneller da als ich. Er hat weniger Risiken und Gefahren. Mir kann auf dem gleichen Weg viel mehr passieren. Mich kann man umbringen. Ich kann stürzen. Der, der auf der Überholspur war, hatte diese Bedenken nicht. Er sah nur zu mir zurück und fragte, warum ich mir kein Auto hole, wenn ich doch schnellerer und sicherer sein wollte. Entweder fragte er es, weil er wirklich zu naiv gewesen war oder er fragte es, um mich zu verspotten.
Ich kam, seiner Dummheit zum Trotz, dennoch an. Es war eine Konferenz, eine Tagung, auf der ich als Gast und er als Redner eingeladen war. In der Masse der Vortragenden verlor ich ihn. Er viel nicht auf. Er war wie alle anderen. Er war einer von elf Männern, die drei Frauen gegenüberstanden. Sie waren Anzugträger, dickbäuchig, weiß und alt. Ihre Konkurrenz hatten sie ausgestochen. Sie waren Literaturwissenschaftler und weiß Gott, es gab tausende von ihnen. Aber dass man sie hier eingeladen hatte, bewies ihnen, dass sie jemand besseres waren. Das war ihnen wichtig. Sie waren besser als all jene, die man nicht eingeladen hatte. Plötzlich waren sie Experten. Plötzlich waren sie gefragte Personen. Egal, wo man sie hätte angetroffen, so ein Literaturwissenschaftler hätte nichts sagen können. Aber diese Konferenz, diese Tagung früh morgens um halb neun; sie war der Beweis dafür, endlich jemand besonderes gewesen zu sein. Leipzig, Ostdeutschland, diente ihnen als wunderbares Mittel ihrer Karriere. Sie alle hatten eine Habilitation verfasst, sie alle hatten promoviert. Man nannte sie „Professor Doktor", weil sie im Osten eine Anstellung gefunden hatten. Hier waren die Preise billig. Hier wollte niemand hin. Hier konnten sie nun eine Zukunft aufbauen und den ganzen Ostdeutschen mal erklären, was richtige Arbeit gewesen war.
Die Tagung war keine Weiterbildung. Die Tagung war kein Ort, wo man gemeinsam diskutierte. Darum ging es nicht. Es ging darum, in der Masse hervorzustechen. Darum kämpften sie. Darum kämpften sie alle; jeder Literaturwissenschaftler, der im Saal gesessen hatte, jede Frau, die in den hinteren Reihen saßen. Das tat jede auf ihre ganz eigene Weise. Eine gab sich ihrer Weiblichkeit hin, die andere, die von der Humboldt-Universität, war männlich aggressiv und die dritte war unauffällig. Neben Männern waren sie die interessantesten Persönlichkeiten. Aber auch sie waren im Endeffekt nicht anders. Auch sie nutzten die Weiterbildung nicht, um sich tatsächlich weiterzubilden, sondern um sich als intellektuell darzustellen. Auch sie kämpften in einem Ring, in den sie die Wissenschaft hineingesetzt hatte, um Anerkennung. Es gab genug Literaturwissenschaftler. Genug Leute, die Germanistik studiert hatten, machten ihre Promotion und waren nach ihrer Habilitation irgendwo ein Professor für Dramaturgie oder Neuere Deutsche Literatur. Da musste man also herausstechen. Da musste man zeigen, dass man besser war als als die anderen. Da ging es bei Nachfragen zu einem Thema nicht darum, tatsächlich etwas neues zu ergründen oder eine tatsächliche Frage zu lösen, nein, da ging es alleine in der verwendeten Syntaxformulierung und in der Wortwahl darum, möglichst viele Fachwörter und eine komplizierte Satzstellung zu verwenden. Schließlich war man schlau gewesen. Die Antwort interessierte sie dann nicht. Die hätten sie sich selbst geben können, wenn sie einfach Google benutzt hätten. Der andere Part war nicht besser gewesen. Er überreichte sein Wissen auf einem Silbertablett, damit sich die anderen darüber aufregen konnten. Er wollte zeigen, wie fähig er war und am besten auch noch Experte auf einem ganz eigenen Gebiet. Die führenden Köpfe der deutschen Literaturwissenschaft hatten kein Interesse daran, wirklich etwas neues zu betrachten, eine Überforderung der Form bei Hölderlin, Lichtenberg, Humboldt oder Schiller, nein, ihnen ging es lediglich darum, irgendetwas zu erzählen; das hatte die bissige Professorin der Humboldt Uni richtig herausgestellt. Sie war genau so, wie ich mir das Lehrpersonal in Berlin vorgestellt hatte. Sie kümmerte es nicht, ob ihre Studenten und Studentinnen bestanden. Sie hatte kein Interesse daran, eine gute PowerPoint zu erstellen oder ein Buch wirklich zu lesen und zu zitieren. Es gab genug in- wie ausländische Bewerber und Bewerberinnen, die darum bettelten, bei ihr in der Vorlesung zu sitzen. Gleichsam hatte sie sich diese Haltung wohl auch deshalb angewöhnt, um als Frau in der Wissenschaft zu überleben. Ich hatte eine gespaltene Meinung von ihr. Aber es war wohl der klügste Redebeitrag, den es an diesem Tage gab.
Der Drang sich zu beweisen, präsentierte sich am anschaulichsten an meiner Person. Ich war gekommen, um Fragen zu stellen. Ich war gekommen, um Neues zu lernen und die Professoren, die Intellektuellen, von ihrem hohen Ross zu stürzten. Auf meine zweite Frage antwortete der Redner dann, dass er sich mit dem Inhalt meiner Frage nicht auskenne und würgte mich ab. Bei allen anderen, die es wert gewesen waren, hielt er einen fünfminütigen Monolog. Schweigend saß ich dort und überlegte, wie jemand, der sich mit dem Begriff der Unendlichkeit beschäftigte, nichts darüber wusste, inwieweit Religion Einfluss auf den zeitgenössischen Kontext hatte. Es war klar. Ihm ging es nicht darum, mir etwas beizubringen, obgleich er doch Hochschulprofessor gewesen war, nein, ihm ging es darum, von anderen zu hören, wie toll er gewesen war, beziehungsweise sich als Experten auf einem Gebiet zu präsentieren. Ein anderer machte im Publikum, indem er eine Frage stellte, aber eigentlich nur auf etwas anderes verwies, indes Werbung für sein eigenes Buch. Hier ging es um keinen Diskurs. Hier lobte jeder Goethe als Genie. Hier war ein Werk gut, weil es von Goethe geschrieben worden war. Hier waren Goethes Werke meisterhaft und voll von Interpretation. Wer weiß, was sie alles gesagt hätten, hätte ich ein eigenes Gedicht als das von Goethe ausgegeben. Sie hätten mich bewundert; beziehungsweise Goethe. Es ging nicht darum, zu diskutieren, sondern lediglich sich darzustellen. Bei meiner nächsten Frage ging ein Raunen durch die Menge und tatsächlich wurde es mir unangenehm. Aber umso mehr war mir doch klar, worum es eigentlich ging. Die Professorin, die weiblich gewesen war, war die einzige, die sich für mich einsetzte. Sie sagte noch: „Nun lasst ihn doch reden!" und dann war der ganze Zirkus auch schon vorbei. Es war Pause und ich ging nach Hause.
Mit jedem Schritt wurde es mir bewusster, dass jeder, der dort auf seinem Podest stand, rein wörtlich abgehoben war. Er war in eine Sphäre, die er nicht mehr verlassen konnte. Dort oben war er angesehen. Dort oben war er ein Genie. Von unten wurde er bewundert und oben konnte er sich präsentieren. Der wissenschaftliche Betrieb war ein Überlebenskampf. Es ging um die eigene Position. Es ging um das eigene Ego, das man nur mit Arroganz aufrechterhalten konnte. Die meisten machten es ganz offensiv, die redeten non stop über ihre eigene Publikation, und andere machten es, indem sie dumme Leute zurecht wiesen. Das hatte man sie schon früh gelehrt, als sie nach Ostdeutschland kamen; als sie nach Leipzig zogen. Hier waren die meisten Menschen keine Absolventen. Sie begannen vielleicht ein Studium, aber die meisten, mehr als die Hälfte, hörte doch wieder auf. Ihre Eltern, die hier ebenfalls in der Umgebung wohnten, waren maximal in einem handwerklichen Beruf ausgebildet. Aber die Professoren und Professorinnen, die allesamt aus Westdeutschland kamen, sie waren ganz schlau. Sie waren bewundernswerte Menschen in einem Land, das an andere wie sie vor einunddreißig Jahren verscherbelt wurde. In den Leipziger Tagen kamen sie zusammen und feierten sich selbst. Die Konferenz, Leipzig, wurde zu einem Ort, wo sich die Anwesenden die Normalverteilung der Gaus'schen Glockenkurve nicht nur vorstellen, sondern deren Auswirkungen und Wahrheitsgehalt verdrängen konnten. Das waren die Leipziger Tage. Hier regierte der alte und weiße Mann, der es in seinem Leben wahrlich zu etwas gebracht hatte.
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