Herrin Galadriel

Die Tage zogen sich in die Länge wie noch nie zuvor. Einer von ihnen fühlte sich nicht mehr nach 24 Stunden, sondern nach 100 stunden an. Jede Minute, die ich mit warten verbrachte, war so lang, wie ein ganzes Leben.

Warten.

Das hieß es jetzt.

Warten auf Herrin Galadriel.

Warten auf den Trank, der mich wieder sehen lassen würde.

Warten.

Einfach nur warten.

Aragorn half mir, die schier endlose Zeit tot zu schlagen. Oft redeten wir einfach nur über die letzten Jahre, über den Ringkrieg und was wir danach so getan hatten. 

So konnten wir die Zeit wenigstens ein bisschen beschleunigen.

Zumindest was die Tage anging. Doch auch Nachts, wenn Aragorn schlief, hatte ich eine Ablenkung. Aber diese war weniger schön.

Nacht für Nacht wanderten meine Gedanken zu ihr. Aryana.

Wo war sie nur?

Weshalb war sie geflohen?

Warum kam sie nicht zurück?

Die Fragen ließen mich nicht in Ruhe. Und ich verbrachte jede Nacht damit, auf meinem Bett zu liegen, ins Leere zu starren und mir mögliche Antworten zu bilden.

Doch es war zwecklos.

Eine Woche nach dem Eintreffen von Galadriels Botschaft, fiel die Temperatur Schlagartig. Es ging mittlerweile auf Ende Dezember zu. Und wie jede Nacht vertrieb ich mir die Zeit damit, nachzudenken.

Schlafen konnte ich nicht.

Wollte ich nicht.

Ich kam nicht zur Ruhe.

Irgendetwas sagte mir, dass Aryana in Gefahr war. Das ihre Flucht nicht freiwillig gewesen war.

Nachdem meine Gedanken tausend mal zu unserem Kuss geschweift waren, entschied ich mich dazu, an die frische Luft zu gehen. Vielleicht würden mir der Wind und die kalte Luft wieder einen klaren Kopf machen.

So selbstsicher wie noch nie, stand ich auf und ging langsam durch den Raum. Es dauerte nicht lange und schon hatte ich den Flur durchquert und war die Treppe hinab gestiegen. Draußen in Elronds Garten angekommen, wehte mir direkt ein kalter Wind ins Gesicht. Ich atmete tief ein und aus, um mich selbst etwas zu beruhigen.

Die Luft roch nach Schnee. Aber ich spürte beim Laufen keinen unter mir. Wahrscheinlich würde der Schnee erst noch kommen.

Ich beschloss, zum Wasserfall zu laufen. Den Weg dort hin kannte ich mittlerweile auswendig. Oft genug war ich mit Aryana dort gewesen.

Am Wasserfall angekommen, lehnte ich mich an das Geländer und ließ das Geräusch des plätschernden Wassers tief in mich eindringen.

Die Kälte machte mir nichts aus. Im Gegenteil. Sie schien diese Hitzewelle voller Sorge von mir zu schieben, die mich die ganze Zeit über belastete.

Etwas nasses landete sanft auf meiner Stirn und perlte langsam hinab. Noch etwas.

Es begann zu schneien.

Und auf einmal war sie da. Diese unglaubliche Energie.

Sie kam von hinten und schien mich innerlich zu stärken. Und ich wusste, was dies zu bedeuten hatte.

Nur eine Person in ganz Mittelerde konnte eine solche Energie ausstrahlen. Nur eine.

Du warst unvorsichtig, junger Prinz.

Es war ihre Stimme. Ihre Stimme in meinem Kopf. Herrin Galadriel.

Ich ließ das Geländer los und drehte mich langsam um. In die Richtung, aus der ich die Energie vernahm. Denn ihrer Stimme konnte ich nicht folgen. Schließlich sprach sie in meinem Kopf.

"Herrin?" fragte ich vorsichtig.

"Die Valar gaben uns die Sinne des Lebens, um uns aus Schwierigkeiten wie diesen raus zu halten, Legolas, Sohn von Thranduil" sagte die Herrscherin von Lorien mit sanfter Stimme. Dieses Mal sprach sie nicht in meinem Kopf.

Sie stand direkt vor mir. Ihre Energie tauchte tief in mich ein. Machte mir neue Hoffnung. Neuen Mut.

Ich sekte leicht den Kopf.

"Es hat mir die Augen geöffnet, Herrin. Doch nun, da ich verstanden habe, was es heißt richtig zu leben, möchte ich doch wieder sehen können. Ich hatte alle Hoffnungen auf euch gesetzt. Könnt ihr es mir wieder geben?"

Ich sprach leise, mit gesenktem Kopf.

Galadriel lachte leise.

"Ich habe doch den Trank nicht gebraut und die lange Reise angetreten, um dir zu sagen, dass ich dir nicht helfen kann. Nein. Ich werde es dir wieder geben. Dein Licht" sagte sie sanft.

Ich konnte mir ein Lächeln nicht verkneifen.

Hoffnung.

Sie wurde also doch nicht immer zerschlagen.

Auch, wenn ich wusste, dass die mit "Licht" nicht Aryana, sondern mein Augenlicht meinte.

"Lass mich deine Blicke sehen, Sohn Thranduils. Lass mich sehen, was du siehst" fuhr die Herrscherin  leise fort.

Ich spürte sanfte Finger an meinen Schläfen. Pure Energie floss durch meinen Kopf. Und ich glaubte für einige Sekunden weiße Nebelschwaden zwischen der schwarzen Dunkelheit zu sehen.

Nicht einmal Aryana hatte eine solche Energie.

Galadriel strich vorsichtig über meine Augen, die ich sofort schloss. Dort, auf meinen Liedern, hielt die inne.

"Dunkelheit und tiefe Nacht. Du siehst in der tat nur noch schwarze Schleier. Und dennoch scheint es mir so, als würdest du sehen können. Du bist allein. Mitten in der Nacht. Hier in Elronds Garten. Wie kommt es dazu?" fragte Galadriel und nahm ihre Finger von meinen Augenlidern.

Sofort ließ die Energie nach und ich fühlte mich kalt und schwer.

"Ich habe viel gelernt in den letzten Wochen, meine Herrin" antwortete ich nur.

Galadriels Blick durchbohrte mich förmlich. Das konnte ich deutlich  spüren.

"Nun, du scheinst mir wirklich ein anderer zu sein als früher. Ich liege wohl recht in der Annahme, dass deine Verletzung dazu beigetragen hat. Doch nun komm, junge Prinz. Der Zauber erfordert viel Energie und nicht nur ich sollte etwas ruhen. Auch du solltest dich vorbereiten" sagte Galadriel und ergriff meinen Arm.

Wir liefen durch den Garten bis hin zu Elronds Haus. Dort angekommen, verabschiedete sich die Herrin Loriens von mir, um Herrn Elrond von ihrer Ankunft zu berichten. Währenddessen ging ich zurück in mein Zimmer, schloss die Tür, zog meine Stiefel aus und lies mich auf mein Himmelbett sinken.

Nun würde es nicht mehr lange dauern. Bald wäre es so weit.
Bald.

Endlich hatte ich nach vielen schlaflosen Nächten wieder etwas Ruhe gefunden und tatsächlich einige Stunden geschlafen. Doch noch vor Sonnenaufgang und dem Gezwitscher der Vögel wurde ich wieder von einem Klopfen an meiner Tür geweckt.

"Herein!?" rief ich etwas verwirrt und richtete mich auf.

Die Tür wurde geöffnet und Aragorns erfreute Stimme erfüllte den Raum.

"Legolas! Du darfst drei mal raten, wer in der Nacht hier in Bruchtal angekommen ist".

Ich grinste.
"Herin Galadriel. Ich habe sie heute Nacht schon getroffen".

"Wirklich? Und ich dachte, ich könnte dich damit Überraschen" lachte Aragorn gespielt enttäuscht, schloss die Tür und durchquerte den Raum.

"Ich habe auch eben mit ihr gesprochen. Sie verlangt nach dir. Sie wartet mit Herrn Elrond und Gandalf im Osttempel" berichtete Aragorn.

"Danke" sagte ich nickend und Schlüpfte wieder in meine Stiefel. Dann folgte ich Aragorn hinaus in den Gang.

Der Osttempel war mir nicht femd. Es war ein großer weißer Pavilion, gebaut auf einer Anhöhe, indem wichtige Versammlungen oder Treffen abgehalten wurden. Ein reißender Fluss umschloss den riesigen Felsen, auf dem der Tempel gebaut war und nur drei Brücken, beleuchtet von Fackeln, ermöglichten den Übergang.

So hatte ich ihn noch in Erinnerung, den Osttempel.

Ich ging schweigend neben Aragorn her und spürte den neugierigen Blick meines Freundes auf mir kleben.

Irgendwann sprach ich ihn darauf an.
"Werden wir von Orks beobachtet oder bist du das, der mich die ganze Zeit anschaut?" fragte ich grinsend.

"Tut mir leid, Mellon nin. Ich finde es nur so fasziniert, wie du gehst ohne etwas zu sehen. Diese Aryana scheint dich wirklich viel gelehrt zu haben" meinte der König von Gondor.

"Ja" erwiderte ich gedankenverloren, "das hat sie".

Wir verließen Elronds Haus, durchquerten den Garten und einige Wege und errichten schließlich eine Brücke, die etwas in die Höhe führte. Das Geräusch von Wasser erfüllte die Luft und wurde mit vereinzeltem Vogelgesang untermalt. Jetzt erwachten die Tiere langsam. Es war noch sehr frisch an diesem Morgen und der kühle wind wehte mir leicht ins Gesicht.

"Wir sind da" sagte Aragorn leise und bestätigte meine Vermutung, am Ziel zu sein.

Es kostete mich etwas Überwindung über die Brücke zu laufen. Denn blind hatte ich diese hier noch nie überquert und ich wusste genau, dass es sehr tief nach unten ging.

Doch es gelang mir, unbeschadet im Pavillon auf der anderen Seite anzukommen. Aragorn war mir schweigend gefolgt.

"Mein Herr Elrond, Herrin Galadriel, Gandalf" sagte Aragorn und trat an mir vorbei.

Sie waren also alle hier.

"Sei gegrüßt, Legolas. Wie ich soeben gehört habe, hattest du heute Nacht schon eine Begegnung mit Herrin Galadriel" begrüßte mich Elrond von links.

"Das ist wahr" antwortete ich.

"Ich sehe tiefe Dunkelheit in seinen Augen. Es wird Zeit, dass er wieder das bekommt, was er verloren hat" sagte Galadriel, welche, ihrer Stimme nach zu urteilen, etwas abseits stehen musste.

"Das wird er" schaltete sich nun auch Gandalf ein, "Legolas, wir haben dich rufen lassen, um dir die Einzelheiten unseres Vorgehens zu erklären".

Ich nickte verstehend.

"Zuallererst muss dir bewusst sein, dass ein gewisses Risiko besteht. Dieser Zauber wurde seit mehreren Jahrtausenden nicht mehr benutzt. Warum er ausgerechnet in einem Buch stand, das Aragorn im Wald gefunden hat, ist uns ein großes Rätsel. Da weder Mithrandir, noch ich diesen Zauber jemals gesprochen haben, wissen wir nicht, was genau geschehen wird. Ein kleines Risiko, das du blind bleiben wirst, wird immer bestehen. Doch ich halte diese Option für ausgeschlossen. Denn ich habe den Estromjah nach genauen Anweisungen herstellen lassen und die Formeln selbst gesprochen" erkläre Galadriel.

"Das heißt, es besteht die Möglichkeit, das ich blind bleibe?" fragte ich vorsichtig.

"Ja, aber wie bereits gesagt,  Mithrandir und ich sind zuversichtlich, dass dein Augenlicht wieder kommen wird" antwortete Galadriel.

Ich konnte nicht anders. Ich musste Lächeln.

"Der Trank und der Zauber wirken nur in einer Vollmondnacht. Ich habe mich bemüht, vor dem nächsten Vollmond nach Bruchtal zu kommen. Und es ist mir gelungen. Der nächste Vollmond ist heute Nacht" sagte Galadriel.

Ich glaubte nicht recht zu höhren? Heute Nacht? Heute Nacht?

"Ihr meint...." begann ich langsam.

"Ja, mein Freund, heute Nacht werden wir den Zauber sprechen. Heute Nacht erhältst du dein Augenlicht zurück" beendete Gandalf für mich den Satz.

"Das... das ist... unfassbar. Ich danke euch. Für alles".
Das war alles, was ich heraus bekam. Zu sehr war mein Kopf noch damit beschäftigt, die Neuigkeiten zu verarbeiten.

"Für den Zauber brauchen wir alle viel Ruhe. Er wird dich etwas Schwächen. Deshalb solltest auch du etwas ruhen. Heute Abend, bei Sonnenuntergang, werde ich einen Diener Elronds schicken, um dich zu holen" meinte Gandalf.

Ein Stuhl wurde über den Boden geschoben. Dann kam jemand auf mich zu. Und das klackern eines Stabes auf dem Boden, verriet mir, dass es Gandalf war. Kurz darauf spürte ich eine warme Hand auf meiner Schulter.

"Ruhe jetzt etwas, mein Freund" murmelte der alte Zauberer und ging weiter.

"Gut, dann wäre diese Angelegenheit geklärt. Komm Legolas, ich begleite dich zurück auf dein Zimmer" sagte Aragorn neben mir, worauf ich nur benommen nickte.

Ich konnte mein Glück noch gar nicht fassen. Heute Nacht! Heute Nacht würde ich meine schwarzen Schleier zurücklassen und die Welt wieder so sehen können, wie früher. Nur mit dem Unterschied, dass ich mich verändert hatte und nicht mehr der Selbe war, wie früher.

Die Zeit bis zum Abend verging quälend langsam. Selbst das Gespräch mit Aragorn, welches wir über drei Stunden führten, machte die Sache nicht besser.

Doch irgendwann klopfte es endlich an meiner Tür und ein Diener Elronds führte mich und Aragorn in ein anderes Zimmer, in dem es um einiges wärmer war, als in meinem Gemach.

"Mithrandir und Galadriel werden gleich kommen. Habt noch etwas Geduld" sagte der Diener und ließ uns dann allein im Zimmer zurück.

Sicht Aragorn:

Es dauerte in der tat nicht lange und Gandalf und Galadriel betraten den Raum. In den Händen trugen beide  eine Menge Kerzen, Kräuter und zwei Schüsseln. Eine mit klarem Wasser und eine mit einer olivgrünen, schlammartigen Paste. Sie stellten erst alles auf einem kleinen Tisch ab, bevor Gandalf begann, die Kerzen im ganzen Raum zu verteilen und anzuzünden. Bald schon war das ganze Zimmer in einen orangenen Schein getaucht. Galadriel vermischte währenddessen die Kräuter mit dem Wasser und murmelte dabei etwas auf elbisch.

Ich trat neben die Herrin Loriens. 

"Herrin, ich mache mir Sorgen. Als Legolas sein Augenlicht verloren hat, hatte er mit großer Sicherheit Schmerzen. Wird er... auch jetzt Schmerzen haben?" fragte ich so leise, das Legolas, der abwartend an der Kante des Bettes saß, es nicht hören konnte. 

Galadriel hielt in ihrer Arbeit inne und sah mich mit ihren blauen Augen durchdringend an.

"Nein, das wird er nicht. Hab keine Sorge" sagte ihre Stimme dann in meinem Kopf, "er wird nur für eine lange Zeit schlafen".

Ich atmete beruhigt aus und nickte dankbar.

Sicht Legolas:

Ich fühlte die Wärme mehrerer Kerzen um mich herum. Noch dazu roch ich spezielle Kräuter, die einen starken, aber keinen unangenehmen Duft verbreiteten. Abwartend und mit schnell pochendem Herzen saß ich auf der Kante des Bettes und wartete ab. 

"Lass mich dir den Zauber erklären, Legolas" sagte Galadriel schließlich mit sanfter Stimme. Sie stand links von mir. "Wir werden deine Augen mit einer Kräuter Mischung übergießen. Dem Estromjah. Dann werden wir einen Zauber sprechen, der dich in einen Trancezustand versetzt. Erst dann, wenn du dich in diesem Trancezustand, oder auch Heilschlaf genannt, befindest, können wir dir dein Augenlicht wieder geben".

Ich nickte verstehend.

"Leg' dich auf den Rücken, mein alter Freund" sagte nun Gandalf, dessen Stimme von rechts kam. 

Vorsichtig legte ich mich auf das Bett. 

"Schließe deine Augen" befahl Galadriel im sanften Ton. 

Ich gehorchte.

Kurz darauf spürte ich etwas nasses auf meinen Liedern. Es roch nach verschiedenen Gewürzen und kitzelte in der Nase. Meine gesamten Augen wurden damit bedeckt. 
Dann hörte ich wie die Schüssel abgestellt wurde. 

Und nur einen Moment später begannen Gandalf und Galadriel zu murmeln. Erst waren die Worte undeutlich. Aber mit der Zeit wurden sie immer klarer und lauter.

Der Zauber bohrte sich in meinen Kopf....

Ich wurde immer schläfriger...

Immer müder...

In meinem Kopf begann sich alles zu drehen...

Die Stimmen Gandalf und Galadriels wurden immer wieder leiser und undeutlicher....

... dann wieder lauter....

...und dann wieder leiser....

Immer wieder spürte ich, wie die Energie aus mir heraus gezogen wurde...

Und schließlich verlor ich das Bewusstsein... 

Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top