Kapitel 6

Rufus. Der Name echote in ihrem Kopf. Ihre Kehle war plötzlich staubtrocken und sie hatte das Gefühl, kein Wort herausbringen zu können. Einige Sekunden starrte Ava sie lediglich an. Die Zeit zog sich wie Kaugummi. Sie schluckte schwer, während sich ihr Griff um den Einkaufskorb verstärkte.

Ihm zu schreiben, war ein lächerlicher Reflex gewesen, nachdem sie den Flug gebucht hatte. Obwohl sie den Gedanken daran hierherzukommen zu unterdrücken versucht hatte, war ihr von Anfang an klar gewesen, dass sie es nicht auf ewig vermeiden konnte. Trotzdem hatte es sie wie ein Schlag in die Magengrube getroffen, als sie die Flugtickets in der Hand gehalten hatte.

Kaum hatte sie die Nachricht abgeschickt, hatte sie eine Welle der Raue überkommen. Sechs Jahre hatten sie einander nicht gesehen. Fünf Jahre nicht miteinander gesprochen. Diese Realisation hatte sie hart getroffen.

Früher hatte sie eine tiefe Freundschaft verbunden, von der Ava stets gedacht hatte, sie sei unzertrennlich. Doch nach dem Tod ihrer Eltern war das eines der vielen Dinge gewesen, das sich ebenfalls geändert hatte. Anfangs hatte sie sich bemüht, mit ihm in Kontakt zu bleiben, doch je tiefer sie die Trauer weggeschoben hatte, um sich ihr nicht stellen zu müssen, desto weiter hatte sie auch alles von sich geschoben, das mit ihrer Heimat in Verbindung stand. Aus der Angst heraus, jeder Gedanke an Spring Haven könnte den Käfig, den sie mühsam um den Tod ihrer Eltern errichtet hatte, zerbersten.

Rufus hatte nicht geantwortet und sie hatte es vergessen, als die Vorbereitungen für die Reise Form annahmen. Doch offensichtlich hatte er Cyria davon erzählt. Dabei wusste Ava nicht einmal, wer die Frau war, die dort vor ihr stand. Wieso sollte Rufus ausgerechnet ihr davon erzählen?

„Äh, ja", brachte Ava letztendlich heraus: "Ich schätze, das habe ich wohl."
„Wir dachten, du würdest erst später kommen", mit einer Hand fuhr sie sich durch das schwarze Haar und setzte ein Lächeln auf, das jedoch zögerlicher wirkte als zuvor, als würde sie Avas Anspannung bemerken.

Instinktiv versuchte Ava den verwunderten Ausdruck von ihrem Gesicht zu wischen. Sonderlich gut stellte sie sich dabei nicht. Nicht nur, weil Cyrias Worte ihre Unsicherheit weiter fütterten. Wir. Die drei Buchstaben versetzten ihr einen festen Stich. Was bedeutete das? Wer war Cyria für Rufus?

„Aber es ist ein toller Zufall, dass wir uns hier treffen", fuhr Cyria fort: "Ich bin sicher, dass er sich freuen wird dich zu sehen."
„Er ist hier?"
„Klar ist er hier", Cyrias Lächeln verbreiterte sich: "Er arbeitet hier doch."
„Oh", plötzlich fühlte sich Ava dumm.

Zeit, um im Boden zu versinken, blieb ihr jedoch nicht, denn Cyria fuhr bereits fort: "Du musst doch sowieso zur Kasse, oder?"
Den Blick hielt sie auf den Einkaufskorb in Avas Hand gerichtet, als wollte sie sich versichern es richtig verstanden zu haben. Ava folgte dem Blick und ging die Produkte durch, die sie bereits von ihrer mentalen Liste gestrichen hatte. Tatsächlich fehlte ihr nicht mehr viel. Das Meiste hatte sie im Vorbeigehen hineingelegt, während sie sich in dem Markt zu orientieren versuchte.

„Ja, vermutlich bin ich bald fertig", sie zuckte mit den Schultern, unsicher, worauf die junge Frau vor ihr hinaus wollte.
„Was brauchst du denn noch? Vielleicht kann ich dir helfen", sie schenkte ihr ein freundliches Lächeln: "Der Markt kann manchmal unübersichtlich sein, wenn man sich nicht auskennt und die wahren Schätze sind gut versteckt."

Für einen Moment haderte Ava mit sich. Sie hatte keine Ahnung, wer da vor ihr stand und bisher war Cyria auch nicht mit mehr herausgerückt, als dass sie Rufus kannte. Eine maue Ausbeute. Doch wäre der Schlüssel, um mehr zu erfahren, tatsächlich sich helfen zu lassen. Zumal sie auf diesem Weg vermutlich wirklich schneller war.

„Tatsächlich könnte ich Hilfe gebrauchen", brachte sie nach kurzer Überlegung heraus, bevor sie aufzählte, was sie noch von ihrer Liste streichen musste: "Ich brauche noch Eier, Mehl und Salz."
„Mhm", Cyria ließ den Blick kurz über die Regale wandern, als würde sie sich zu orientieren versuchen, bevor sie nickte: "Das ist ganz einfach. Folg mir einfach. Dank Rufus kenne ich den Laden besser als jeden anderen in der Stadt."
Über die Schulter warf sie Ava einen kurzen Blick zu, bevor sie um eine Ecke bog.

„Woher kennst du Rufus?", die Frage kam über ihre Lippen, bevor sie sich zurückhalten konnte. Es ging sie nichts an. Sie war vor sechs Jahren aus seinem Leben verschwunden. Dass er in der Zeit neue Beziehungen aufgebaut hatte, war nur eine der weiteren Veränderungen, die sich in Spring Haven seit ihrer Abreise ereignet hatten. Die einzige Positive, über die sie gestolpert war. Vermutlich sollte sie sich also für ihn freuen und es einfach so stehen lassen. Trotzdem kam sie nicht umher, bei den kurzen Kommentaren ihres größtenteils unbekannten Gegenübers nachzuhaken.

„Wir sind zusammen zur Schule gegangen", beantwortete Cyria ihre Frage unbefangen, während sich ihr Schritt zu Avas Erleichterung verlangsamte. Schnell schloss sie zu ihr auf, nachdem Cyria sie zuvor um ein paar Schritte abgehangen hatte. Ihre Augen verengten sich, während sie die Frau musterte. Obwohl es eine Weile her war, erinnerte sie sich einen Großteil ihrer Mitschüler. Doch Cyrias Gesicht weckte in ihr keinerlei Erinnerungen.

Erneut musste Ava sie. Nachtschwarzes Haar fiel ihr in langen Locken über die Schultern, die auf den ersten Blick weniger von der Natur gegeben, als von einem Lockenstab herbeigeführt wirkten. Ihre perlweiße Haut wirkte dagegen blass. Von der Seite betrachtete Ava ihr Profil. Cyrias Nasenrücken war hügelig und lief zu einer kleinen Nasenspitze zusammen, die sich leicht hob. Ihre Lippen waren schmal und filigran geschwungen. Ihre Gesichtszüge wirkten so perfekt, dass man sie für das Lebenswerk eines talentierten Steinmetzes halten konnte.

Als sie nach einem Päckchen Mehl vom Regal nahm und sich damit zu Ava umdrehte, fielen ihr Cyrias stechend blaue Augen auf, die sie an die eisigen Meere von Alaska erinnerte. Kalt und gleichzeitig voller Leben. Darin entdeckte Ava einen Ausdruck der Vorfreude, der über sie schwemmte, wie die eisigen Wellen des Ozeans.

Egal, wie lange sie Cyria musterte. Sie konnte sich nicht daran erinnern, ihr Gesicht zuvor gesehen zu haben. Dabei war sie sich sicher, dass ihr jemand wie Cyria in der Schulzeit nicht entgangen wäre.

„Hier", Cyria streckte ihr das Päckchen hin und deutete in Richtung ihres Korbes, in den Ava automatisch ob.
„Danke", erwiderte sie und nahm es entgegen. Sie biss sich auf die Zunge, um weitere Nachfragen zu unterdrücken. Direkt im Privatleben ihres besten Freundes herumzuschnüffeln, bevor sie ihn überhaupt wiedergetroffen hatte, fühlte sich falsch an. Selbst wenn das bedeutete, dass ihre Neugierde unbefriedigt blieb.

Die nächsten Minuten verbrachten die beiden jungen Frauen damit, zwischen den Regalen herzulaufen und die letzten Dinge einzusammeln, die Ava von ihrer Liste streichen musste. Als sie letztendlich alles zusammen hatte und Cyria sie in Richtung der Kasse lenkte, wurde es immer schwer einen Fuß vor den anderen zu setzen. Erdrückende Schwere legte sich über ihren Körper. Ob es von dem gefüllte Einkaufskorb kam, der an ihrem Arm immer schwerer wurde, oder vom Gewicht der erdrückenden Unsicherheit, die sich über sie streckte wie ein langer Schatten.

Als sie das letzte Regal umrundeten und die Kasse zum Vorschein kam, wäre sie beinahe wie angewurzelt stehen geblieben. Cyria ließ ihr keine Chance dazu, sich eine Ausrede zu überlegen, um kehrt zu machen.
„Rufus", mit unüberhörbarer Stimme wandte sie sich an die Gestalt hinter der Kasse, als wollte sie sicher gehen, dass er sie bemerkte: "Schau mal, wen ich gefunden habe."

Avas Augen hefteten sich auf den jungen Mann, der seinen Kopf zur Seite neigte, um hinter der alten Registerkasse hervorzublicken und einen Blick auf die Frauen zu erhaschen. Cyrias Anblick ließ ein Lächeln über seine Lippen huschen, bevor er an Ava hängen blieb. Durch die Gläser seiner schwarzen Brille blickte er sie an. Seine Lider flatterten, als müsste er mehrfach blinzeln, um sich davon zu überzeugen, dass sie beim nächsten Wimpernschlag nicht wieder verschwand. Wie eine verblassende Erinnerung, die nur darauf wartete, vom nächsten Windstoß davon getragen zu werden.

Das Herz hämmerte so laut in Avas Brust, dass sie das Gefühl hatte, es könnte jeden Moment hinausspringen. Die Lippen hielt sie so fest aufeinander gepresst, dass vermutlich nur dünne, helle Striche zu erkennen waren. Scharf atmete sie durch die Nase ein, als sich das Gefühl in ihr ausbreitete plötzlich nicht genug Luft zu bekommen und sie benommen machte. Ihr Verstand bettelte ihn darum an, etwas zu sagen oder sich ihrer zumindest so weit zu erbarmen, eine Reaktion zu zeigen, die auf seine Gedanken hinwies. Doch über ihre Lippen kam kein Wort und Rufus musterte sie einfach weiterhin wortlos aus seinen metallgrauen Augen.

„Ava ist hier!", Cyria zerbrach die Stille. Mit den Händen gestikulierte sie in Avas Richtung, als sei sie nicht sicher, ob Rufus sie wirklich bemerkt hatte. Ava schluckte schwer und schob den Einkaufskorb nervös von der einen Hand in die andere. Sie hatte nicht erwartet, dass er ihr gleich in die Arme fallen, sie umarmen und nie wieder loslassen würde. Wenn sie ehrlich war, konnte sie nicht genau sagen, was sie erwartet hatte. Doch es war nicht das hier gewesen.

„Hey", entschied sie sich letztendlich, das betretene Schweigen zwischen ihnen zu brechen. Ihre Stimme klang aus der Ferne an ihre Ohren, als wäre es nicht ihre eigene.
„Ich dachte nicht, dass ich dich hier im Supermarkt treffe. Was für ein Zufall", fügte sie hinzu, um nicht erneut in Sprachlosigkeit zu verfallen: "Aber es freut mich, dich zu sehen."

Langsam löste sich Rufus aus seiner Position. Beinahe als würde er aus einer Schockstarre erwachen. Mit einem Finger deutete auf das Shirt, das er trug. Weißer Stoff mit einem dunkelgrünen Logo darauf: "Ich arbeite hier."
Als Nächstes deutete er auf den Tresen, hinter dem er saß.
„Soll ich deine Sachen abscannen?", er nickte in Richtung des Einkaufskorbs, den sie mit schweißnassen Händen umklammert hielt.
„Gerne", langsam löste sie sich von der Stelle, an der sie vermutlich Wurzeln geschlagen hätte, wäre sie dort noch länger verweilt. Aus dem Augenwinkel nahm sie wahr, dass Cyria ihr folgte.

Innerlich verfluchte sie sich, während sie die Sachen auf das Band packte. Wieso musste sie das hier nur so merkwürdig machen? Selbst wenn sie einander sechs Jahre nicht gesehen hatten. Rufus war einmal ihr bester Freund gewesen. Früher hatten sie sich alles anvertraut. Ihn endlich wiederzusehen, in der gleichen Gestalt wie immer, war der erste Lichtblick, seit sie einen Fuß in Spring Haven gesetzt hatte. Er war die erste Person, an die sie gedacht hatte, als sie die Tickets in der Hand gehalten hatte und obwohl sie nicht einschätzen konnte, was er von ihrem Auftauchen hielt und was er und Cyria waren, war sie froh, dass er noch hier war. Nach all den Jahren. Und er erinnerte immer noch unverkennbar an den Fünfzehnjährigen, den sie zurückgelassen hatte.

Ihr Herz sank und tanzte bei dem Gedanken gleichermaßen. Es war unverzeihlich, wie sie ihn verlassen hatte. Doch dass er noch hier war, bedeutete möglicherweise, dass sie eine Chance bekam, es ihm zu erklären. Dass sie versuchen konnte, es wieder gutzumachen, wenn er sie ließ. Dass Spring Haven für sie nicht vollkommen verloren war.

Als hätte er den gleichen Gedanken gehabt, hob sich Rufus Mundwinkel langsam, während er ihre Einkäufe der Reihe nach über das Band zog.
„Es ist schön, dich zu sehen, Ava", seine Stimme klang zögerlich, doch als er sie dieses Mal musterte, war dieser unleserliche Ausdruck aus seinen Augen verschwunden.
„Ich freue mich auch, dich zu sehen", die Wahrheit verließ ihre Lippen, bevor sie Anstalten machen konnte, sie zurückzuhalten.

„Ich war mir nicht sicher, ob du überhaupt noch hier wohnst", gab sie zu, während sie seinen Blick aufzufangen versuchte. Als seine Augen schließlich ihre trafen, lag daran dieser altbekannte Ausdruck, der sie glauben ließ, er könnte durch sie hindurch direkt in ihre Seele blicken. Selbst wenn das nicht der Wahrheit entsprechen mochte, hatte Ava sie als Teenager nie vor ihm zu verschleiern versucht. Sie hatte Trost darin gefunden. Als müsste sie vor ihm nichts von dem verbergen, was sie anderen nie zu erzählen wagte.

Nach all diesen Jahren fühlte sie sich unter diesem Blick nackt. Als fürchtete sie, er könnte selbst das sehen, was sie vor sich selbst versteckte. Geradewegs durch die dicken Mauern der kalten Festung in ihrem Herzen, in die sie all diese Erinnerungen gesperrt hatte, die es zerreißen würden, sollten sie jemals ausbrechen.

Rufus Mundwinkel rutschten in die Höhe, während er die Waren über das Band zu ziehen begann: "Ich schätze, du bist die Einzige von uns beiden, die es hier rausgeschafft hat."
In seiner Stimme war keine Bitterkeit auszumachen, doch die Worte versetzten Ava trotzdem einen Stich.

Seit sie einander kannten, hatte Rufus Spring Haven verlassen und in die Großstadt ziehen wollen. Dass er noch immer hier war und im Supermarkt arbeitete, anstatt den ganzen Tag an seinen Comics zu zeichnen, war überraschend. Früher hatte nie den Wunsch gehegt, aus der Stadt zu verschwinden. Stattdessen war sie fest davon überzeugt, eines Tages als Captain ihres eigenen kleinen Fischerbootes zu enden. Dass keiner von ihnen seinen Träumen hinterhergejagt war, hinterließ einen bitteren Geschmack in ihrem Mund. In Gedanken machte sie sich eine Notiz, ihn zu einem besseren Zeitpunkt nach seinen Comics zu fragen. Möglicherweise hatte zumindest einer von ihnen seine Träume nicht vollständig begraben.

„So sieht es wohl aus", stimmte sie mit einem Nicken zu, während sie begann, die gescannten Waren langsam in ihren Korb zurück zu packen: "Arbeitest du hier schon lange?" 
Rufus Blick richtete sich auf einen Punkt hinter ihr. Vermutlich Cyria.
„Hm, gute Frage", erwiderte er nach ein paar Sekunden: "Nach ein paar Monaten habe ich aufgehört mitzuzählen. Bestimmt bald ein Jahr, wenn ich schätzen müsste."
Er reichte ihr das letzte Teil ihres Einkaufes mit einem Lächeln: "Das macht siebenundfünfzig Dollar zwanzig."

Einige Sekunden lang stand Ava einfach nur wie angewurzelt da, während sie den Rest des Einkaufes aus seiner Hand nahm. Zwischen ihnen schwebte so viel Unausgesprochenes. Mit jeder Sekunde wuchsen die Fragen, die ihr im Kopf schwirrten. Nachdem sie so einfach aus seinem Leben verschwunden war, stand es ihr allerdings nicht zu, ihn auszufragen. Egal wie sehr es sie interessierte, was er mit seinem Leben angestellt hatte.

„Klar", murmelte sie, als sie sich nach ihrer gefühlten Ewigkeit aus der Starre löste. Ihre rechte Hand schob sich in ihre Tasche und sie fischte ihr Portemonnaie heraus. Sie zog die Scheine heraus und reichte sie ihm herüber, bevor sie den Rest ihres Einkaufs in der Tasche verschwinden ließ.
„Danke", fügte sie hinzu, während sie die Träger über ihre Schultern schob.

„Hör mal, Ava", sprach Rufus schnell, als würde er die Worte so schnell wie möglich hinausbringen: "Ich muss noch ein paar Stunden arbeiten, aber vielleicht könnten wir uns danach im Café treffen. Dann könnte ich dir erzählen, warum ich noch hier bin, wenn du Lust hast."

Das Lächeln, das sich auf seine Lippen schlich, reichte in seine Augen hinein. Dahinter flackerte jedoch ein Ausdruck, den Ava nur als Unsicherheit deuten konnte. Ein Gefühl, das sie selbst tief in ihren Knochen spürte. Seine Frage zerschmetterte jeden ihrer Versuche, die Aufregung von sich zu schieben, in tausend Teile und ließ eine Welle der Unschlüssigkeit über sie hineinbrechen. Einerseits schrie alles in ihrem Inneren danach zuzusagen und herauszufinden, ob es da noch etwas gab, was sie verband. Einen Funken der alten Freundschaft, den es nur erneut zu entzünden galt, um ein Inferno zu schaffen. Andererseits waren da ihr Plan, für diesen Trip – das Haus ihrer Eltern so schnell wie möglich verkaufen und dann verschwinden – und eine deutliche Warnung ihres Verstandes. Sie hatte ihn bereits einmal auf grausame Weise verlassen. Selbst wenn er wahrhaftiges Interesse an einem Treffen hegte, konnte sie ihm das kein zweites Mal antun. Nicht, wenn sie dieses Mal die Wahl hatte.

Ihre Lippen teilten sich, als sie sich um eine Antwort bemühte. Die Worte wollten einfach nicht hinausdringen. Als wüssten ihre Stimmbänder, dass sie es bereuen würde, egal wie sie entschied. Ihre Hände waren mittlerweile schweißnass und sie rieb die Handflächen gegen ihre Hose, in einem Versuch das merkwürdige Gefühl auf der Haut loszuwerden.

Als sich eine Hand von hinten auf ihre Schulter legte, wäre sie beinahe zusammengezuckt.
„Das klingt doch nach einer guten Idee, oder?", Cyrias Stimme drang nun direkt von einer Stelle hinter Ava hervor: "Dann habt ihr richtig Zeit, um zu reden."
Im nächsten Moment schob sich die Dunkelhaarige in ihr Sichtfeld und musterte ihr Gesicht, als würde sie darin nach einer Antwort suchen. Glücklicherweise kannte Cyria sie nicht und würde deshalb vermutlich nicht in ihren Augen lesen können. Trotzdem senkte sie den Blick auf ihre Tasche, als würde sie nochmal sicher gehen, dass sie alles sicher verstaut hatte.

„Ja, eine super Idee", erwiderte sie schnell, in der Hoffnung, damit ihrem prüfenden Blicken zu entgehen. Sie griff nach den Schlaufen ihrer Tasche und zwang sich zu einem Lächeln, während ihr Herz beinahe schmerzhaft gegen ihre Brust pochte. Möglicherweise sorgte sie sich umsonst. Ein Gespräch mit Rufus sollte für keinen von ihnen ein Grund sein, darauf zu hoffen, dass alles wieder wie früher wurde. Egal, wie sehr sich Ava das gewünscht hätte. Ihr Aufenthalt in Spring Haven hatte eine Deadline und Rufus hatte offensichtlich einen guten Ersatz für sie gefunden. Der Gedanke trieb ihr eine verräterische Bitternis auf die Zunge, die sie zu ignorieren versuchte.

„Ich bin um siebzehn Uhr fertig. Wir könnten uns im Watson's treffen", schlug Rufus nach kurzer Überlegung vor. Der Name klang in Avas Kopf wieder, während sie sich zu erinnern versuchte, welchen Ort er damit meinte. Doch es war vergeblich. In ihrem Kopf tauchten keine Bilder auf, die sie hätte zuordnen können. Dann würde sie sich wohl mal wieder Hilfe suchend an Google Maps wenden.

„Dann sehen wir uns später", stimmte sie mit einem Nicken zu und setzte ein Lächeln auf, in der Hoffnung, damit das ungute Gefühl in ihrem Inneren ein für alle Mal zu beseitigen. Ein Treffen würde keinem von ihnen schaden.
„Bis dann", sie löste sich von ihrem Platz an der Kasse und machte Platz für Cyria. Während sie Ava beim Suchen ihrer Einkäufe geholfen hatte, hatte sie sich selbst etwas eingepackt.

Ava schenkte ihnen ein Lächeln, bevor sie sich zum Gehen wandte. Ihre Knie waren schwach, an als sie in Richtung des Ausgangs stakste. Ihre Beine waren wie betäubt von der Spannung, die sich über ihren Körper ausgebreitet hatte und ihn erst langsam wieder verließ. Ihre Hände fanden die Träger ihres Beutels. Mit den Daumen spielte sie mit dem Material, während sie die Blicke der anderen im Rücken spürte. Wieso konnte sie dieses merkwürdige Gefühl nicht einfach abschütteln?

Erst als die Türen vor ihr aufglitten und eine Brise eisiger Luft um ihre Nase wehte, schien die Anspannung von ihr abzufallen. Plötzlich hatte die Kälte, die sie zuvor unerträglich gefunden hatte, etwas Erleichterndes. Sie stellte ihren Einkaufskorb zurück auf den Stapel an der Seite der Veranda. Die Hände vergrub sie in ihren Jackentaschen, während sie einen tiefen Atemzug nahm. Die eiskalte Luft brannten in ihren Lungen und revitalisierte ihre Sinne.

Nachdem sie Rufus zugesagt hatte, musste sie unbedingt in Erfahrung bringen, was das Watson's war. So konnte sie verhindern, dass sie doch noch begann nach Möglichkeiten zu suchen, dort nicht aufzutauchen. Denn selbst wenn es sie gab. Sie durfte sich nicht dazu hinreißen lassen. Tief in ihrem Inneren wünschte sie sich, dass alles nochmal so wurde, wie früher. Dass sie die Jahre nachholen konnten. Obwohl sie wusste, dass das niemals passieren würde. Sie würde das Haus ihrer Eltern verkaufen und dann verschwinden. Doch möglicherweise bekam sie wenigstens die Chance, es ihm zu erklären, wenn sie sowieso hier war.

„Ava!", eine weibliche Stimme zerriss die eisige Luft und ließ sie mitten in der Bewegung zum Stehen kommen. Vor Kälte starres Gras knirschte über ihren Schuhen, als Ava sich umdrehte. Cyria war am Treppenabsatz vor dem Supermarkt stehen geblieben, eine Hand auf das hölzerne Geländer gestützt. Mit der anderen hielt sie ihre Einkäufe fest umschlungen.

„Hey?", Ava konnte nicht verhindern, dass die Begrüßung wie eine Frage klang. Ihre Wege hatten sich gerade erst getrennt. Sie war davon ausgegangen, Cyria würde noch einen Moment länger bei Rufus bleiben.
„Hey", sie lief die drei Holzstufen hinunter, um neben Ava zu treten: "Bist du mit dem Auto hier?"
„Ja, aber ein Stück weiter weg", erklärte sie, während sie sich daran zu erinnern versuchte, wo sie ihr Auto abgestellt hatte.
„Kann ich mitkommen? Ich muss auch ein Stück laufen", Cyria nickte in Richtung des Ausgangs des Parkplatzes.

Ava zuckte mit den Schultern. Obwohl sie unsicher war, wie sie mit der Fremden umgehen sollte, hatte sie gegen ihre Begleitung nichts einzuwenden. Möglicherweise gelang es ihr so, mehr darüber herauszufinden, was Rufus und Cyria waren. Mehr über sein Leben nach ihrem Verschwinden zu erfahren, ohne ihn direkt zu löchern.

„Klar", sie nickte in Richtung der Ausfahrt, während sie die Hände tiefer in ihre Jackentaschen schob. Die hochgezogenen Schultern begannen vor Anspannung hart zu werden. Deshalb setzte sie sich langsam in Bewegung, in der Hoffnung, die Spannung damit aus ihrem Körper vertreiben zu können. Aus dem Augenwinkel sah sie ein kleines Lächeln auf Cyrias Lippen aufblitzen, bevor sie zu ihr aufschloss.

„Was ist eigentlich dieses Watson's, das Rufus vorgeschlagen hat? Oder eher wo ist es?", stellte sie die Frage laut, die ihr auf der Zunge brannte, seit der Name zum ersten Mal gefallen war. Obwohl es sie zwang zuzugeben, wie wenig sie über ihre Heimatstadt wusste, war es ihre beste Möglichkeit sie zu fragen. Natürlich könnte sie auch im Internet suchen, aber eine Einheimische zu fragen, erschien ihr schlauer. Wenn sich die Chance schon bot, würde Ava sie nicht ausschlagen.

„Ein relativ neues Café in der Stadt. Vor ein paar Monaten wurde, glaube ich, das erste Jubiläum gefeiert. Im Sommer. Es war ein richtiges Event in der Stadt", begann sie zu erzählen, ohne ein Anzeichen von Verwunderung über die Frage zu zeigen: "Es ist schön dort. Super Kaffee. Seit es eröffnet wurde, ist es ein echter Kundenmagnet. Wir gehen zum Lernen oft dahin, wenn wir es zu Hause nicht mehr aushalten."

Da war es wieder. Dieses wird, dass Ava diesen verhassten Stich in der Herzgegend versetzte. Langsam nickte sie, während sich die Finger in ihren Jackentaschen verkrampften.

„Du gehst einfach die Hauptstraße runter", Cyria hob einen Arm und deutete in die Richtung, aus der Ava zuvor auf den Supermarkt zugegangen war: "Das Café ist in der Nähe vom Rathaus. Es ist kaum zu übersehen. Auf dem Bürgersteig stehen Tische mit bunten Schirmen und die Mitarbeiter laufen in dunkelgrünen Schürzen herum. Die meisten, die dort kellnern, sind Leute, die sich im Studium was dazuverdienen wollen. Eigentlich kannst du es kaum übersehen."

„Das klingt, als könnte man es gar nicht übersehen", schloss Ava aus ihren Worten, während sich ein Bild des Cafés vor ihrem inneren Auge bildete: "Danke."
Sie setzte ein Lächeln auf, während sie die Träger ihrer Tasche auf ihren Schultern wieder ein Stück hinauf schob.
„Gerne", Cyria hielt den Blick fest auf ihre Begleitung gerichtet, als wartete sie darauf, dass irgendetwas passierte.

Als sie zustimmte, hatte sich Ava fest vorgenommen, die Chance zu nutzen, um mehr über Rufus' und Cyrias Beziehung vorzunehmen. Nun, da sie die Möglichkeit hatte, schienen sich ihre Gedanken jedoch ineinander zu verfangen. Es gelang ihr nicht, die richtigen Worte zu finden. Deshalb schwieg sie, um nicht zu riskieren, Cyria von Anfang an zu verschrecken.

Letztendlich war es Cyria, die die drückende Stille brach, als die Stadthäuser vor ihnen näher kamen.
„Weißt du, schon bevor er erfahren hat, dass du herkommen würdest, hat Rufus oft von dir gesprochen", setzte sie an: "In seinen Erzählungen wirktest du ganz anders, als ..."
Sie unterbrach sich selbst, doch Ava wusste, was sie sagen wollte.

„Ich schätze, ich bin nicht mehr das Mädchen, das er einmal kannte", die Worte kamen über ihre Lippen, bevor sie sich zurückhalten konnte. Doch obwohl sie nicht geplant hatte, das einer fast Fremden gegenüber zuzugeben, konnte sie die Wahrheit darin nicht leugnen. Ein unangenehmes Gefühl machte sich in ihrer Magengrube breit. Schnell fuhr sie fort: "Tut mir leid. Normalerweise ist es leichter, sich mit mir zu unterhalten. Es ist nur ungewohnt, wieder hier zu sein."

„Schon gut. Ich verstehe schon", das Lächeln, das sich auf ihren Lippen formte, reichte bis in ihre Augen: "Hat sich seit dem letzten Mal viel geändert?"
„Alles. Darauf war ich nicht vorbereitet", erwiderte Ava, keinen Grund darin sehend, das nun noch weiter zu verheimlichen. So wie es schien, war Cyria sowieso bereits aufgefallen, dass irgendwas nicht stimmte.
„Es war naiv zu hoffen, dass zumindest mit Rufus alles genauso sein würde, wie früher", ein gequälter Ausdruck huschte über ihr Gesicht.

Abrupt kam Cyria zum Stehen und schob sich Ava in den Weg. Auf ihrem Gesicht hatte sich ein entschlossener Ausdruck breitgemacht: "Wenn das naiv ist, seid ihr wohl beide naiv. Rufus und du."
Avas Augenbrauen huschten in die Höhe, während sie ebenfalls stehen blieb: "Was meinst du?"
„Seit er erfahren hat, dass du herkommst, hat er ununterbrochen davon gesprochen", sie warf die Hände in die Luft: "Genauso wie, also du damals gehen musstest. In den ersten Monaten war es unmöglich, mit ihm über irgendwas anderes zu sprechen, als dich. Mittlerweile sind seitdem sechs Jahre vergangen und trotzdem hat er die ganze letzte Woche ständig seine Nachrichten gecheckt, um nicht zu verpassen, falls du ihm schreibst. Er war fest entschlossen, dich abzuholen, sobald du einen Fuß in den Bundesstaat setzt."

Und sie hatte ihm nicht geschrieben. Nicht einmal daran gedacht. So gefangen war sie in ihrem Tunnelblick. Schuldgefühle zerrten an den Saiten ihres Herzens, um darauf ihr grausames Trauerlied zu spielen.

„Erwarte nicht, dass alles wird, wie es einmal war. Vermutlich wird es nie wieder genauso", Cyria machte einen Schritt auf sie zu: "Trotzdem kann ich dich nur bitten ihm trotzdem eine Chance zu geben. Er ist nicht mehr genauso wie früher und soweit ich es beurteilen kann, scheint es bei dir genauso zu sein. Das heißt aber nicht, dass ihr keine Freunde mehr sein könnt. Nur dass sich eure Freundschaft an manchen Stellen ebenfalls anpassen muss."

Ihre Worte durchströmten Avas Körper wie eisige Wellen. Ein Weckruf, der sie aus der Dunkelheit riss, als würde ein Teil von ihr aus einem tiefen Schlaf aufschrecken. Cyria hatte recht. Gegenüber sich selbst hatte sie es nie auf diese Weise zugegeben, doch sie hatte sich veränderte. Als sie ihre Mutter dort auf dem Teppich liegen sah, war ein Teil von ihr zerbrochen. Seitdem war nichts mehr gleich gewesen.

„Wenn eure Freundschaft damals stark genug war, wird sie es jetzt auch sein", Cyrias Blick war ernst geworden: "Verletz ihn nur einfach nicht, okay?"
„Werde ich nicht. Versprochen", erwiderte Ava und meinte es.

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Wenn ich ehrlich bin, gefällt mir dieses Kapitel gar nicht. Leider fühlt es sich wirklich awkward an und ich bin unzufrieden mit der Darstellung aller Charaktere in dem Kapitel. Leider habe ich aufgrund von Mental Health Problemen allerdings derzeit nicht die Energie das Kapitel nochmal neu zu schreiben und habe Angst, dass ich in einen Writing Slump komme und nicht weiter schreibe, wenn ich mit diesem Kapitel nochmal neu beginnen müsste. Deshalb lasse ich es erstmal so, schreibe die Story von hier weiter und überarbeite das Kapitel als erstes, sobald ich mit dem Buch fertig bin. Ich hoffe das ist für euch in Ordnung. 

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