Kapitel 5

Ein kalter Schauder überkam sie, als Ava aus der Drogerie in die kalte Morgenluft hinaustrat. Sie zog den Schal enger um ihren Hals, während sie ein paar Schritte ging. Pikes Worte schallten in ihrem Kopf wieder. Anne war weg. Tod. Ihr schwirrte der Kopf.

Die Anne, die er beschrieben hatte, wollte sich einfach nicht mit ihrem eigenen Bild der alten Freundin vermengen. In Avas Erinnerungen war sie noch immer die gutherzige Frau, die allen nur das Beste wollte. Wie sich ihre ganze Natur abrupt hatte ändern können, konnte sie sich nicht erklären. Selbst Pike schien es nicht vollständig zu verstehen.

Bevor sie es zurückhalten konnte, schob sich eine Erinnerung in ihre Gedanken, die ihr Herz sinken ließ.

_____

Avas Herz wummerte schmerzhaft in ihrer Brust, während sie sich gegen die Badezimmertür stemmte. Ihre Kiefer malten, während sich ihr Blick auf Adelaide heftete.

Ihr Gegenüber war ein Häufchen Elend. Die Brünette war auf den hellen Badezimmerfliesen in sich zusammengesunken, die Beine an den Körper gezogen und die Arme darum geschlungen. Ihre Hände zitterten. Ihre Glieder schlotterten und ihr ganzer Körper schwankte. Adelaides Augen durchbohrten das weiße Stäbchen, das zwischen beiden Mädchen auf dem Waschbeckenrand lag.

Die Minuten schlichen dahin. Avas Blick huschte zu dem Timer, auf dem die Sekunden in Zeitlupe verstrichen. Noch zwei Minuten. Ihre Lungen schnürten sich bei dem Gedanken an das mögliche Ergebnis bereits zusammen. Sie mochte sich kaum vorstellen, wie es Adelaide dabei gehen mochte.

„Noch zwei Minuten", murmelte sie und sah zurück zu Adelaide. Ihre Finger trommelten gegen ihre Oberschenkel, während sie überlegte, was sie sagen sollte. Dass sie einmal gemeinsam in dieser Situation stecken würden, hatte sie nicht gedacht, als sie vor nicht einmal zwei Monaten bei ihrem Onkel eingezogen war.

Sie schluckte schwer. Dass sich Adelaide an sie gewendet hatte, war erschreckend. Ein bitterer Geschmack machte sich in ihrem Mund breit. Seit Ava eingezogen war, waren sie einfach nicht miteinander klargekommen. Ganz im Gegenteil. Demnach musste Adelaide das Gefühl haben, sich an niemand anderen wenden zu können.

Trotz der Differenzen beider Cousinen hatte Ava nicht lange überlegt, als Adelaide sie mit ernstem Blick am Arm gepackt und sie flüsternd mit sich ins Bad gezogen hatte. Kaum hatte ihre Cousine ihr jedoch eröffnet, worum es ging, war ihr beinahe das Herz stehen geblieben.

„Glaubst du mir nicht?", Adelaides Stimme schwankte. Der Ausdruck in ihren Augen, als sie zu Ava aufblickte, verursachte tiefe Risse in ihrem Herzen. Dass sie das selbstbewusste Mädchen einmal so sehen würde, war ihr nie in den Sinn gekommen. Als würde sie jeden Moment vor Avas Augen in Scherben zerbrechen.
„Natürlich glaube ich dir", erwiderte sie ohne zu überlegen. Es war die Hoffnung darauf, dass etwas falsch gelaufen und sie sich vollkommen umsonst sorgten.
„Manchmal sind die Dinger nur falsch", setzte sie hinterher, um sicherzugehen, dass Adelaide sie nicht falsch verstand.

Adelaide schwieg. Ihre Augen hatten sich auf ihre Finger gerichtet, mit denen sie auf ihren Knien herum trommelte. Offensichtlich schien sie Avas Zweifel nicht zuteilen. Als wäre jeder Funke Hoffnung in ihr erstickt.

Unsicher, was sie sagen sollte, blickte Ava sie einen Moment länger an. Dann löste sie ihren Blick und richtete ihn stattdessen auf den Wecker, der die letzten Sekunden verstreichen ließ. Als der schrille Alarm erklang, zuckte sie trotzdem zusammen. Instinktiv stürzte sie nach vorne, das Herz beinahe schmerzhaft gegen ihre Brust schlagend. Mit einer schnellen Bewegung ließ sie das alarmierende Geräusch verstummen.

Wie angewurzelt stand sie vor dem Waschbecken, nicht in der Lage den Blick auf den Test zu senken. Das hier war er. Der Moment der Wahrheit! Obwohl sie sich das Ergebnis anhand von Adelaides Reaktion bereits vermuten konnte, wäre es mit dem Testergebnis Realität.

Letztendlich überwand sie sich und senkte die Augen auf den weißen Plastiktest. Zwei dicke, rote Striche. Unübersehbar. Unauslöschlich.

Ein dicker Kloß bildete sich in ihrer Kehle. In ihrem Kopf schien sich alles zu drehen. Mit einer Hand stützte sie sich am Waschbecken ab, nicht in der Lage den Blick zu lösen. Ihre Glieder waren wie Gummi und drohten unter ihrem Körper nachzugeben.

„Und?", Adelaides Stimme war ein Flüstern, als sie die Stille brach. Ava hob langsam den Kopf. Sie kaute auf ihrer Unterlippe, auf der Suche nach den richtigen Worten. Dabei wusste Adelaide es doch bereits. Länger als sie. Im Gegensatz zu Ava hatte sie nicht einmal mehr gezweifelt. Welchen Sinn hatte es also zu versuchen, die Wahrheit zu verschleiern?
„Schwanger", sagte sie deshalb einfach gerade heraus, doch ihre Stimme schwankte.

Adelaide entwich ein verzweifelter Laut, als sich ihre Finger verkrampften. Der Kopf fiel ihr in den Nacken und sie lehnte den Schädel gegen die geflieste Wand hinter ihr. Den Blick richtete sie auf die weiße Zimmerdecke. Im Licht der Badezimmerlampe glitzerten kleine Tränen auf, die sich in ihren Augen bildeten. Die Lippen, die sie zu einer schmalen Linie zusammengepresst hatte, zitterten.

Ava löste sich vom Becken, den Test immer noch in der Hand und ließ sich neben Adelaide auf den Boden sinken. Sie zog die Beine an die Brust, um die Position ihrer Cousine zu spiegeln.
„Was hast du jetzt vor?", fragte sie, den Kopf zu ihr wendend. Nicht umsonst hatte Adelaide sie um Hilfe gebeten. Das Ergebnis hatte sie schließlich selbst bereits gekannt. Es musste mehr geben, dass Adelaide ihr zu sagen hatte.

„Trevor meinte ...", begann Adelaide, doch Ava schnitt ihr das Wort ab.
„Es ist egal, was Trevor meint", sein Name war wie Gift in ihrem Mund. Adelaide erzählte ihr nicht viel, doch dass Trevor ein Idiot war, hatte Ava auch so mitbekommen.
„Es geht hierbei nur um dich", setzte sie nach, um nicht zu harsch zu klinge: "Das sind dein Körper und dein Leben. Die Einzige, die dabei was zu sagen hat, bist du."
„Ich weiß", murmelte Adelaide und erwiderte ihren Blick: "Als ich mit ihm darüber sprechen wollte, hat er behauptet, ich würde lügen, weil er niemals mit jemandem wie mir schlafen würde."

Wut toste in Ava wie ein Tsunami. Ihre Finger verkrampften sich. Sie kämpfte darum, einen aufgebrachten Aufschrei zurückzuhalten. Stattdessen streckte sie ihre Hand aus und griff nach Adelaides, die sich in ihre Knie krallte. Vorsichtig löste Ava die Finger der Reihe nach und schob ihre Hand unter die ihrer Cousine, bevor sie ihre Finger miteinander verschränkten.

„Trevor ist ein Idiot", sie versuchte ruhig zu klingen, doch ihre Stimme schwankte vor Wut. Es kostete sie all ihre Kraft, sich zusammenzureißen. Von Anfang an hatte sie diese Meinung über ihn gehabt. Aufgrund der Differenzen zwischen Adelaide und ihr hatte sie jedoch nichts dergleichen ausgesprochen. Rückblickend wünschte sie, sie hätte es getan.

„Ava?", Adelaide blickte sie aus großen, dunklen Augen an.
„Ja?", erwiderte sie, den Blickkontakt nicht brechend.
„Ich kann das nicht", haucht sie kaum hörbar.

Ava wusste genau, was sie meinte. Ihr Herz schlug schneller. Um sicherzugehen, dass Adelaide das Gleiche meinte, woran sie dachte, hakte sie erneut nach: "Bist du sicher?"
„Ja, ich bin mir sicher", die Brünette nickte heftig mit dem Kopf, als wollte sie ihrer Aussage damit mehr Gewicht verleihen: "Ich bin fünfzehn, Ava. Ich kann das nicht. Ich will keine Mutter sein. Nicht jetzt und auch sonst nie."

„Wie lange weißt du schon davon?", hakte sie nach und legte den Test, den sie die ganze Zeit in der linken Hand gehalten hatte, vor ihnen beiden ab.
„Erst ein paar Tage", versicherte Adelaide. Ihr Blick huschte über das dünne Stäbchen vor ihren Füßen. Instinktiv drückte Ava ihre Hand leicht: "Warst du schon beim Arzt?"

„Natürlich nicht", sie schüttelte rasch den Kopf, sodass ihr das braune Haar ins Gesicht fiel.
„Du musst dich aber unbedingt von einem Arzt untersuchen lassen", beharrte Ava mit festem Blick. Sie konnte sich vorstellen, wie schwer es Adelaide fallen musste. Trotzdem war es notwendig.
„Aber wenn ich es sowieso nicht behalten möchte?", Adelaide warf ihr einen fragenden Blick zu.
„Auch dann nicht", erwiderte sie beharrlich: "Es ist wichtig, dass sich ein Arzt das anschaut. Ohne geht es nicht, Adelaide."

Adelaides Griff um Avas Hand verhärtete sich und Ava fürchtete beinahe, sie würde ihr die Finger zerdrücken. Ihr Körper sank gegen Ava und sie legte den Kopf auf ihrer Schulter ab.
„Kommst du denn mit?", ihre Stimme war ein Flüstern, als würde es ihr schwerfallen, die Worte herauszubringen.
„Natürlich", das Wort verließ ihren Mund ohne Andeutung eines Zögerns: "Ich bin an deiner Seite. Solange du es willst."

„Und was, wenn ich beim Arzt war? Was machen wir dann?", sie klang müde, als würde ihr das Thema jede Kraft rauben: "Mom und Dad dürfen das nicht erfahren."
Avas Kiefer malten. Die Frage stellte auch sie sich. Adelaides Entscheidung war klar. Doch war es klug, Megan und Conrad im Dunkeln zu lassen? Beratung vom Arzt war zwar bereits ein Anfang, doch konnten sie das tatsächlich alleine schaffen?

„Der Arzt kann dich über die beste Methode aufklären", brachte sie heraus: "Die Frage ist nur, was wir machen, wenn wir die Zustimmung eines Erwachsenen brauchen."
Sie schluckte schwer. Das war tatsächlich ein Problem. Fieberhaft suchte sie nach einer Lösung.

„Ich kenne jemanden, der uns helfen könnte", sie zog ihr Smartphone aus der Hosentasche. Ihre Finger zitterten, als sie das Display entsperrte. Doch bevor sie den Kontakt in ihrer Anrufliste ausfindig machen konnte, den sie suchte, packte Adelaide ihre Hand: "Warte!"
„Was ist?", überrascht blickte sie Adelaide an. Ihr Herz schien einen Schlag auszusetzen.
„Wer ist es? Das dürfen Mom und Dad nicht erfahren", betonte sie ein weiteres Mal.

Ava schüttelte fest den Kopf. Mit so fester Stimme wie möglich versicherte sie ihr: "Sie ist vertrauenswürdig. Glaub mir. Megan und Conrad erfahren nichts."
Einige Sekunden lang starrten sich die beiden Mädchen an, als würden sie in den Augen der jeweils anderen nach Antworten suchen. Adelaides Finger lockerten sich erst kaum merklich, bevor sie Avas Handgelenk langsam losließ. Obwohl sie nichts sagte, wertete Ava das als Zustimmung.

Sie wählte den Kontakt aus und lauschte dem Tuten des Telefons. Mit den Fingern trommelte sie auf ihrem Kinn herum, in einem Versuch ihre Gedanken zu ordnen. Das Herz schlug ihr bis zum Hals.

Die Sekunden verstrichen gähnend langsam bis jemand am anderen Ende der Leitung abnahm.
„Dawson", eine weibliche Stimme drang heraus, warm wie eine seichte Sommerbrise. So vertraut und gleichzeitig so fremd. Wie aus weiter Ferne drangen sie an Avas Ohren. Die Blondine richtete sich im Sitzen auf, als würde sie sich wappnen. Leise räusperte sie sich.
„Anne?", ihre Stimme war brüchig, kaum in der Lage, die Worte herauszubringen: "Ich bin's Ava. Die Tochter von ..."
„Holling und Haiden Kingsley", das Lächeln, das über ihre Lippen huschte, war selbst durch den Lautsprecher hörbar. Erinnerungen aus der Heimat blitzten vor ihrem inneren Auge auf und durchbohrten ihr Herz wie ein eiskalter Dolch.

„Natürlich erinnere ich mich an dich, Ava", eine Unbeschwertheit schwang in ihrer Stimme mit, die Ava das Herz in die Hose rutschen ließ. In ihrer Kehle bildete sich ein schmerzhafter Kloß, den sie nicht hinunterschluckten konnte, während sich ihre Lungen zusammenschnüren zu schienen. Kleine Tränen bildeten sich in ihren Augenrändern, schimmernd wie Perlen im kühlen Badezimmerlicht. Ihre Sicht verschwamm leicht, während sie damit kämpfte, die Worte herauszubringen, die ihr auf der Zunge lagen.

„Wie ist es bei deinem Onkel?", setzte Anne hinterher, als würde sie die Stille am anderen Ende der Leitung bemerken. Die Worte klangen dumpf in Avas Ohren, unmöglich sich so ihre Aufmerksamkeit zu verschaffen. Stattdessen ging die Frage regelrecht an ihr vorbei. 
„Ich brauche deine Hilfe", es sprudelte aus ihr heraus, um nicht doch noch einen Weg zu finden, einen Rückzieher zu machen. Das konnte sie nicht, wenn es hierbei nicht bloß um sie ging.

Ihr Blick fiel auf Adelaide, die neben ihr zusammengekauert hockte. Die Beine enger an den Körper gezogen. Mit den Augen folgte sich jeder von Avas Bewegungen aufmerksam.

„Wir brauchen deine Hilfe", korrigierte sie sich: "Und du darfst es keinem sagen."
In einem kläglichen Versuch, sich zusammenzureißen, nahm sie einen tiefen Atemzug. Anne war ihre einzige Idee zur Lösung des Problems. Der Gedanke lastete auf ihren Schultern schwer wie ein Gewicht, das sie immer weiter in die Knie zwang.

Annes Stimme zu hören, war paradox. Im einen Moment schien sie ihre Seele mit Sonnenlicht zu überfluten, bevor sie in der nächsten Sekunde einen unzähmbaren Sturm heraufbeschwor. Ein Wirbelsturm alter Gefühle und Erinnerungen, der sie von dem Wesentlichen wegzureißen drohte. Ihre Finger schlossen sich fester um ihr Knie, sodass sie ihre Nägel beinahe durch den dünnen Stoff ihrer Jeans spürte. Bleib bei der Sache!

„Ich brauche deine Hilfe", ihre Stimme zitterte kraftlos, während sie die Tränen mit aller Kraft wegzublinzeln versuchte. Doch es half nichts. Ihre Sicht wurde von dichten Tränenschleiern getrübt. Aus ihrer Kehle klang ein leises Schluchzen.
"Wirklich dringend."
„Ava, du musst atmen", Annes Stimme war klar und ruhig und umhüllte Ava wie eine warme Wolke: "Ich bin bei dir. Alles wird gut. Alles wird gut."

„Was ist passiert?", fragte Anne, als keine Antwort von Ava kam: "Ava, rede mit mir. Bitte."
„Du musst versprechen, dass du es niemanden erzählst", sie schloss die Augen, sich wappnend, um alles preiszugeben. Alles in Annes Hände zu legen und zu riskieren, dass sie damit Adelaides frisches, zerbrechliches Vertrauen zerschmetterte.

Doch das war Anne. Die, der ihre Eltern vertraut hatten. Irgendetwas sagte ihr, dass Anne sie nicht im Stich lassen würde.

_____

Ava schlang die Arme fest um ihren Körper, als würde sie sich damit selbst Halt geben können. Ihre Augen huschten erneut über kleine Drogerie. Gab es einen Ort in dieser Stadt, der ihr Herz nicht in tausend Teile zerbrach? Ihre Kehle war staubtrocken. Als sie scharf die Luft einsog, schmerzte die Kälte in ihren Lungen. Daran würde sie sich nie gewöhnen.

Sie schob die Hände tiefer in ihre Jackentaschen und brachte sie letztendlich dazu, sich von der Stelle zu lösen, wo sie Wurzeln zu schlagen begonnen hatte. Ihre Schultern wanderten in die Höhe, während sie sich ihre Muskeln verkrampften.
Konzentrier dich!
Sie versuchte sich in Gedanken zu rufen, wieso sie hierhergekommen war. Zuerst wollte sie zur Drogerie. Doch wohin danach?

Während sie den Bürgersteig überquerte, fuhr sie mit der Hand in ihre Tasche und zog die Kopfschmerztabletten hervor. Ohne es richtig zu registrieren, öffnete sie die Packung, zog einen Blister heraus und drückte eine der weißen, rundlichen Tabletten hinaus. In der Hoffnung, damit wieder klar denken zu können, schob sie sich das Medikament in den Mund und schluckte es mit Mühe hinunter.

Sie war nicht einmal einen ganzen Tag in der Stadt und hatte ihren Schwur, das Ganze nicht an sich herauszulassen, bereits mehrfach gebrochen. Als wäre sich selbst zu belügen ihr einziger Ausweg. Wenn sie sich erlaubte, sich von den Emotionen zu Boden ringen zu lassen, was auf ihren Schultern lasteten, wusste sie nicht, ob sie es zurück auf die Beine schaffte.

Sie ließ die Tabletten wieder in ihrer Tasche verschwinden. Ihre Finger fanden ihren Flechtzopf und spielten mit den unten hinaus hängenden Strähnen. Ihre Gedanken wanderten zurück zum heutigen Morgen, in einem Versuch, sich an ihre ursprünglichen Pläne zu erinnern.

Dann fiel es ihr wieder ein. Sie wollte einkaufen. Obwohl ihr für gewöhnlich nie danach war, kam es ihr heute wie ein guter Plan vor. Beim Einkaufen standen die Chancen gut, dass sie keinen Auslöser für einen neuen Schwall des Schmerzes fand.

Einige Minuten überließ sie ihren Füßen die Kontrolle und ließ sich vom kalten Wind Alaska fortwehen. Erst als vor ihren Augen ein langgezogenes Gebäude auftauchte, gelang es Ava ihre Aufmerksamkeit auf ihre Umgebung zu richten. Es konnte nur wenige Minuten sein, seit sie den Stadtkern verlassen hatte, doch hier reiten sich die Häuser nicht mehr so eng aneinander, als würden sie sich gegenseitig vor der Kälte zu wärmen versuchen.

Als sie näher kam, erkannte sie ein großes, hölzernes Schild, auf das mit weißer Farbe in geraden Lettern der Name ‚Town Market' geschrieben stand. Ihr Herz machte einen lächerlichen Satz. Wenigstens hatte sie sich nicht verlaufen. Ihr Schritt beschleunigte sich, als sie den schwarzen Zaun umrundete, der den Parkplatz des Supermarktes umgab. Dort standen nur einige wenige Autos geparkt. Ansonsten war weit und breit niemand zu sehen. Ein Muster, das sich durch die ganze Stadt zog.

Während sie auf den Laden zulief, wanderte ihr Blick über den Laden. Sie erinnerte sich. Früher war sie hin und wieder mit ihren Eltern zum Einkaufen hier gewesen. Damals hatte es nur wenige Einkaufsmöglichkeiten in dieser Art gegeben. Der ‚Town Market' war der Größte dieser Art. Ava konnte sich also glücklich erklären, so schnell darauf gestoßen zu sein.

Eine der drei Mülltonnen, die gegen den schwarzen Zaun gelehnt da standen, war umgekippt. Der Deckel hatte sich ein Stück geöffnet und ein paar Plastiktüten lugten hinaus. Ein braunes Eichhörnchen huschte zwischen den Tonnen hinterher zu einer merkwürdig kleinen Zitterpappel, deren Blätter zu dieser Jahreszeit an hauchdünnes Gold erinnerten. Innerhalb weniger Sekunden war das Tier zwischen den Ästen verschwunden. Das Letzte, was sie sah, war der braune, zuckende Puschelschwanz.

Ava stieg die wenigen Treppen zur hölzernen Veranda hinauf und nahm einen der Einkaufskörbe, die neben der Eingangstür aufgestapelt waren. Die Glastüren glitten mit einem Zischen auseinander. Kaum war sie hindurchgetreten, stieg ihr ein süßer Geruch in die Nase, der durch den langgezogenen Einkaufsraum waberte. Eine angenehme Wärme umgab sie und vertrieb die klirrende Kälte, die bis in ihre Knochen vorgedrungen war.

In einem Versuch, sich zu orientieren, ließ sie den Blick schweifen. Vor ihr befanden sich ein schwarzes Brett mit unterschiedlichen Aushängen, unter dem ein weiterer Körbestapel platziert war. Daneben surrte ein Kühlschrank, hinter dessen Glastür sich Softdrinks in den unnatürlichsten Farben verbargen.

Zu ihrer Rechten ging ein Gang ab, der zu den Ladenflächen führte. Langsam setzte sie sich in Bewegung. Als sie die erste Regalreihe erreichte, ließ sie den Blick über die Waren wandern. Nun, da sie im Laden stand, fiel ihr auf, dass sie sich keine Gedanken darüber gemacht hatte, was sie überhaupt kaufen wollte. Deshalb entschied sie sich zwischen den Regalen hin und herzulaufen und fürs Erste das einzupacken, was ihr hilfreich vorkam. Schließlich fehlte es ihr derzeit noch regelrecht an allem.

Nachdem sie Waschmittel, einige Packungen Toilettenpapier, mehrere Tiefkühlpizzen und etwas Obst einpackt hatte, kam sie in der Getränkesektion zum Stehen. Der Einkaufskorb baumelte schwer in ihrer rechten Hand. Ihre Augen huschten ratlos über die unterschiedlichsten Getränkemarken. Soweit sie es beurteilen konnte, stammten die meisten aus der Region. Vermutlich sagte ihr deshalb keiner dieser Namen etwas.

Mit einem leichten Seufzen streckte sie die Hand nach einer Flasche mit dunkelblauem Label aus und wollte sie zum übrigen Einkauf in den Korb legen. Kaum wollte sie nach einer Zweiten greifen, erklang urplötzlich eine weibliche Stimme hinter ihr: "Hey."

Ava fuhr mit der Flasche in der Hand herum. Ihr Blick hefteten sich auf die junge Frau, die hinter ihr zwischen den Regalen aufgetaucht war. Das lange schwarze Haar hatte sie zu einem lockeren Zopf zusammengebunden und die Hände in die Hüften gestimmt. Auf ihren Lippen zeichnete sich ein freundliches Lächeln ab.

„Hey?", ihre Augenbrauen zuckten in die Höhe, unsicher, wen sie vor sich hatte. Einige Stadtbewohner kannte sie, doch diese Frau kam ihr nicht bekannt vor. Dabei musste sie etwas im gleichen Alter wie Ava sein.

Ihr Gegenüber schien Avas Verwirrung bemerkt zu haben: "Tut mir leid, ich wollte dich nicht so überrumpeln."
Als sie nicht reagierte, machte die Unbekannte einen Schritt auf Ava zu. Sie streckte ihr eine Hand hin: "Ich bin Cyria. Bist du Ava?"
„Ja?", erwiderte sie noch immer perplex, aber wahrheitsgemäß. Sie ließ die Flasche in den Korb sinken und griff nach der Hand, die Cyria ihr hinhielt, um nicht unfreundlich zu erscheinen.

„Ich habe dich hier noch nie gesehen und er hat gesagt, dass du kommen würdest", fuhr sie mit ihrer Erklärung sprunghaft vor: "Da habe ich zwei und zwei zusammengezählt."
„Er?", obwohl das alles mehr Sinn ergab, rissen die Fragen, die ihr in den Kopf schossen, nicht ab. Wer hätte von ihrer Ankunft wissen sollen? Schließlich konnte sie sich nicht daran erinnern, jemandem davon erzählt zu haben.
„Rufus", erwiderte die Dunkelhaarige, ohne zu zögern: "Du hattest ihm doch geschrieben, dass du wieder herkommst."

Der Name tanzte zwischen ihnen in der Luft und lud die Luft elektrisch auf. Sie sog scharf die Luft ein, während sich die Lungen in ihrer Brust zusammenzogen. Der Griff um ihren Einkaufskorb lockerte sich und das Herz hämmerte in ihrer Brust.

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