Kapitel 4
Gähnend streckte sich Ava, bevor sie mit den Fingern über ihre Schläfen fuhr. Seit sie in den Flieger gestiegen war, schleppte sie diese grässlichen Kopfschmerzen mit sich herum. Selbst der Schlaf, den sie sich in der vergangenen Nacht gegönnt hatte, hatte keine Abhilfe geschaffen. Stattdessen fühlten sich ihre Knochen zusätzlich unangenehm versteift an. Dabei hatte sie überraschenderweise besser geschlafen, als erwartet. Andererseits hatte sie die Erwartungen an ihre erste Nacht an diesem Ort absichtlich gering gehalten.
Ihre rechte Hand fand das Treppengeländer, bevor sie langsam eine Stufe nach der anderen nahm. Es war so früh, dass sie ihren eigenen Sinnen trotz der morgendlichen Erfrischungsdusche noch nicht traute. Glücklicherweise hatte Conrad versprochen alles, was Strom und Wasser betraf, für sie zu regeln, bevor sie hierherkam. Offensichtlich waren seine Bemühungen erfolgreich gewesen.
Als sie das Ende erreichte, brauchte sie einen Moment, um sich zu orientieren. Dann wandte sie sich nach rechts, in der Hoffnung so in die Küche zu gelangen. Dass sie sich die Wege nicht mehr im Schlaf fand, war irgendwie beschämend und sie war froh, dass sie niemand beobachtete.
Geradewegs trat sie durch das Wohnzimmer, in das sie seit ihrem Eintreffen und dem Zusammenbruch auf dem Teppich keinen Fuß mehr gesetzt hatte. Ihre Kehle verengte sich schmerzhaft, während als sie die Erinnerungen einholten. Gestern war es ihr gerade so gelungen, sich nach einer Ewigkeit vom Boden zu erheben, bevor sie ihre Sachen hoch in ihr altes Kinderzimmer gebracht hatte und dort einfach nur ins Bett gefallen war. Etwas anderes hätte sie nicht ausgehalten.
Doch als sie so auf dem Boden gehockt hatte, hatte sie eines realisiert. Sie durfte nicht zulassen, dass die Erinnerungen sie auf diese Weise übermannten und ihr die Kontrolle über sich selbst raubten. Ansonsten würde jede Sekunde ihres Aufenthalts zur puren, emotionalen Hölle mutieren und sie bis zur Heimatfahrt in ein heulendes Wrack verwandeln. Das hatte sie die letzten sechs Jahre vermieten und war nicht bereit sich kampflos den Emotionen zu ergeben. Alles, was sie brauchte, war die Beherrschung, in der sie sich, seit sie fünfzehn war, so gekonnt übte. Einen kühlen Kopf zu bewahren, war ihr wichtigstes Werkzeug bei ihrem Vorhaben. Gerade stand es darum jedoch in Anbetracht ihrer Kopfschmerzen nicht sonderlich gut.
Sie bewegte sich durchs Wohnzimmer auf die offene Küchenecke zu. Vor der Kücheninsel kam sie zögerlich zum Stehen und beugte die Barhocker, die davor platziert waren, kritisch. Früher hatte sie hier jeden Morgen gefrühstückt. Mittlerweile erweckten die schmalen, wackeligen Stuhlbeine jedoch kein großes Vertrauen in ihr. Letztendlich ließ sie sich aber doch darauf sinken. Als sie ihr Gesäß auf der Sitzfläche platzierte, knarrte es gefährlich. Instinktiv stellte sie die Zehenspitzen auf dem Boden ab, als könnte sie sich damit im Falle eines Zusammenbrechens retten. Dabei standen ihre Chancen darauf realistisch gesehen schlecht.
Ihr Blick fiel auf den Kühlschrank gegenüber von ihr. Sie musste nicht hineinsehen, um zu wissen, dass darin kein annehmbares Frühstück auf sie wartete. Ganz im Gegenteil. Es graute ihr regelrecht vor dem, was sie vorfinden könnte, wenn sie die Kühlschranktür öffnete. Deshalb entschied sie kurzerhand, das auf einen späteren Zeitpunkt zu vertagen. Stattdessen würde sie einkaufen gehen müssen, den sie bezweifelte stark, dass es in Spring Haven einen Lieferdienst gab. Und wenn, dann würde er vermutlich nicht bis zu ihrem Elternhaus liefern. Schließlich lag es knapp zehn Autominuten vom Stadtkern entfernt am Waldrand. Zumal es bisher unbewohnt gewesen war. Also blieb ihr nichts anderes übrig, als selbst in die Stadt und sich mit dem Wesentlichen einzudecken.
Nachdenklich fuhr mit dem Zeigefinger über den Ring, den sie sich an den Zeigefinger gesteckt hatte. Dessen milchig weißer Stein hatte sie fasziniert, seit sie zum ersten Mal erblickt hatte. Wenn man einen genaueren Blick riskierte, wirkte es, als würde sich im Inneren etwas regen. Wie ein Schneesturm mitten im Nebel. Manchmal wenn sie die Augen zusammen kniff, meinte sie ein sanftes lilafarbenes Licht zu erkennen, das sich nur schwach den Weg durch den Dunst bahnen konnte. Ob es tatsächlich aus dem Herzen des Steins kam oder dessen Oberfläche einfach nur auf merkwürdige Weise Lichtstrahlen brach, hatte sie jedoch nie vollkommen bestimmen können.
Während der Reise hatte sie ihn abgelegt, aus Angst, er könnte Schaden erleiden. Als sie an diesem Morgen aufgewacht war, hatte es sich jedoch nur richtig angefühlt, ihn wieder anzulegen, nachdem er einst ein Geschenk ihres Vaters an sie gewesen war. Damals hatte er ihr eingetrichtert, dass es sich dabei um ein Erbstück handelte, das seit Generationen in der Familie weitergegeben wurde und seither als Glücksbringer für ihre Ahnen gedient hatte. Doch obwohl er ihr in ihrem bisherigen Leben kaum Glück gebracht hatte, brachte sie es nicht übers Herz, sich ihm zu entledigen. Er war eines der wenigen Überbleibsel ihrer Eltern, von dem sie sich nicht einfach trennen konnte. Nur wenn sie Angst haben musste, das Schmuckstück zu beschädigen, legte sie ihn ab, ließ ihn aber nie lange von ihrem Finger.
Mit dem Zeigefinger fuhr sie über die tiefen Furchen, die sich auf ihrer Stirn gebildet hatten, als könnte das ihre Kopfschmerzen linden. Wenn sie sowieso in die Stadt fuhr, konnte sie genauso gut Tabletten besorgen gehen. Freiwillig schlug sie sich keine Sekunde länger mit diesen Kopfschmerzen herum. Zumal die städtische Drogerie eines der wenigen Geschäfte war, an das sie sich lebhaft erinnerte. Doch wie sollte man einen Menschen wie Anne Dawson auch vergessen.
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Holprig brachte Ava den Leihwagen auf einem kleinen Parkplatz zum Stehen. Langsam entspannte sie sich, froh, endlich aussteigen zu können. Nie würde sie sich daran gewöhnen, alleine zu fahren. Vor allem an keinen fremden Orten.
Mit einem Klicken befreite sie sich von ihrem Anschnaller und ließ den Gurt mit einem Zischen blitzschnell in seine Halterung schnappen. Sie nahm den Schlüssel aus dem Zündschloss und ließ ihn in der rechten Jackentasche verschwinden. Augenblicklich verstummte das Radio, in dem der Wetteransager erneut fallende Temperaturen vorhersagte.
Mit einer Hand zog sie den Reißverschluss bis zum Kinn zu, um sich vor der vorherrschenden Kälte zu schützen. Irgendetwas musste sie von dem gestrigen Tag schließlich mitgenommen haben. Selbst wenn es nur die Erkenntnis war, dass sie sich später hassen würde, wenn sie sich nicht warm genug anzog.
Also hatte sie einen Strickpulli aus ihrer Reisetasche gekramt. Zum größten Teil war er schlicht weiß. Nach oben hin wurde das schlichte Weiß von einem grau - schwarzen Muster abgelöst, das zuerst vereinzelt an ihren Schultern auftauchte und sich von dort bis zu ihrem Hals hinauf rankte. Dabei wurde es immer dichter, je weiter es hinauf wanderte. Das blonde Haar hatte sie zu einem unaufwändigen Flechtzopf gebunden und ihre Füße steckten in Adelaides Stiefeln, die ihr überraschenderweise besser passten, als erwartet. Einen Zipfel des grauen Schals, den sie um den Hals trug, hatte sie vorne in ihre Jacke geschoben. Auf die Mütze hatte sie verzichtet.
Bevor sie ausstieg, nahm sie ihren Rucksack vom Sitz und ließ sie Autotür dann zufallen. Auf der Fahrt war sie in Gedanken durchgegangen, was sie im Supermarkt holen musste, falls es ihr gelang einen ausfindig zu machen.
Langsam schlenderte sie über den Parkplatz und ließ den Blick auf der Suche nach etwas Bekanntem schweifen. Die Straßen waren von kleinen Stadthäusern aus rotem oder braunem Backstein gesäumt. Dazwischen drückten sich Läden mit schlichten Holzfassaden. Verschiedenste Schilder an den Fronten und dunkle, auf der Straße aufgestellte Tafel deuteten darauf hin, was dort verkauft wurde.
Der dicke Nebel des vergangenen Tages war verflogen. Sanfte Sonnenstrahlen kämpften sich ihren Weg durch die beinahe undurchdringbaren Wolken, die den Himmel in ein bleiches Weiß tauchten. Doch der Sonne fehlte die Kraft, um Avas Wangen zu wärmen und die Kälte zu vertreiben.
Einige Minuten lang schlenderte sie über den Bürgersteig der Hauptstraße. Obwohl sie früher hier gelebt hatte, wirkte ihr dieser Ort schrecklich fremd. Als wäre alles ausradiert, das einmal ihr Zuhause ausgemacht hatte, und das Einzige, was übrig blieb, war eine verblasste Version.
Als das Ende der Hauptstraße in Sicht kam, verlangsamte sich ihr Schritt. Irgendwo hier musste Annes Drogerie sein. Sie ließ den Blick über die Gebäude schweifen. Ihre Kiefer mahlten, während sie sich fieberhaft zu erinnern versuchte. Früher hatte sie Anne oft in ihrem Laden besucht.
Auf ihr Gefühl vertrauend, machte sie ein paar weitere Schritte, bevor sie instinktiv um eine Ecke bog. Dahinter kam zwischen den Häusern ein kleines Gebäude in Sicht, das zwischen den Lokalen auf der Hauptstraße regelrecht unterging. Die Fassade bestand beinahe vollständig auf breiten Fenstern, durch die man in den Laden hineinsehen konnte. Als sie näher kam, illuminierte das rote Licht des Neonschilds mit der Aufschrift ‚Drogerie' über dem Eingang auf ihrem Gesicht. An der Tür entdeckte sie ein Holzschild, auf dem in weißer Schrift darauf hingewiesen wurde, dass geöffnet war.
Sie drückte die Klinke hinunter und schob die Tür auf. Als sie einen Fuß hineinsetzte, erklang das leise Bimmeln der Glocke über ihrem Kopf. Avas Blick wanderte über den Laden, der sich vor ihr auftat. Die Wände waren von hölzernen Regalen gesäumt, auf denen alle möglichen Fläschchen und Tinkturen präsentiert wurden. Sie umrundete die herumstehenden Regale und blieb vor der Theke stehen.
Dahinter war niemand zu erkennen. Und auch sonst war von der Besitzerin keine Spur. Ava trat vom einen Fuß zum anderen und warf einen Blick zur Tür, um sich zu vergewissern, dass sie sich nicht verlesen hatte. Doch der Fehler lag nicht bei ihr. Das Schild an der Tür teilte noch immer mit, dass geöffnet war. Sie trommelte mit den Fingern auf dem harten Holz der dunklen Theke herum. Die Uhr tickte im Hintergrund leise vor sich hin.
Erneut wanderte ihr Blick herum und blieb an einem Flur neben der Theke stehen, der in einen hinteren Teil des Ladens zu führen schien. Sie reckte den Hals, um einen Blick hineinzuwerfen und dort möglicherweise Anne zu entdecken. Doch von ihrer Position aus schien es unmöglich, der Sache genauer nachzugehen.
Ava haderte mit sich. Sollte sie einfach hineingehen und nach Anne suchen? Sie würde sicher kein Problem damit haben? Sie würde Avas Gründe verstehen, wenn sie sich erklärte. Schließlich hatte sie nicht vor, irgendetwas zu stehlen. Sie wollte sich lediglich von diesen schrecklichen, pochenden Kopfschmerzen befreien.
Doch sie zögerte. Dieser Flur war offensichtlich nicht für Besucher bestimmt und Schwierigkeiten konnte sie sich nicht am ersten Tag ihres Aufenthalts in Spring Haven leisten. Zumal sie nicht garantieren konnte, dass sich Anne überhaupt an sie erinnerte. Der Gedanke war wie ein Schlag in den Magen. Es waren sechs Jahre vergangen und sie könnte es ihr nicht übel nehmen, wenn Anne sie nicht mehr erkannte. Trotzdem konnte sie nicht leugnen, dass es sie verletzen würde.
„Hallo?", rief sie stattdessen und reckte erneut den Hals. Möglicherweise reichte das aus, um herauszufinden, ob jemand hier war. Was sie tun sollte, wenn sie hier niemanden ausfindig machen konnte, wusste sie nicht. Sich weiter herumzuquälen, klang nach einem miserablen restlichen Tag, doch was sollte sie sonst tun.
Ava wartete einige Sekunden auf eine Antwort. Als nichts kam, sanken ihre Schultern. Ihre Hände fanden ihr Haar und sie schlang ihren Zopf langsam um ihren Finger, während sie überlegte. Dann rief sie erneut: "Hallo, ist jemand da?"
Keine Reaktion.
Die Blondine stieß einen genervten Seufzer aus. Das war doch ein Scherz. Hatte das Schicksal sie verflucht? Es konnte doch nicht sein, dass sie zurückkehrte und direkt in Probleme hineinlief.
Langsam wandte sich Ava zum Gehen. So wie es aussah, würde sie später wiederkommen oder es ganz aufgeben müssen. Allerdings ging sie nicht davon aus, dann mehr Glück zu haben. Sie hatte die Klinke bereits in der Hand, als eine grimmige Stimme aus dem hinteren Teil des Raumes erklang: "Ja, ja, ja. Was gibt es denn?"
Beim Sprechen wurde die Stimme immer lauter. Eine Stimme, die auf keinen Fall Anne gehören konnte. Blitzschnell fuhr sie herum, um sich zu vergewissern, dass ihre Ohren ihr keinen Streich spielten.
Ein hochgewachsener Mann tauchte aus dem Flur auf und lief zur Theke herüber. Er trug ein schwarz - rotes Holzfällerhemd, das die Stärke seiner muskulösen Arme vermuten ließ. Sein braunes Haar war von gräulichen Strähnen durchzogen. Aus den vertrauten braunen Augen blickte er sie argwöhnisch an, als würde ihr Auftauchen ihm alles andere als belieben. Ob die Falten auf seiner Stirn von Misstrauen oder seinem Alter herrührten, konnte sie nicht sagen. Ava tippte auf eine Mischung aus beidem. Schließlich waren sechs Jahre vergangen, seit sie Pike Dawson zum letzten Mal gesehen hatte.
Ihr Herz machte einen Satz. Sie hatte nicht damit gerechnet ihn hier zu sehen, doch obwohl er sie skeptisch anstarrte, verlieh es ihr das erste Gefühl von Vertrautheit seit sie hergekommen gekommen. Ihr Griff um den Einkaufsbeutel verstärkte sich, um das Zittern ihrer Hände zu verbergen. Erkannte er sie nicht mehr? Nach sechs Jahren könnte sie es ihm nicht übel nehmen. Doch der Gedanke, sie könnten sich fremd geworden sein, war wie ein Stich direkt ins Herz.
Ava kaute auf ihrer Lippe, während sie einander einige Sekunden lang einfach nur anstarrten. Sie studierte sein Gesicht auf der Suche nach einem Hinweis darauf, was er dachte. Er hatte die dunklen, buschigen Augenbrauen zusammengezogen, doch sie war sich nicht sicher, ob er nachdachte oder sich ärgerte. Er war ein genauso unlösbares Rätsel wie früher. Heute noch komplizierter als damals.
„Pike", ihre Stimme wankte, als sie den Namen sagte, der früher oft über ihre Lippen gekommen war: "Ich bin's ..."
Sie wollte weitersprechen. Erklären, wer sie war, in der Hoffnung, dass nicht jede Erinnerung an sie verloren gegangen war. Doch er kam ihr zuvor.
„Ava?", seine Stimme war rau, als er sprach, als hätte er zu lange die kalte Herbstluft eingeatmet.
Es war nur ein Wort, doch es ließ ihr Herz rasen. Sie musste sich zusammenreißen, um einen kleinen Freudensprung zu unterdrücken. Stattdessen setzte sie ein kleines, vorsichtiges Lächeln auf.
„Ja", sie nickte, als wollte sie sich selbst mehr klarmachen, dass sie wirklich hier war, als ihm. Vorsichtig machte sie einen Schritt auf ihn zu.
Die tiefen Furchen auf seiner Stirn glätteten sich, verschwanden jedoch nicht vollkommen. Seine dunklen Augen hellten sich auf und der grimmige Ausdruck auf seinem Gesicht, der bei ihm so natürlich wirkte, verflüchtigte sich.
„Na sieh mal einer an", er klatschte in die Hände. Ava wäre beinahe zusammen gezuckt. Erneut musterte er sie, als würde er sie mit anderen Augen sehen. Dabei schüttelte er langsam mit dem Kopf: "Das kann nicht möglich sein. Ich dachte, ich würde dich nie wieder sehen. Wer Spring Haven einmal verlässt, kommt nicht freiwillig wieder."
Seine Worte wogen schwer vor Wahrheit. Nichts an diesem Besuch war freiwillig. Merkwürdigerweise verspürte sie kein Bedürfnis, ihre Motive vor ihm zu verschleiern. Schließlich hatte er in der Nacht, in der ihr Vater gestorben war, seinen besten Freund verlassen. Er würde es ihr nicht übel nehmen, dass sie gegangen war. Schließlich war ihr kaum eine andere Wahl geblieben. Sie hätte sowieso nicht weiter alleine hier leben können. Den Gedanken, dass sie trotzdem schon lange vorbeischauen gekonnt hätte, schob sie schnell beiseite.
„Dachte ich auch nicht", gab sie schulterzuckend zu: "Das hier ist auch nicht wirklich eine freiwillige Sache."
„Hm", war seine einzige Antwort darauf, doch er nickte langsam: "Deshalb verreise ich nicht. Sonst würde ich vermutlich nicht wiederkommen."
Ava konnte gerade so verhindern, dass sich die Überraschung auf ihrem Gesicht zeigte. Ihr war nie in den Sinn gekommen, dass er je darüber nachdenken würde, diesen Ort zu verlassen. Dafür gab es zu viel, was ihn hier hielt. Zumindest war sie davon immer ausgegangen. Sie überlegte nachzufragen, was sich geändert hatte, entschied sich dann aber dagegen. Das war keine Frage, die man nach so einer langen Zeit als Erstes stellte. Vielleicht sogar eine, die man gar nicht aussprechen sollte.
Er wischte sich die Hände an seiner Hose ab, bevor er sich gegen den Tresen lehnte. Ihn hier zu sehen, war merkwürdig. In dem Laden wirkte er nicht nur seiner Größe wegen unpassend. Sie war darauf gewöhnt, ihn durch die Natur streifen zu sehen. Das schien ihm schon immer mehr gelegen zu haben. Früher hatte sie Pike mit ihrem Vater oft besucht. Auf der Suche nach ihm waren sie durch die Wälder gestreift, nachdem sie ihn in seinem Haus am Waldrand nicht ausfindig gemacht hatten. Ihr Vater hatte ihr immer gesagt, dass es daran lag, dass es an Pikes Beruf als Holzfäller lag. Doch Ava hatte stets das Gefühl gehabt, dass es Pike einfach lag.
„Wie lange bist du zurück?", fragte Pike.
„Seit gestern Abend. Du bist der Erste in der Stadt, mit dem ich spreche", gab sie zu. Ihre Füße hatten sie wie von selbst hierher getragen, als wären sie auf der Suche nach etwas Vertrautem. Auch wenn sie eigentlich gedacht hatte, Anne hier zu treffen. Ihn stattdessen zu finden, war keine Enttäuschung.
„Das Fliegen bekommt mir wohl nicht. Meine Kopfschmerzen bringen mich fast um", erklärte sie sich, während sie auf ein Regal hinter ihm deutete. Darauf standen verschiedene bunte Packungen, unter denen sie die Tabletten erkannte, die sie suchte: "Ich dachte, ein paar von den Dingern könnten helfen. Und ich war davon ausgegangen, ein bekanntes Gesicht zu sehen, würde auch nicht schaden."
„Dann sollst du sie haben", entgegnete er und drehte sich zu dem Regal um, auf das sie gezeigt hatte. Er kratzte sich am Kopf, während sein Blick über die Packungen wanderte. Ava musste sein Gesicht nicht sehen, um sich den rastlosen Ausdruck denken zu können, der sich darauf abzeichnete. Das hier war noch nie sein Ding gewesen.
„Ganz rechts", wies sie an: "Die dunkelblaue Packung."
„Mhm", er griff mit einer Gorillahand danach und drehte sich zu ihr um. Die Packung stellte er vor sich ab und schob sie ihr über den Tresen hinweg zu.
Daraufhin löste sich die Blondine von ihrer Position an der Tür und kam weiter auf ihn zu.
„Wie viel macht das?", fragte sie, während sie ihr Portemonnaie aus der Tasche zog. Das letzte Mal, dass sie Kopfschmerztabletten gekauft hatte, war bereits etwas länger her. Für gewöhnlich bediente sie sich einfach an Adelaides Vorrat, wenn die Uni ihr mal wieder Probleme bereitete.
Für die Frage erntete sie lediglich ein Kopfschütteln seinerseits: "Schon gut. Nimm sie einfach."
„Aber das geht nicht", begann sie zu protestieren: "Anne würde es sicher nicht gut finden, wenn du die Sachen einfach gratis rausgibst."
Sie wusste genau, dass Anne selbst vermutlich das Gleiche getan hätte, wie Pike. Für Ava wäre es kaum verwunderlich, wenn sie das Wörterbuch aufschlüge und unter dem Wort ‚herzensgut' Annes Namen auffände. Ava kannte sie seit ihrer Geburt und seitdem hatte sie Anne für einen der besten Menschen gehalten, von dem ihr je die Ehre zuteilwerden würde, ihn kennenzulernen. Auf Geld zu verzichten, war dagegen eher für Pike eher untypisch. Früher hatte er immer wieder darauf gepocht, dass seine Schwester nicht einfach alles rausgeben und sich selbst damit ruinieren könnte. Natürlich hatte Anne nie auf ihn gehört.
„Anne hat es mir immer vorgehalten", in seiner Stimme lag etwas schrecklich schmerzvolles, während er auf seine Hände hinabblickte. Ava runzelte die Stimme. Ging es noch um die Tabletten? Irgendetwas ließ sie glauben, dass er nicht mehr von der gleichen Sache sprach, wie sie.
„Was meinst du?", fragte sie deshalb und machte keine Anstalten, die Packung vom Tresen zu nehmen. Stattdessen heftete sich ihr Blick fest auf Pike.
Er schwieg und einen Moment lang fürchtete Ava, er hätte ihre Frage nicht gehört. Dann sagte er jedoch: "Nachdem was mit deinen Eltern passiert ist, wollte Anne, dass wir dich aufnehmen. Sie meinte, Haiden hätte das so gewollt. Damit du hier bleiben kannst. Ich habe mich geweigert."
Als er den Kopf hob, sah sie den meist schlecht gelaunten, ernsten Mann, wie sie ihn nie zuvor gesehen hatte. Sein Atem ging schwer, als müsste er ihn kontrollieren, um nicht zu zittern. Die Kiefer hatte er fest aufeinander gepresst. Seine Fingernägel gruben sich in das Holz der Tischplatte. Sein Blick wanderte herum, als könnte er ihr nicht in die Augen schauen.
„Nicht, weil ich dich nicht mochte. Du warst für mich wie eine Tochter. Ich ...", seine Lippe zitterte, als er sich unterbrach. Ava schluckte schwer. Seit sie sich erinnern konnte, war er für sie ein Teil der Familie gewesen. Selbst wenn er anfangs offensichtlich nicht gewusst hatte, was er mit ihr anfangen sollte. Sie hatte nie daran gezweifelt, dass er sie trotz seiner Ablehnung den Meisten gegenüber, tief in seinem einzelgängerischen, verschlossenen Herz mochte.
Vorsichtig schob sie sich um den Tresen herum und legte die Arme um seine hochgewachsene Statur. Mit einer Hand tätschelte sie seinen Rücken. Als er weitersprach, brach seine Stimme: "Ich konnte nie mit Kindern umgehen. Mit Menschen generell nicht. Ich wollte dein Leben nicht weiter kaputt machen. Ich habe es ihr nie gesagt und sie hat mir das nie verziehen."
Während er sprach, schlang er seine großen Arme um ihre Schultern, als wäre er froh über die Stütze. Ava lehnte ihren Kopf gegen seine Brust und atmete seinen Geruch ein. Eine Mischung aus Tannennadeln und Erde. Wie ein Bär, der seine Tatzen, um beschützend um sie schlang.
Erneut fühlte sie sich wie fünfzehn. Doch es war das erste Mal, dass ihr das Gefühl nicht die Galle in die Kehle trieb. Stattdessen kehrte ein Gefühl ein, von dem sie nicht gedacht hatte, dass sie es in Spring Haven jemals wieder finden würde. Es fühlte sich an wie Zuhause.
„Mir geht es gut, Pike", die Lüge kam über ihre Lippen, bevor sie sich davon abhalten konnte. Nichts war in Ordnung. Nicht seit sie hierhergekommen war. Doch sie brachte es nicht übers Herz, ihm das zu sagen. Nicht, wenn er sie spüren konnte, wie schwer sein Atem ging. Beinahe als würde er sich nur für sie zusammen reißen. Etwas, das sie so nicht von ihm kannte.
Für gewöhnlich hatte sie nur als den menschenscheuen, missmutigen, aber liebenswürdigen Holzfäller gekannt, dem ihr Vater sein Leben anvertraut hätte. Ihn einmal anders zu erleben, hatte sie nicht für möglich gehalten. Er wirkte beinahe zerbrochen. Sie beschlich das schreckliche Gefühl, dass er ihr etwas Wichtiges verschwieg. Denn obwohl sie zugeben musste, dass sie sich über so eine Reaktion in Anbetracht ihrer Rückkehr freute, konnte sie nicht glauben, dass es nur das war. Nicht, wenn es Pike war, von dem diese Reaktion kam.
„Wo ist Anne? Ich dachte, ich würde sie hier treffen und nicht dich", gab sie zu und sah zu ihm auf, als sie spürte, wie er bei der Erwähnung des Namens zusammenzuckte. Seine Arme sanken wie schlaffe Säcke und er machte einen Schritt von ihr weg. Die Finger seiner rauen, vernarbten Hände trommelten auf der Tischplatte herum, als wäre er auf der Suche nach den richtigen Worten.
Das schlechte Gefühl, das sich zuvor bemerkbar gemacht hatte, bildete einen schweren Kloß in Avas Kehle. Sie hatte recht gehabt. Etwas stimmte nicht. Dass es etwas anscheinend etwas mit Anne zu tun hatte, traf sie wie ein Schlag in den Magen. Sie hatte es bereits beim Eintreten für merkwürdig gehalten, dass die junge Brünette nicht wie gewohnt hinter dem Tresen stand und sie beim Eintreten mit einem breiten Lächeln begrüßte. Doch sie hatte lediglich an einen Zufall geglaubt. Kam es nicht oft vor, dass Geschwister einander vertraten, wenn einer von ihnen etwas zu erledigen hatte?
Als sie Pikes Worte in Gedanken erneut durchging, fiel ihr jedoch ein Muster auf.
Ich habe es ihr nie gesagt und sie hat es mir nie verziehen.
Wieso sprach er von ihr, als wäre jede Chance darauf verstrichen? Als wäre sie Vergangenheit.
Avas Kehle war staubtrocken. Alles um sie herum schien sich zu drehen und sie musste sich abstützen, um dem Gefühl zu entgehen, jeden Moment umzukippen.
„Anne ist ...", begann Pike, brach jedoch wieder ab, als könnte er nicht die richtigen Worte finden: "Vor einem Monat ist sie gestorben."
Ava sog scharf die Luft ein. Ihre Lungen waren wie zugeschnürt. Sie sah Sternchen, die sie mit aller Kraft wegzublinzeln versuchte. Es war, als würde ihre Seele langsam und schmerzhaft sterben. Als hätten seine Worte ihr die Lebenskraft aus dem Körper gesaugt. Ein Gefühl, das sie übermannte, hatte sie bisher nur zwei Mal in ihrem Leben verspürt. Zuerst beim Tod ihres Vaters und dann erneut, als sie vom Tod ihrer Mutter erfahren hatte.
„Wie?", ihre Stimme war ein leises Hauchen. Mehr konnte sie nicht herausbringen.
„Weiß ich nicht genau", brachte er heraus: "Zumindest nicht mit Sicherheit."
Ava hatte gehofft, nie wieder hören zu müssen, dass jemand, den sie liebte, vor seiner Zeit starb. Hierher zurückzukommen war bereits ein Unterfangen gewesen, das sie erneut zu nah an den Tod herausführte. Selbst wenn es nicht ihr eigener war. Zu erfahren, dass es erneut passiert war, raubte ihr den Atem. Doch es war nicht einfach nur ein Tod. Es war ein weiterer mysteriöser Tod. Genauso wie der ihres Vaters.
„Wie kannst du das nicht wissen?", ihre Stimme klang vorwurfsvoll, obwohl sie das nicht beabsichtigt hatte. Pike zuckte bei der Schärfe ihres Tonfalles zurück.
„Tut mir leid", schob sie sofort hinterher und streckte die Hand nach ihm aus. Das hatte sie nicht gewollt.
„Schon gut", entgegnete er, während er sich mit einer Hand durch das Haar fuhr: "Ich weiß, dass ich es hätte wissen müssen."
„Das wollte ich damit nicht sagen", setzte sie an.
Natürlich musste er es nicht wissen. Schließlich wusste sie selbst bis zu diesem Tag nicht, was mit ihrem Vater geschehen war. Wenn sich Pike entschieden hatte, es nicht wissen zu wollen, konnte sie das in gewisser Weise verstehen. Die Wahrheit würde es nicht weniger ungeschehen machen und stattdessen Wunden nur weiter aufreißen.
„Anne hatte sich in letzter Zeit sehr verändert", begann Pike entgegen Avas Erwartungen zu erzählen: "Sie war nicht mehr die Anne, die du kanntest. Nicht mehr die Schwester, mit der ich aufgewachsen bin. Sie ist nicht mehr zur Arbeit aufgetaucht, hat ein Interesse daran gewonnen, anderen Probleme zu machen und sich mit merkwürdigen Leuten abgegeben, von denen sie sich sonst ferngehalten hat. Sie hat gelogen und manipuliert, bis die Leute aus der Stadt einen Bogen um sie gemacht haben. Und dann waren da noch die Wutausbrüche, die sich keiner erklären konnte."
Er machte eine Pause, als könnte er es nicht ertragen, so über sie zu sprechen.
„Anfangs dachte ich, sie hätte vielleicht angefangen zu trinken, obwohl sie Alkohol immer verabscheut hat. Doch ich habe keine Hinweise finden können", er zuckte mit den Schultern, als könnte er es noch immer nicht ganz erklären: "Erst später habe ich herausgefunden, mit wem sie Zeit verbracht hat. Clearwater!"
Das letzte Wort presste er unter zusammengebissenen Zähnen hervor. Seine Stimme, die zuvor noch vor Schmerz gewankt hatte, war von Zorn getränkt. Seine zusammengeballte Faust landete scheppernd auf der hölzernen Theke und ließ Ava zusammenzuckten. Als er sie ansah, loderten in seinen Augen Flammen der Wut.
„Ich kann es nicht beweisen, aber ich weiß, dass er es war. Er hat sie zerstört", seine Fingerknöchel färbten sich weiß, als er die Fäuste noch fester ballte: "Und dann hat er mir alles genommen."
„Hey, Pike", sie griff mit einer Hand vorsichtig nach seiner Faust, um ihn davon abzuhalten, die Tischplatte weiter zu malträtieren: "Beruhig dich. Alles kurz und klein zu schlagen, bringt nichts."
„Oh doch", entgegnete er, währte sich jedoch nicht gegen ihren Griff: "Es hält mich davon ab, ihn einen Kopf kürzer zu machen. Er hat sie und ihren Ruf so weit zerstört, bis niemand sie, niemand Stadt mehr respektiert hat."
Für Ava wirkte es wie ein Dingen der Unmöglichkeit, Annes Ruf zu zerstören. Als sie noch hier gelebt hatte, war Anne unter ihnen allen als gute Seele bekannt und geliebt gewesen. Dass es etwas oder jemanden gab, der das jemals ändern könnte, war unwirklich.
„Wer ist er?", vermutlich war das eine blöde Frage und jeder, der hier lebte, konnte sich etwas unter dem Namen vorstellen, den Pike genannt hatte.
„Dieser Clearwater", setzte sie hinterher. Sie dachte fieberhaft darüber nach, doch ihr kam keine Situation in den Sinn, in der sie diesen Namen schon einmal gehört hatte.
„Die ganze Familie vergiftet diese Stadt", Pike verzog das Gesicht, als würde ihm die Erwähnung des Namens die Galle hochtreiben: "Die Clearwaters sind dank ihrer Baufirma eine der reichsten und einflussreichsten Familien der Stadt. Der Schlimmste von ihnen ist Aiken Clearwater. Er zieht die Fäden. Mit ihm hat Anne sich vor ihrem Tod immer wieder getroffen."
Ava spürte, wie sich seine Faust unter ihrer Hand fester ballte. Sie schluckte schwer.
„Bekannt ist nur, dass er all sein Geld mit dieser Firma scheffelt, aber ich glaube, dass er Dreck am Stecken hat", in seinen Augen brannte ein tiefer Hass.
„Ich habe den Namen noch nie gehört. Seit wann geht das so?", hakte sie nach. Egal, wie fieberhaft sie es versuchte. Sie konnte sich nicht daran erinnern, jemals diesen Namen gehört zu haben. Eine Tatsache, die unwahrscheinlich erschien, wenn es um einen scheinbar so einflussreichen Mann ging.
„Kurz nach Haidens Tod hat er angefangen auf der Bildfläche aufzutauchen", Pikes Augen verdunkelten sich: "Er hat Leute um sich geschart, die früher hinter deinem Vater standen und hat daran, gearbeitet, seine Macht auszubauen."
Als er den Namen ihres Vaters erwähnte, zuckte Ava unwillkürlich zusammen. Es war lange her, dass jemand ihn erwähnt hatte. Vermutlich hatte der Rest der Familie darauf verzichtet, ihn zu erwähnen, um sie zu schonen. So war sein Name regelrecht zu einem verbotenen Wort in Familienkreisen mutiert. Dass Pike ihn so offen erwähnte, war ungewohnt, doch weniger schmerzhaft als erwartet. Obwohl sie nie darüber gesprochen hatten, konnte sich Ava denken, dass er darüber ähnlich fühlen musste, wie sie selbst. Schließlich waren Pike und ihr Vater regelrecht unzertrennlich gewesen. Als hätte ein unsichtbares Band die beiden verbunden, das nur der Tod zu zerteilen vermochte. Wie ein stiller Treueschwur zwischen den beiden, dessen Ausmaß Ava nie zu verstehen imstande gewesen war.
„Ich habe es nie gewagt, das auszusprechen, Ava", sein Blick suchte nach ihrem: "Aber ich glaube, dass er nicht nur an Annes Tod beteiligt war. Ich bin davon überzeugt, dass er auch mit dem deines Vaters etwas zu tun hat."
Ava sog scharf die Luft ein. Sie hatte es nie gewagt, solche Vermutung anzustellen. Zu groß war die Angst vor dem, was sie finden könnte. Denn obwohl es schlimm war im Dunkeln zu tappen, konnte sie nicht einschätzen, was sie tun würde, wenn sie den Grund herausfand. Sie hatte es immer für besser gehalten, nicht ergründen, was dann passierte.
„Wie kommst du darauf?", hakte sie nach, obwohl sie sich geschworen hatte, jegliche Emotion in Bezug auf ihre Eltern auszublenden, solange sie hier war. Ihr Besuch hier war bereits so emotionsgeladen, dass es unmöglich erschien zu ignorieren, was in ihr brodelte.
„Ich weiß es nicht mehr Sicherheit", Pike schüttelte den Kopf: "Es ist nur so ein Gefühl. Kurz nachdem dein Vater weg war, hat Aiken daran zu arbeiten begonnen sich eine neue Position in der Stadt zu verschaffen. Die, die ihn vorher offen nicht mochten, waren plötzlich ruhig. Er hat alles dafür getan, die Leute, mit denen dein Vater früher viel zu tun hatte, um sich zu scharen und auf seine Seite zu ziehen. Als hätte er nur darauf gewartet, dass Haiden von der Bildfläche verschwindet."
Ava schluckte schwer. Seine Worte waren wie ein Dolch, der ihr tief ins Herz gestoßen wurde. Darüber nachzudenken, dass sich ein Teil seiner Freunde von ihrem Vater abgewandt hatte, hinterließ einen bitteren Geschmack in ihrem Mund. Man könnte in Anbetracht dieser Tatsache wohl von Glück reden, dass Pike sie mit so offenen Armen empfing.
„Aber wie ich bereits sagte, habe ich dafür keine Beweise", er schüttelte den Kopf, als hätte er ihre Reaktion bemerkt: "Vermutlich ist das alles nur das alte Gehabe eines grimmigen Einzelgängers, der langsam alt wird."
Sie öffneten den Mund, um zu protestieren, doch Pike ließ ihr keine Chance: "Du bist auch vermutlich nicht in die Stadt gekommen, um die Leute von früher mal wieder zu sehen, nicht wahr?"
Seine Worte waren wie ein Weckruf. Eine Erinnerung an das, was sie sich heute vorgenommen hatte. Die Kontrolle behalten und sich nicht von den Gefühlen übermannen lassen. Das hatte sie sich vorgenommen und daran musste sie sich halten, wenn diese Reise sie nicht ruinieren sollte. Gerade trieben Pikes Worte sie jedoch erneut an den Rand der Verzweiflung. Erst die Nachricht über Annes Tod und dann die Vermutungen über den Tod ihres Vaters. Das war alles zu viel. Mehr schlechte Neuigkeiten konnte sie für den Rest der Reise nicht vertragen. Auch wenn sie das leise Gefühl beschlich, dass sie nicht verschont bleiben würde.
„Ich habe eigentlich nur hier, um mich um die Sachen zu kümmern, die mir Mom und Dad vererbt haben", gab sie sich geschlagen und ließ damit zu, dass Pike vom Thema ablenkte. Möglicherweise weil er merkte, was seine Worte in ihr hervorrufen. Doch vielleicht tat er es auch einfach um seiner selbst willen.
„Ich hatte mich schon gefragt, was mit den ganzen Sachen passieren soll", gab er zu, während er seine Hand vorsichtig von ihrer befreite und ihr die Tabletten erneut zuschob, als würde er zumindest darüber nicht weiter diskutieren wollen: "Ich war immer davon ausgegangen, dein Onkel würde irgendwann herkommen und alles mitnehmen."
Ava stutze. Bis sie erfahren hatte, dass ihr diese Aufgabe übertragen worden war, hatte sie nie darüber nachgedacht, was mit dem Zeug ihrer Eltern geschah. Es war für sie schlicht und ergreifend so nebensächlich erschienen, dass sie keinen Gedanken daran verschwendet hatte. Deshalb war es wie ein Schlag ins Gesicht gewesen, als sie an ihrem Geburtstag erfuhr, dass alles an sie übergegangen war. Bei der Erinnerung blieb ihr erneut die Luft weg. Doch sie riss sich zusammen, damit er es ihr nicht anmerkte.
„Das wäre wohl naheliegend gewesen", murmelte sie und nahm die Tablettenpackung entgegen. Sie war selbst nicht in der Lage zu diskutieren: "Ich habe auch erst vor kurzem herausgefunden, dass ich mich darum kümmern soll."
Tatsächlich waren bereits einige Monate vergangen, seit sie davon erfahren hatte. Das zuzugeben, erschien ihr unmöglich. Wie sollte sie erklären, dass sie am liebsten gar nicht hergekommen wäre? Vermutlich würde es keiner nachvollziehen können. Vor allem niemand von hier.
„Laut meinem Onkel wollten meine Eltern, dass ich alles erst erbe, sobald ich erwachsen bin", fuhr sie mit der Erklärung fort. Nachdem sie davon erfahren hatte, hatte sie einige Nächte wachgelegen und darüber nachgegrübelt, ob ihre Eltern gewusst haben könnten, was ihnen bevor stand.
„Vorher war der hier das Einzige, was ich von Dad hatte", sie hob ihre Hand und hielt sie auf Augenhöhe, um ihm den Ring zu zeigen, den sie am Morgen wieder angesteckt hatte.
Pikes Augen verengten sich, als er das Schmuckstück an ihrem Finger betrachtete. Seine Augen schienen jeden Zentimeter zu scannen, während sich seine Lippen aufeinander pressten.
„Was ist?", Avas Stirn legte sich in Falten. Sie musste mit sich kämpfen, um die Hand nicht reflexartig hinter ihrem Rücken zu verbergen. Irgendetwas an seiner Reaktion verunsicherte sie.
Der in die Jahre gekommene Mann schüttelte den Kopf, als würde er einen Gedanken verwerfen.
„Nichts", mit einer Hand fuhr er sich durch das braune Haar: "Es ist nur lange her, dass ich so einen Stein das letzte Mal gesehen habe."
„Wirklich?", erneut fiel ihr Blick auf den Ring. Einen Kristall wie diesen hatte sie tatsächlich noch nie irgendwo anders gesehen. Bisher hatte sie sich jedoch keine Gedanken darüber gemacht, woher er stammte. Sie hatte ihn lediglich für ein schönes Geschenk gehalten.
„Das ist ein Mondquarz", erklärte Pike auf ihr fragendes Gesicht hin: "Hat dein Vater dir das nie gesagt?"
„Nein, er hat ihn mir geschenkt, als ich kleiner war und ich habe es nie hinterfragt", ihre Augenbrauen zogen sich zusammen: "Was ist Mondquarz?"
„Spring Haven ist der einzige Ort, von dem ich weiß, an dem es Mondquarz gibt", ging er genauer darauf ein: "Die Steine wachsen hier im Ireniac Forest. Dein Vater war dort früher oft. Es gab eine Zeit, da hat er versucht, alles darüber zu erfahren."
„Daran kann ich mich gar nicht erinnern", gab sie offen zu. Obwohl ihre Erinnerungen immer weiter verblassten, war sie sich sicher, dass ihr Vater nichts in die Richtung erwähnt hatte. Dabei waren sie früher oft im Ireniac Forest gewesen, der nur wenige Meter von ihrem Haus entfernt begann. Solche Steine waren ihr in der Natur dabei nie aufgefallen. Pikes Aussage nach zu urteilen, musste ihr Dad jedoch gewusst haben, wo sie zu finden gewesen wären.
„Er hat nie erwähnt, dass sie so selten sind", gab sie zu und drehte ihre Hand so, dass der Stein im Licht glänzte. Der lilafarbene Schein war auch jetzt zu erkennen. Pike folgte ihrem Blick auf ihre Finger und kniff die Augen ein Stück weiter zusammen: "So einen Schein habe ich auch noch nie gesehen."
„Weißt du, wie ich zu den Steinen komme?", hakte sie genauer nach. Als Pike den Kopf schüttelte, flutete eine Enttäuschung ihre Seele, die sie sich selbst nicht erklären konnte.
„Nicht mehr, nein", in seinen Augen blitzte für den Bruchteil einer Sekunde etwas auf, das Ava nicht deuten konnte: "Und möglicherweise wäre es auch besser, sich davon fernzuhalten. Besonders, wenn man nichts darüber weiß."
„Vielleicht hast du recht", sie zuckte mit den Schultern, war sich dabei selbst jedoch nicht so sicher. Eigentlich hatte sie keine Zeit übrig, um sich mit irgendwelchen Steinen zu beschäftigen. Sie wollte einfach nur dieses Haus loswerden und dann nach Hause zurückkehren. Trotzdem gab es einen kleinen Teil tief in ihrem Inneren, der ihr Herz bei dem Gedanken schneller schlagen ließ, dem Ursprung des alten Geschenks zu folgen.
„Vermutlich solltest du dich jetzt erstmal um deine anderen Verpflichtungen kümmern, als dich um einen alten Mann zu kümmern", brach Pike das Schweigen. Das Rumoren, das sich in ihrem Magen bemerkbar machte, erinnerte sie an ihre ursprünglichen Pläne zurück. Trotzdem wurde sie bei dem Gedanken Pike zu verlassen wehmütig. Auf ihn wartete zu Hause niemand. Genauso wenig wie auf Ava.
„Na gut, aber ich schaue später nochmal vorbei", gab sie sich letztendlich trotzdem geschlagen. Später würde sie es ansonsten bereuen, wenn sie sich nicht um die anderen Dinge kümmerte, die sie in die Stadt verschlagen hatten: "Ich schätze, wenn offen ist, finde ich dich hier immer?"
Die Worte versetzten ihr einen Stich, als sie Ava an Anne zurückerinnerten. Dass Pike den Laden nicht aufgegeben hatte, war für sie ein Glücksfall. Dass sie einander sonst so schnell wiedergetroffen hätten, bezweifelte sie. Schließlich sagte Pike selbst, dass er mit den meisten Menschen nicht viel anfangen konnte. Bereits in Avas Kindheit hatte er sich überwiegend im Wald oder in seinem Haus am Waldrand aufgehalten. Dass sich daran etwas geändert hatte, schloss sie aus. Den Laden übernahm er bestimmt nur Anne zu liebe. Schließlich war diese Drogerie ihr Traum gewesen.
„Vermutlich", brummte er schulterzuckend, als sei er sich selbst nicht sicher dabei. Avas Mundwinkel zuckten. Das war der Pike, den sie kannte. Nicht allzu enthusiastisch und schwer durchschaubar, doch immer wieder das Gefühl in ihr weckend, dass es ihn tief in seinem Inneren mehr interessierte, als er zugab. Die Worte, die er hinterher setzte, unterstrichen diesen Eindruck: "Pass auf dich auf, Ava."
Ihre Mundwinkel formten sich zu einem kleinen Lächeln: "Du auch, Pike."
Wenn man sich den hochgewachsenen, breitschultrigen Mann ansah, wirkte die Aussage fast lachhaft. Er wirkte unerschütterlich, wie ein unverwüstlicher Felsen. Doch der Tod ihres Vaters hatte sie gelehrt, dass selbst Bergen zu Asche zerstäuben konnten.
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