Kapitel 3

Die beißende Kälte bohrte sich in ihre Wangen wie tausend Nadeln. Messerscharf und gnadenlos. Vorsichtig versuchte Ava den Schal weiter hochzuschieben, um damit ihr Kinn zu bedecken. Obwohl es ihr helfen würde sich aufzuwärmen, wagte sie es kaum sich zu bewegen. Ihre Nasenspitze glühte förmlich, als müsste sie ihren Körper alleine warm halten.

Kaum war sie aus dem Flieger gestiegen, hatte sie eine ungewohnte Kälte ergriffen. Doch erst als sie auf die kleine und für ihren Geschmack viel marode Fähre gestiegen war, war ihr klar geworden, wie sehr sie das Wetter in Alaska unterschätzt hatte. Wie konnte es sein, dass sie das vergessen hatte? Schließlich hatte sie die ersten fünfzehn Jahre ihres Lebens hier verbracht. Möglicherweise war es ihr aber auch früher einfach nie so vorgekommen, weil sie daran gewöhnt gewesen war.

Mit einer ungeheuren Wucht schlugen die schäumenden Wellen gegen den Bug der Fähre und ließen Ava zur Seite taumeln. Perlweißer Schaum spritzte auf das rostende Deck. Instinktiv zog sie eine Hand aus der Jackentasche, um sich an den nächstbesten Gegenstand zu klammern, während kleine, eisige Wassertropfen ihre Wangen benetzten. Die Kälte peitschte gegen die entblößte Haut und ließ sich erschaudern. Sie presste die Zähne zusammen und stieß ein Zischen aus. Nicht umsonst hatte sie den Gedanken gehasst, hierher zurückzukehren.

Ihre Finger klammerten sich krampfhaft um den Türgriff ihres Mietwagens, während sie darauf wartete, dass das Boot zu wanken aufhörte. Um sie herum schien sie alles zu drehen und sie hatte das Gefühl, ihr würde sich der Magen umdrehen. Seit wann war sie seekrank?

Es vergingen einige Sekunden, die sich wie unzählige, schleichende Minuten anfühlten, bis sich die See wieder beruhigte und Ava ihren Griff zögerlich lockerte. Sie lehnte die Stirn gegen das Gehäuse des Wagens und stieß einen entnervten Seufzer aus. Nie hatte sie damit gerechnet, dass es einfach sein würde in ihre alte Heimat zurückzukehren. Doch gerade wirkte es, als würde ihr das Schicksal absichtlich übel mitspielen. Als würde die Welt sie dafür bestrafen, dass sie sich so lange vor dieser Aufgabe gedrückt hatte.

Ihr Kopf brummte und das ständige Schaukeln spielte dem nur in die Karten. Sie presste sich eine Hand vor den Mund, um die Übelkeit zu unterdrücken. Dann zog sie mit einem Schwung die Fahrertür auf und ließ sich zurück in den Sitz sinken. Wäre sie bloß nicht ausgestiegen. Sofort hatte sie die Rechnung für diese strohdoofe Entscheidung kassiert.

Vorsichtig wackelte sie mit ihren Zehen, die durch das dünne Material der Turnschuhe so kalt geworden waren, dass es sich anfühlte, als hätten sich Eiswürfel an ihren Zehen gebildet. Sie zog die Mütze weiter über ihre Ohren und nahm die dünne Jacke, in der sie das Haus verlassen hatte, vom Beifahrersitz. Zumindest war sie nicht so blöd gewesen, sie die ganze Zeit anbehalten, sondern war auf die Idee gekommen, sie gegen die Winterjacke zu tauschen, die sie vor dem Aufbruch eingepackt hatte. Bei ihrem Schuhwerk war ihr das blöderweise nicht in den Sinn gekommen.

Innerlich verfluchte sie sich. Dafür, dass sie darauf bestanden hatte, alleine zu fahren und dass sie es so lange vor sich hergeschoben hatte. Und sie verfluchte ihre Eltern, weil sie der einzige Grund für ihre Misere waren. Weil sie sie im Stich gelassen hatten, als sie gerade einmal fünfzehn gewesen war und weil sie Ava zwangen, nun wieder hierher zurückzukehren.

Der Drang danach einfach loszuschreien pochte in ihrer Kehle. Verspottet ihre Schwäche. Ihre Finger krallten sich um den Stoff ihrer Jacke, während sie sich zurückzuhalten versuchte. Sie konnte nicht die Beherrschung verlieren. Nicht, wenn sie seit sechs Jahren alles dafür gab, sich zusammenzureißen. Obwohl sie nicht einmal wusste, ob sie das um ihrer selbst willen oder für alle anderen tat.

Atmen, Ava. Atmen.
Sie versuchte sich so gut es ging auf ihre Vernunft zurückzubesinnen. Vorsichtig löste sie den verkrampften Griff ihrer Finger um ihre Jacke und richtete den Blick geradeaus, wo sich die riesenhaften Berge Alaskas vor ihr auftürmten, wie stille, wunderschöne Giganten. Um die Bergspitzen rankte sich dicker Nebel, als würden sie sich dahinter steckten wie unter einem Schutzmantel. Die massiven tiefgrünen Tannen, die sich wie uralte Riesen am Ufer auftürmten, konnte jedoch selbst der Nebel nicht verschleiern.

Sie konnte jetzt nicht ausrasten. Nicht, wenn sie ihr Ziel nicht noch nicht einmal erreicht hatte. Das wäre nichts anderes als ein Armutszeugnis, das sie sich selbst nicht zu erteilen bereit war. Ihre Lippen zitterten, als sie einen tiefen Atemzug nahm. Die Luft war kalt, als sie durch ihre Kehle strömte. Zu ihrer Überraschung hinterließ die Kälte in ihr dieses Mal jedoch kein blankes Selbstmitleid. Stattdessen schien sie all ihre Sinne aufs Neue zu beleben und ihre Kehle, die sich zusammenzudrücken schien, zu entspannen. Sie schluckte ein paar Mal, um den bitteren Geschmack in ihrer Kehle zu vertreiben.

Als sie das Gefühl hatte, langsam wieder zu sich zurückzufinden, bemerkte sie aus dem Augenwinkel eine Person im Auto neben sich. Langsam drehte sie den Kopf zur Seite und bemerkte einen alten Mann, der sie mit großen Augen anstarrte, wie ein exotisches Zootier. Bis auf eine graue Haarkrone war sein Kopf frei kahl. Die runde Brille saß so unsicher auf seiner Nasenspitze, als würde sie jeden Moment hinunterzurutschen drohen.

Mit aller Kraft musste sie gegen den Drang ankämpfen, ihm die Zunge herauszustrecken. Allerdings errechnete sie sich davon keinen großen Vorteil. Stattdessen sank sie einfach ein Stück weiter in ihren Sitz und besann sich zurück auf den Grund, aus dem ihre Jacke überhaupt gepackt hatte. Vorsichtig zog ihr Handy hervor und entsperrte mit leicht zitternden Fingern den Bildschirm. Ob wegen der Kälte oder des anhaltenden Schocks über ihre eigenen Gedanken konnte nicht ganz sagen.

Als das Display aufflackerte und sie die mobilen Daten zum ersten Mal seit sie Washington verlassen hatte wieder aktivierte, flammten sofort mehrere Nachrichten auf. Auf den ersten Blick stammten ein Großteil von Adelaide. Die meisten davon waren Einzeiler. Darunter unzählige Fragen, ob es ihr gut ging, wo sie gerade war und ob alles nach Plan lief. Ein kleines, unerwartetes Grinsen huschte über ihre Lippen. Offensichtlich gab es überraschenderweise tatsächlich jemanden, der sich noch mehr Sorgen um ihre Reise machte, als Ava selbst.

Am liebsten würde sie Adelaide anrufen und ihr die Seele darüber ausschütten, wie sehr sie es hier bereits hasste. Vermutlich würde ihre Cousine das sogar gerne hören. Doch Ava hielt sich zurück. So sehr wie es Addy freuen würde zu hören, dass es ihr nicht gefiel, würde es sie besorgen und sie verrückt machen nicht herkommen zu können, um ihr zur Seite zu stehen. Bewusst hatte sie sich entschieden, alleine nach Spring Haven zu reisen. Also musste sie nun auch mit den Konsequenzen klarkommen, die damit einhergingen.

Letztendlich tippte sie deshalb bloß eine kurze Erklärung darüber, wo sie gerade war und wann sie vermutlich ankommen würde. Sobald sie da war und die erste Anspannung sie verließ, würde sie Adelaide anrufen und ihr versichern, dass alles gut war. Gerade war sie dazu nicht in der Lage.

Während sie weiter scrollte, fiel ihr Blick auf eine Nachricht von Megan mit einem angehängten Foto. Ihr Herz sank, als sie beides öffnete und sich ihre Augen auf das Bild hefteten. Da waren sie. Alle vier. Dort, wo Ava sie vor mittlerweile mehr als fünf Stunden verlassen hatte. Eine schrecklich lange, schleppend langsam verstreichende Ewigkeit, wenn es nach ihrem Gefühl ging. Juniper hatte die Jacke ihres Vaters um ihre Schultern gelegt, sah ansonsten allerdings noch genauso aus wie als sich zum Aufbruch bereit gemacht hatte. Adelaide hatte ihr einen Arm um die Schulter gelegt und zusammen grinsten alle vier in die verschwommene Kamera von Megans Handy. In der Nachricht darunter stand der Satz ‚Wir sind in Gedanken bei dir.'

Ava erwischte sich dabei, wie sie mit dem Daumen über den Bildschirm strich. Gemischte Gefühl stiegen in ihr auf. Einerseits war sie froh, dass sie glücklich waren. Andererseits konnte sie den Gedanken nicht unterdrücken, dass es wirkte wie immer. Als würde ohne sie nichts fielen. Als könnten sie glücklich ohne sie sein, während Ava alleine bei dem Gedanken lange von ihnen getrennt zu sein, innerlich verfiel.

Sie kam sich albern vor, als sie das Handy gegen dort an die Brust drückte, an der ihr Herz unter ihrer Haut wild pochte. Ihr Blick glitt durch die Windschutzscheibe und sie ließ sich von dem atemberaubenden Anblick einlullen. So sehr sie ihren anstehenden Aufenthalt hier verabscheute. Wie einmalig die Bilder waren, die sich vor ihr auftaten, konnte sie nicht leugnen und dabei vollkommen ernst meinen.

Kurzerhand zückte sie das Handy und öffnete ihre Kamera, um das Bild in mehr als nur ihren Gedanken einzufangen. Dann sendete sie es als Antwort an Megan und textete hinterher: ‚Ich denke auch an euch. Bis wir uns wiedersehen, fange ich all diese Momente für euch ein.'

Als eine menschliche Stimme aus dem Lautsprecher drang, riss es Ava aus ihren Gedanken: "In Kürze legen wir am Ufer an. Alle Passagiere werden gebeten, zu ihrer eigenen Sicherheit das Deck zu verlassen und in ihre Autos zu steigen."
Mit dem Blick suchte sie nach der Richtung, aus der die Stimme gedrungen war, während sie sich instinktiv anschnallte. Dabei bemerkte sie, wie zu ihrer Rechte eine langgezogene Landzunge in Sicht kam, auf die sich die Fähre wie ein träger Wal langsam zu bewegte.

Sie nahm einen tiefen Atemzug. So hatte sie Spring Haven noch nie gesehen. Selbst in ihrer Kindheit nicht. Trotzdem verrieten ihr die Notizen bezüglich ihrer Reise, die sie mit Addy gesammelt hatte, dass es sich beim nächsten Halt zweifellos um ihre Heimatstadt handelte. Obwohl sie trotz des Stadtnamens irgendwie nicht damit gerechnet hatte, dass dort tatsächlich Schiffe anlegten. Doch offensichtlich war die Stadt nicht so verrostet wie in ihren Erinnerungen.

Einige Minuten saß sie einfach still da, die Jacke noch immer auf ihrem Schoß und beobachtete, wie sich das Schiff im Schneckentempo in den Hafen einfuhr. Als es an seinem Ziel zum Stehen kam, erzitterte das Deck und ließ Ava zusammenzucken.
„Spring Haven", dieses Mal klang eine mechanische Stimme aus den Lautsprechern. Instinktiv schreckte Ava aus der Trance hoch, in die sie verfallen war. Vorsichtig schob sie die dünnere Jacke von ihren Beinen, während sie die, die sie am Körper trug, enger um ihren Hals schloss. Selbst im Auto waren die Temperaturen eisig und sie konnte einfach nicht herausfinden, wie die Autoheizung anging.

Als sich die Rampe an der Front absenkte und den Fahrgästen den Weg frei machte, drehte sie den Zündschlüssel. Der Motor stotterte für ein paar Sekunden, sprang dann aber an. Ava stieß einen erleichterten Seufzer aus. Das hier wäre der weitaus miserabelste Moment für eine Panne. Ihre Finger schlagen um sich fest um das Lenkrad, während sie darauf wartete, dass der alte Mann neben ihr aufs Gas trat. Glücklicherweise war sie als eine der letzten Reisenden auf die Fähre gefahren, sodass sie sich nun einfach von Bord bugsieren konnte. Zumal das Schiff sowieso kaum voll war. Als sie an der Reling herumgestromert war, waren ihr lediglich vereinzelt Leute um den Weg gelaufen. Verwunderlich war das kaum. Wer besuchte diesen Ort auch freiwillig?

Es ruckelte einmal und dann befand sich wieder sicherer Asphalt unter den Rädern des Leihwagens. Doch so einfach wie ihre Seekrankheit ließ sich der Nebel nicht abschütteln, den sie zuvor bereits aus der Ferne über den Bergen bemerkt hatte. Hier am Festland hin er dick über den Straßen und ließ die letzten Sonnenstrahlen des Tages nur widerwillig zu ihr durchdringen.

Ihre Schultern hob sich langsam und verkrampften sich dort, während sie die Arme durchgestreckt hielt. Ihre Augen hefteten sich konzentriert auf die schmale Straße, die vom Dock wegführte. Seit sie ihren Führerschein hatte, hasste sie es, alleine Auto zu fahren. Situationen wie diese machten es nicht besser. Das einzig Positive, was sie daran finden konnte, war, dass die Sonne noch nicht untergegangen war.

_____

Ava war von ihrer eigenen Beherrschung überrascht, als sie das Auto zum Stehen brachte, ohne am ganzen Körper zu zittern. Scharf sog sie die Luft an. Die ganze Fahrt über hatte sie den Atem regelrecht angehalten. Die einzige Ausnahme waren einige kurze, oberflächliche Versuche ihre Lungen zu füllen gewesen, die sie gerade so davon abgehalten ein für alle Mal den Verstand zu verlieren.

Nie wieder! Nie wieder stieg sie bei diesem Nebel alleine ins Auto, schwor sie sich. Ihre Finger hatten sich um das Lenkrad zu gekrümmten Klauen geformt, als würde sie sich damit gleichermaßen an ihr Leben klammern. In ihren Handflächen hatte sich ein dünner Schweißfilm gebildet, der glänzende Spuren auf dem schwarzen Kunststoff des Steuers hinterlassen hatte. Der pochende Schmerz, der sich während des Fluges in ihrer Stirnregion angebahnt hatte, war mittlerweile zu hämmernden Kopfschmerzen mutiert.

Wie in Zeitlupe befreite sie sich von ihrem Anschnallgurt und sammelte die Sachen zusammen, die sie auf dem Beifahrersitz verteilt hatte. Dann öffnete sie langsam die Fahrertür und sprang aus dem Auto. Das Gras knirschte unter ihren Schuhen, als sie die Tür des Gefährts zuschlug und über die wild wuchernde Wiese zum Kofferraum herüberlief. Dabei vermied sie absichtlich den Blick zu dem Haus in ihrem Rücken herüberwandern zu lassen. Es fühlte sich albern an, da sie sich früher oder später sowieso damit auseinandersetzen müsste. Doch zu groß war die Angst vor den Erinnerungen, die der Anblick über sie hereinbrechen lassen könnte. Also nutzte sie jede Sekunde, die ihr blieb, um den Moment der Wahrheit vor sich herzuschieben.

Kaum hatte sie alles aus dem Kofferraum geholt, waren ihre Aufschubs Möglichkeiten jedoch aufgebraucht. Mit einer unerwarteten Wucht schlug sie den Kofferraum zu. Sie fühlte sich lächerlich, als sie einen tiefen Atemzug nahm und die Augen zukniff, während sie sich umdrehte. Einige Sekunden lang hielt sie die Lider einfach zusammengekniffen. Dann überwand sie sich jedoch und schlug sie langsam auf.

Ihr Atem stockte, als sich das riesenhafte Haus vor ihr aufbäumte, das einmal ihr Zuhause gewesen war. Doch jede Chance darauf, jemals wieder das Gleiche fühlen zu können, schien mit ihren Eltern begraben worden zu sein. Dass Zuhause kein fester Ort war, hatte sie erst spät realisiert. Just in diesem Moment wurde es ihr allerdings erneut klar. Sie bezweifelte stark, dass es ihr gelingen würde aus Spring Haven ein weiteres Mal ein Zuhause zu machen. Nicht wenn alles, das sie einmal hier gefestigt hatte, wie vom Meer dahin gespült war.

Langsam trottete sie über das Gras, auf dem sie geparkt hatte, auf den schmalen Kiesweg zu, der sich auf den Eingang zu schlängelte. In einem ungewöhnlich warmen Sommer hatte die ganze Familie die Abende damit verbracht, die Veranda in neuem Weiß erstrahlen zu lassen, nachdem ihr Vater im Keller auf alte Pinsel gestoßen war. Mittlerweile bröckelte die Farbe an einigen Stellen, während sie sich an anderen regelrecht ablöste und den Blick auf das darunterliegende Holz freigab. An einem der Holzpfeiler kletterte eine schmale Ranke mit üppigen Blättern hinauf, die zu entfernen vermutlich ein echter Krampf sein würde. Die Blumen in den hölzernen Blumentöpfen neben der Haustür waren ausgeblichen und wenigen, verdorrten Blättern zusammengeschrumpft.

Probeweise setzte sie zuerst nur einen Fuß auf die Stufen, die zu dem schmalen Vorbau hinaufführten. Sie versuchte sich einzureden, dass sie sich bloß wieder zu viele Gedanken machte und dass ihre Sorge vollkommen zu berechtigt. Doch lieber ging sie einmal mehr sicher, als dass sie am Ende mit beiden Füßen in eine morsche Treppe einbrach und keine Menschenseele in der Nähe war, um ihr aus dem Schlamassel herauszuhelfen. Nachdem sie ihre Fußsohle mehrfach darauf gestemmt hatte, ein paar Mal vorsichtig und dann ein wenig beherzter, fühlte sie sich sicher genug, den zweiten Fuß nachziehen zu lassen. So nahm sie Stück für Stück jede der drei Stufen, bis sie letztendlich am oberen Ende ankam.

Ava war froh, als sie die Hand vom Griff ihres Rollkoffers lösen und in ihrer Jackentasche verschwinden lassen konnte. Hier war es zwar nicht so eisig wie auf dem Schiff, doch die Kälte brachte sie weiterhin zum Zittern. Als sich ihre Finger um den Schlüsselbund legten, den Conrad ihr zum Geburtstag feierlich überreicht hatte, atmete sie erleichtert aus. Zumindest war sie nicht so blöd gewesen, die wichtigste Sache zu vergessen. Ansonsten hätte sie ihr Vorhaben abbrechen können, bevor es richtig begonnen hatte.

Als sie den Schlüssel ins Schloss steckte und herumzudrehen versuchte, stieß sie auf einen Widerstand. Vorsichtig stellte sie ihre Reisetasche neben sich ab, bevor sie einen zweiten Versuch startete. Dieses Mal lehnte sie sich mit all ihrem Gewicht dagegen. Mit einem leisen Klicken schwang die Tür auf und Ava musste sich an der Klinke festhalten, um nicht unkontrolliert in den Flur hineintaumeln.

Kaum stand sie wieder sicher auf ihren Füßen, warf sie einen Blick in den Flur. An den eng zusammen liegenden Wänden lagen mehrere Türen, bis der Gang in das breite Wohnzimmer mündete. Als hätte eine fremde Kraft ihren Geist entmachtet und die Kontrolle über ihren Körper übernommen, bewegte sie sich vorwärts. Vorsichtig setzte sie einen Fuß vor den anderen, während ihr Blick wanderte. Im Gegensatz zu der Farbe an der Veranda hatte der Zahn der Zeit nicht in der Wandfarbe im Flur genagt.

Im offenen Wohnzimmer angekommen, kam sie zum Stehen. Durch die bodentiefen Fenster fielen seichte Sonnenstrahlen in den weitläufigen Raum. Dass es die Letzten dieses Tages waren, deutete die Sonne an, die hinter den Bergen bereits unterzugehen begann. Das Licht tanzte auf der Oberfläche des Sees, der sich hinter dem Haus weit auftat, und brachte das Wasser zum Glitzern. Einige Minuten lang stand sie einfach da und starrte auf das Gewässer hinaus. Dieses Bild war so wunderschön, wie sie es in Erinnerung gehabt hatte. Sie hatte damit gerechnet, es nicht mehr so vorzufinden, doch scheinbar war das hier der einzige Ort auf der Welt, an dem die Zeit stillstand.

Den Eindruck erweckte auch das Wohnzimmer, als es ihr letztendlich gelang, ihren Blick von der Natur zu lösen. Alles schien dort zu liegen, wo sie es vor sechs Jahren zugelassen hatte. Das scharlachrote Sofa lud mit seinen dicken Polstern und runden Kissen zum Hinsetzen ein. Der Wohnzimmertisch war mit sichtbar gelesenen Büchern und losen Papieren übersät. In der Ecke stand eine Stehlampe, die ihr mittlerweile vermutlich bis zur Brust ging. Lediglich die Staubschicht, die sich auf dem Mobiliar gebildet hatte, war neu. Wie ihr vorher nicht klar gewesen war, dass nach ihr nie wieder jemand hier gewesen war, konnte sie sich nicht erklären. In diesem Moment traf sie die Realisation jedoch wie ein Wuchtschlag direkt in die Magengrube.

Instinktiv heftete sich ihr Blick auf den smaragdgrünen Wohnzimmerteppich, als würde sie erwarten, dort noch den Abdruck ausmachen zu können, den ihre Mutter hinterlassen hatte. Ihr Herz sank bei dem Gedanken wie ein schwerer Stein in ihrer Brust. Oft hatte sie sich daran zurückerinnert, wie Holling Kingsley nur wenige Meter vor ihr auf dem Teppich urplötzlich zusammengebrochen und nie wieder von dort aufgestanden war. Doch keine Erinnerung war vergleichbar damit, wieder hier zu stehen.

Sie fühlte sich erneut wie das fünfzehnjährige Mädchen, das ihre Schultasche achtlos zu Boden fallen ließ, als ihre Mutter nicht antwortete. Unter ihren Knien meinte Ava erneut dumpf den Aufprall ihrer Knie auf dem harten Holzboden zu spüren, als die Erinnerung über sie hereinbrach wie die Wellen des alaskischen Meers und sie hinab in die dunkelsten Tiefen ihrer Vergangenheit sog.

Bevor sie sich auf etwas Besseres besinnen konnte, knickten ihre Knie unter ihr ein. Dieses Mal spürte sie den Schmerz klirrend in ihren Gelenken, doch er reichte nicht aus, um ihre Sicht zu klären. Stattdessen schien die Realität um sie herum nur weiter zu verschwimmen und Vergangenheit und Gegenwart vor ihren Augen zu vermischen.

Sie streckte ihre Hände nach der Stelle aus, an der ihre Mutter gelegen hatte. Ihre Finger zitterten und ihr Atem beschleunigte sich so rasant, dass ihre Lungen brannten. Vor ihren Augen tat sich die Erinnerung an den noch immer warmen, aber leblosen Körper ihrer Mutter auf. Das Bild wirkte so real, dass sie beinahe geglaubt hätte, sie wäre in der Zeit zurückgereist, wenn sie es nicht besser wüsste. Sie schüttelte sich, als könnte sie die Gedanken damit vertreiben.

Das hier war lediglich eine Projektion aller Trauma, die ihr Kopf ihr vorspielte. Da war sie sich sicher. Doch es war erschreckend, wie es sich anfühlte. Sie hatte das Gefühl, wenn sie ihre Hand nur ein paar Zentimeter weiter ausstreckte, könnte sie in die blonden Haare ihrer Mutter greifen. Noch einmal den seichten Geruch ihres Parfüms spüren, der in Wirklichkeit längst verflogen war.

Ihre Unterlippe bebte. Tränen stiegen ihr in die Augen. Dieser Ort war ein Mahnmal von allem, das sie verloren hatte. Allem, das sie nie mehr haben würde. Für immer würde sie das Mädchen vom See sein, deren Vater auf unerklärliche Weise in einer schicksalhaften Nacht in seinem Auto starb und deren Mutter wenige Tage später starb, weil sie es nicht erwarten konnte, ohne ihren Mann zu sein. Den Tod ihres Vaters erklärte die Polizei mit einem Autounfall im Schnee. Dem Ableben ihrer Mutter schrieben sie eine Tablettenvergiftung zu. An letzteres hatte sie nie geglaubte.

Holling Kingsley war nie süchtig nach etwas gewesen. Höchstens nach Zimtplätzchen und daran konnte Ava nichts Bösartiges finden, egal wie man es drehen und wenden mochte. Nachdem Tod ihres Ehemannes hatte sich die Trauer wie ein dunkler Umhang um ihre Schultern gelegt und das Leuchten in ihren Augen verblassen lassen. Doch Ava hatte das nie auf Tabletten zurückgeführt.

Vielen war es nach dem Tod von Haiden Kingsley, ihrem stadtbekannten Vater schlecht ergangen. Dass es seiner Familie schwerfallen würde, einfach weiterzumachen, war kaum verwunderlich. Besonders ihrer Mutter, die ihren Vater tiefer und inniger geliebt hatte, als es in Worte zu fassen, möglich war. Dieser Tatsache hatte sie die Veränderungen im Verhalten ihrer Mutter zugeschrieben.

Letztendlich würde sie die Wahrheit nie kennen. Genauso wenig, wie sie wissen würde, was genau mit ihrem Vater geschehen war. Und vielleicht war es besser so. Vielleicht half es ihr endlich, damit abzuschließen, wenn sie das Haus und all den Krempel darin einfach loswurde und nicht mehr zurückblickte. Das war das einzig Richtige, versuchte sie sich zu sagen. Was brachte es ihr, in der Vergangenheit zu stöbern? Das Einzige, was es bezwecken würde, wäre, dass sie noch unglücklicher würde als sie es bereits war. Zumindest war es das, was ihr Verstand ihr mit aller Kraft zurief, um das leise Flüstern der Neugier zu übertönen.

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