Kapitel 2
Conrad wanderte am Fuß der Treppe auf und ab. Immer wieder versuchte der Familienvater, die Hände hinter dem Rücken zu verschränken, konnte sie dann aber doch nicht still halten. In diesem Moment landete seine rechte Hand erneut in seinem Haar, während er mit dem Kiefer mahlte. Sein ganzer Körper strahlte eine Aufregung ab, die an dem sonst so gelassenen Mann befremdlich erschien.
„Dauert sowas immer so lange?", er wandte sich zu den Mädchen um, die sich mit ihm im Flur niedergelassen hatten. Er deutete mit einem Finger auf seine Tochter: "Bei dir hat es damals nicht so lange gedauert, nicht wahr?"
Der Anblick ihres Onkels entlockte Ava ein Lächeln. Seit sechs Jahren lebte sie mit ihm unter einem Dach. Trotzdem hatte sie ihn selten so in Aufruhr erlebt. Dass es gerade der Homecoming Ball seiner jüngsten Tochter, der ihm diese Emotionen entlockte, war gleichermaßen unerwartet und amüsant.
„Bei mir hat es viel länger gedauert", Adelaide stieß ein erheitertes Lachen aus, als sie ihren Vater kopfschüttelnd musterte.
„Das ist unmöglich", er schüttelte den Kopf, als könnte er die Worte seiner ältesten Tochter nicht glauben: "Sie sind sicher schon eine Stunde da oben. Wir müssen bald losfahren, wenn sie nicht zu spät kommen will. Vielleicht sollte ich mal hochgehen und nach ihnen schauen. Nur um sicher zu sein, dass alles gut ist."
„Es sind nicht einmal zwanzig Minuten vergangen", Adelaide löste sich von der hölzernen Wand, gegen die sie sich gelehnt hatte. Fast bedächtig legte sie ihrem Vater die Hände auf die Schultern: "Gib ihr noch ein paar Minuten. Sie kommen gleich runter. Mom verliert die Zeit nicht aus den Augen."
Der bittere Geschmack der Wehmut machte sich in Avas Mund bemerkbar, als sie ihre Familie beim Herumalbern betrachtete. Einerseits war sie froh, diesen Moment miterleben zu können. Andererseits blutete ihr Herz bei dem Gedanken, sie verlassen zu müssen. Es mochten nur wenige Wochen sein - zumindest hoffte sie darauf. Doch allein der Gedanke, in weniger als zwei Stunden durch diese Tür zu schreiten und sich in das bekannte Unbekannte zu stürzen, das Spring Haven war, ließ den wachsenden Kloß in ihrem Hals augenblicklich schneller anschwellen.
Ihr stieg der Geruch von Zimt und Orange in die Nase. Um diese Zeit des Jahres zog er wie von selbst in das Haus ein. Sie schloss die Augen, das betörende Aroma inhalierend, als würde sich auf diese Weise ein Stück zu Hause einbrennen, das sie mitnahm, egal wovon sie wanderte.
Als ihr Blick auf den dunklen Koffer fiel, den sie am Morgen sorgfältig neben dem Schuhregal platziert hatte, verschwamm die Welt um sie herum. Ihr lief ein Schauer über den Rücken, als das Blut in ihren Adern erkaltete. Allein zu sein, hatte sie nie bekümmert. Oft suchte Ava sie, begrüßte sie mit offenen Armen. Vielmehr war es die Einsamkeit, die sie fürchtete. War sie einmal in Alaska, konnte sie nicht so einfach zurück. Sie wäre vollkommen auf sich allein gestellt.
Das leise Knarren einer Tür, das von oben an ihre Ohren drang, riss Ava aus ihren Gedanken. Instinktiv erhob sie sich von dem Sitz, auf dem sie so lange im Schneidersitz gesessen hatte, dass ihre Beine einzuschlafen gedrohten hatten. Sie wollte den Mund öffnen, um die Aufmerksam der Anderen auf die plötzliche Regung zu lenken.
Bevor sie ein Wort hervorbrachte, erschien Megan Kingsley am oberen Treppenabsatz und blickte auf die Gruppe wartender Familienmitglieder hinunter. Ihre Tante war eine wunderschöne Frau. Während Adelaide eine unbestreitbare Ähnlichkeit zu ihrem Vater hatte, war Juniper ihrer Mutter wie aus dem Gesicht geschnitten. Ihr Haar war einige Schattierungen dunkler, als Junipers, doch erinnerte gleichermaßen an Flammen, die um ihren Kopf loderten. Die dünnen Sommersprossen auf ihren Wangen verliehen ihr etwas einzigartig schönes. Doch es waren ihre grünen Augen, die Ava vom ersten Tag an in ihren Bann gezogen hatten. Darin lag solch ein warmer Ausdruck, dass er jede Anspannung schmälern konnte und ihr jedes Mal, wenn sie hineinblickte, auf mysteriöse Weise das Gefühl gab, alles würde schon irgendwie gut werden.
„Sie ist fertig", Megans Stimme war weich wie Samt auf der Haut. Während sie sprach, wandte sie den Kopf zur Seite und winkte ihrer Tochter mit einer auffordernden Handbewegung zu: "Komm, nicht dass du zu spät kommst."
Ava erwischte sich, wie sie einen Schritt vorwärtsmachte, um neben die anderen zu treten, und den Kopf interessierte reckte. Aus dem Augenwinkel bemerkte sie schmunzelnd, dass die anderen es ihr gleichtaten.
Juniper ließ sich von ihrer Mutter nicht lange auffordern. Kaum hatte Megan den Satz beendet, tauchte die Teenagerin am Treppenabsatz auch. Langsam setzte sie einen Fuß vor den anderen. Ava konnte nur vermuten, dass sie die Schritte bis zur ersten Stufe zählte. Damit hatte sie begonnen, seit sie in jungen Jahren die Entfernung falsch eingeschätzt hatte und gestürzt war. Vorsichtig streckte sie die Hand aus und Megan ergriff sie fest.
„Sieht sie nicht wunderschön aus?", auf ihren Lippen thronte ein Lächeln, das nur eine stolze Mutter besaß.
„Wahnsinnig schön", kam es wie aus der Pistole geschossen von Adelaide. Als Ava einen Blick zu ihrem Onkel warf, wärmte sein Gesichtsausdruck ihr Herz. Es war, als würde er sie wieder sehen wie damals, als er sie zum ersten Mal in seinem Leben auf dem Arm hielt. Das Glänzen in seinen Augen erzählte eine Geschichte, wie eine Leinwand, auf der sich alte Erinnerungen abspielten wie ein Film. Conrad gab sich keinerlei Mühe, es zu verstecken.
Als Juniper, Hand in Hand mit ihrer Mutter, die Treppe hinunterstieg, erinnerte sie an eine Elfe, wie sie so leichtfüßig die Treppen hinunterstieg, als würde sie mühelos über die Stufen hinwegfliegen. Das rote Haar hatte ihr Megan bis auf ein paar lose Locken, die bei jedem Schritt auf ihrer Schulter wippten, hochgesteckt.
Bei dem Anblick kamen Ava ihre Worte von vor wenigen Tagen wieder in den Sinn.
Wie ein Fuchs im Schnee.
Sie schmunzelte leicht. Sie kam nicht umher, zu bemerken, wie treffend diese Beschreibung gewesen war.
Tief in ihrem Inneren fühlte sie sich miserabel, weil sie Juniper verschwieg, dass sie verschwunden sein, wenn sie vom Schulball zurückkehrte. Trotzdem redete sie sich ein, dass es so leichter war. Für wen, konnte sie jedoch nicht sagen. Ihr Lächeln erstarb. In ihrem Magen rumorte es. Jede Faser ihres Körpers rebellierte gegen ihre Entscheidung. Sträubte sich, wand sich. Doch sie konnte nicht nachgeben. Nicht, wenn sie die Vergangenheit irgendwann abschütteln wollte. Ihr verblieb nichts anderes, als zu hoffen, ihr Verstand möge ein unbarmherziger Diktator sein.
Ava machte einen Schritt rückwärts, als Juniper am Treppenabsatz zum Stehen kam. Sie versuchte mit aller Kraft ihre Aufmerksamkeit auf die anderen zu lenken. Darauf wie Adelaide die Rothaarige in ihre Arme schloss und versuchte dem Rat zu lauschen, den sie ihr gab. Doch die Worte wurden in ihren Ohren zu einem undurchdringbaren Rauschen, während der Flur um sie herum verschwand. Sie kniff die Augen zusammen, um den Blick fest auf das Schauspiel zu richten, das sich vor ihr abspielte, als Conrad an die Seite seiner Tochter trat und sich bei ihr unter hakte. Doch in ihrem Kopf drehte sich alles. Was, wenn sie das nicht konnte? Wenn sie nicht erneut alles hinter sich lassen konnte, was sie zu lieben gelernt hatte? Selbst wenn es nur für wenige Wochen waren. Der Gedanke aus wenigen Wochen könnte eine Ewigkeit werden, drückte ihr die Luft aus den Lungen und ließ sie schwer atmen.
Lange hatte sie die Angst tief in ihrem Inneren eingeschlossen, wie einen Vogel im goldenen Käfig, und jeden Tag dafür gekämpft, die Erinnerung an das Versteck des Schlüssels aus ihren Erinnerungen zu schwärzen. Doch als sie von ihrem Onkel erfuhr, was ihre Eltern ihr hinterlassen hatten, waren all ihre Bemühungen vor ihren Augen zu Staub zerfallen. Die verheißungsvollen Worte hatten sie an diesen dunkelsten Ort ihrer Seele zurückgeführt und die massiven Gitterstäbe des Käfigs rücksichtslos zerbersten lassen.
Ava zuckte zusammen, als etwas ihre Schulter streifte. Im nächsten Moment spürte sie das Holz der Garderobe in ihrem Rücken und kam stolpernd zum Stehen. Die Blondine blinzelte ein paar Mal. Sie hatte gar nicht gemerkt, dass sie weiter rückwärtsgegangen war.
„Ava?", Megan machte einen Schritt auf ihre Nichte zu, mit einer Hand vor ihrem Gesicht herumwedelnd, als wäre sie sich nicht sicher, wo Ava gerade mit den Gedanken war: "Ist alles okay?"
„Was ist passiert?", Junipers Stimme klang besorgt, als sie den Kopf in die Richtung streckte, aus der das Poltern gekommen war.
„Schon gut, ich bin nur gestolpert", auf unerklärliche Weise fühlte sie sich ertappt: "Es geht mir gut."
Den letzten Satz sagte sie mit einem Nachdruck, der den Anschein weckte, als müsste sie sich selbst davon am meisten überzeugen. Vorsichtig tastete sie mit einer Hand das Holz der Garderobe hinter sich ab, um ihren Halt wiederzufinden.
„Wir sollten besser los", verkündete ihr Onkel mit einem Blick auf die Uhr, die er mit einem verschlissenen Lederband fest um sein Handgelenk gelegt hatte: "Außer du willst es dir noch anders überlegen."
Es war offensichtlich, wie sehr er seine Worte nach einer Frage klingen lassen wollte, um die Hoffnung, die sich wider Willen in seine Stimme mischte, zu übertünchen. Dabei stellte er sich jedoch nur wenig erfolgreich an. Adelaide stieß einen Seufzer aus, als hätte sie damit gerechnet.
Juniper versteifte sich an seinem Arm: "Ich weiß, dass es dir lieber wäre, wenn ich einfach hier bleiben und mit dir den ganzen Abend Pizza essen und Filme schauen würde. Aber ich möchte da wirklich gerne hin, Dad."
In ihrer Stimme lag etwas Wehmütiges, als sie ihrem Vater bittend anblickte: "Ich kenne die Regeln und halte mich daran. Versprochen!"
Als das nicht auszureichen schien, schob sie hinterher: "Addy und Ava habt ihr in meinem Alter auch gehen lassen und es ist nichts passiert."
Wäre sie von ihrem unerwarteten Fehltritt nicht immer noch benommen, hätte Ava sich ein Grinsen nicht verkneifen können. Die jüngste - Schwestern - Karte. Wie niederträchtig.
Sie sah zu Addy herüber, beinahe erwartend, dass sie das Gleiche dachte. Doch diese hatte den Blick auf ihre Hände gerichtet und strich mit einem Daumen über den anderen. Sie wirkte nervös. Es dauerte einen Moment, doch dann machte es 'klick'. Nur sie beide kannten die Wahrheit. Niemand außer ihnen wusste, dass damals doch etwas passiert war. Das einzige Überbleibsel waren das Ultraschallbild an der Pinnwand in Addys Zimmer und die Erinnerungen.
Dieses Mal streckte Ava ihre Hand nicht aus und sprach sie nicht darauf an. Nicht in Gegenwart ihrer Eltern. Sie auf diese Art vor den Bus zu stoßen, wäre unfair. Stattdessen warf sie ihr einen unlesbaren Blick zu, der zu einer Geheimsprache zwischen ihnen geworden zu sein schien.
Sie ließ sich auf den Stuhl neben der Garderobe sinken. Plötzlich waren ihre Muskeln wie paralysiert, als hätten ihr die Gedanken an die Reise die Lebenskraft aus dem Körper entrissen. Wortlos sah sie dabei zu, wie Conrad ein weiteres Mal die Regeln aufzählte, die er sich sorgfältig für Events wie diese zurechtgelegt hatte. Während er vor sich hin rezitierte, wurde das Lächeln auf Tante Megans Lippen immer breiter und sie schien nicht anders zu können, als ungläubig mit dem Kopf zu schütteln, als er Juniper zum wiederholten Male seit Ankündigung des Balls das Versprechen abnahm, sich an seine Vorschriften zu halten.
„Jetzt fahrt los. Sonst kommt ihr nie an der Schule an", sie machte eine Handbewegung in Richtung der Tür, als würde sie Hühner aus durch den Stall scheuchten. Als Conrad, wenn gleich etwas missmutig über das schnelle Abtun seiner Regeln, Juniper zur Tür geleitete, zog ihre Mutter sie in eine kurze Umarmung: "Ich wünsche dir ganz viel Spaß, mein Schatz. Falls etwas sein sollte, kannst du uns alle jederzeit anrufen."
„Ich weiß, Mom", Juniper kicherte, als ihre Mutter ihre Schulter sanft drückte: "Ich bin kein Kind mehr. Ich werde schon nichts anstellen."
„Hoffe ich für dich", erwiderte Megan mit einem Lachen, wenn gleich es den darin enthaltenen Ernst nicht überspielen konnte.
Kurz winkte Juniper den verbleibenden Hausbewohnern mit der freien Hand zu, bevor sie sich von ihrem Vater endlich durch die Tür auf die Veranda ziehen ließ. Im nächsten Moment fiel die Haustür ins Schloss, sie waren verschwunden.
Ava erwischte sich dabei, wie sie einen tiefen Atemzug nahm und sich eine trügerische Erleichterung in ihr ausbreitete. Damit erleichterte sich der Abschied zumindest. Alles war sorgfältig geplant, damit sie keinen Rückzieher machen konnte. Obwohl sich ihre Beine wackelig anfühlten, rang sie sich langsam dazu durch, sich vom Stuhl zu erheben.
„Wir sollten bald zum Flughafen fahren, nicht wahr?", Ava blickte zu Addy herüber, die sich mittlerweile mit verschränkten Armen gegen das Treppengeländer gelehnt hatte.
Sie hatte sich nicht aufdrängen wollen und überlegt, mit dem letzten Bus in Richtung Flughafen zu fahren. Doch Adelaide hatte felsenfest darauf bestanden, sie zu fahren.
„Vermutlich", gab sie zurück, während sich ihr Körper selbstständig machte. Ihr Kopf war wie ausgeschaltet, als sie den Mantel vom Haken nahm. Für den Herbst in Washington wirkte er viel zu warm, doch sie war überzeugt, dass er ihr eine Erleichterung sein würde, wenn sie ihr Ziel erreichte. Die Sache war ihr bereits unliebsam genug. Dabei musste sie nicht auch noch frieren.
Sie legte die Jacke um ihren Arm und schlüpfte in ihre Turnschuhe. Dabei ließ sie den Blick über die Garderobe wandern. Sie konnte das Gefühl nicht loswerden, dass sie irgendetwas vergaß. Als ihr jemand von hinten eine Hand auf die Schulter legte, zuckte Ava leicht zusammen.
„Soll ich euch helfen, die Sachen ins Auto zu bringen?", Megans Stimme hatte etwas Beruhigendes, das sie dazu brachte, endlich einen tiefen Atemzug zu nehmen.
„Meinst du denn, ich habe alles?", stellte sie eine Gegenfrage. Obwohl sie erwachsen war, gab es ihr eine gewisse Sicherheit, Megan noch einmal darüber blicken zu lassen, wie sie es früher getan hatte.
„Hm, lass mich überlegen", der Blick der Frau wanderte über die Reisetasche und den Koffer, den sie gepackt hatte. Dann musterte sie Ava.
„Hast du einen Schal und eine Mütze?", hakte sie nach, als ihr Blick an Ava hängen blieb: "Zahnbürste und Zahnpasta? Handtücher?"
In Gedanken ging sie die Aufzählung durch. Ihre Augen huschten zwischen dem Koffer und der Tasche hin und her, als würde sie sich daran zu erinnern versuchen, was sie wo eingepackt hatte.
„Schal und Mütze habe ich noch nicht", verkündete sie dann nach gründlicher Überlegung, während sie sich vorbeugte, um in dem Sack herumzuwühlen, in dem sie ihre Wintersachen verstauten. Letztendlich fielen ihr ein grauer Schal und eine lachsfarbene Pudelmütze in die Hände.
Beides hochhaltend, drehte sie sich zu Megan um.
„Tada", sie versuchte beschwingt zu klingen, obwohl sie sich nicht ansatzweise so fühlte.
„Hast du dir warme Schuhe eingepackt?", sie deutete auf die Turnschuhe an ihren Füßen: "Damit frierst du dir die Zehen ab, wenn es kälter wird."
Ava ließ die Arme sinken und blickte auf ihre Schuhe hinunter. Sie trug eines der wenigen Schuhpaare, das sie besaß. Mehr als ihre Turnschuhe brauchte sie normalerweise nicht. Deshalb hatte sie über alles Sorgen gemacht, nur nicht über ihre Schuhe.
„Daran habe ich nicht gedacht", gab sie ehrlich zu. Im letzten Jahr hatte es kaum Schnee gegeben. Die einzigen Winterschuhe, die sie besaß, waren dementsprechend alt und selbst wenn sie noch passten, konnte sie sich nicht entsinnen, in welche dunkle Ecke Ava sie verbannt hatte.
Adelaide schien ihre Misere bemerkt zu haben, denn sie stieß sich mit einer Hand vom massiven Holz des Geländes ab.
„Vorsichtig", murmelte die Dunkelhaarige und schob Ava, die sich vor dem Schuhregal positioniert hatte, vorsichtig zur Seite. Dann ging sie in die Knie und zog die unterste Schublade auf. Heraus zog sie ein paar hellbrauner Stiefel, aus denen oben ein weißes, unechtes Fell hinauslugte.
„Hier, du kannst meine mitnehmen", sie schreckte Ava das Schuhpaar entgegen: "Du hast versprochen, dass du bis Weihnachten wieder da bist. Vorher wird es hier sowieso nicht schneien. Wenn es dieses Jahr überhaupt schneit."
Ava stieß einen erleichterten Seufzer aus, als sie die Schuhe entgegennahm. Dass ihr Adelaides Kaufrausche, wenn es um Mode ging, einmal den Arsch - oder eher die kalten Füße - retten würden, hätte sie nicht für möglich gehalten.
„Danke", sie lächelte breit. Doch bevor sie sich auf der Suche nach einer zusätzlichen Tasche machen konnte, hielt Addy sie am Arm fest. Als Ava sich ihr zu wandte, streckte Adelaide ihr ein weiteres Paar entgegen.
Die Blondine zog fragend eine Augenbraue, als sie auf das Paar schwarzer High Heels hinabblickte. Wetter gerecht sahen die nicht gerade aus. Zuletzt hatte sie die Schuhe im ersten Semester hervorgekramt, als ihren Kommilitonen abends ausgegangen war. Danach hatte sie von Clubs und von Schuhen, die ihre Füße malträtierten, erstmal genug gehabt.
„Was soll ich damit?", ratlos blickte sie auf das schlanke, schwarze Modell mit den gefährlich schmalen Absätzen, das sie auf unerklärliche Weise einmal für eine gute Idee gehalten hatte.
„Pack sie einfach ein. Du musst für die Winterschuhe sowieso noch einen Beutel mitnehmen. Da passen die hier auch rein", sie drückte ihr die Schuhe in die freie Hand und erhob sich aus der Hocke: "Man weiß ja nie. Vielleicht steht dir der Kopf ja einfach mal danach herauszukommen, wenn du dich den ganzen Tag mit dem Erbe beschäftigst. Dann wirst du mir noch dankbar sein, glaub mir."
Ihre Augen richteten sich ein weiteres Mal auf die Stöckelschuhe. Möglicherweise hatte sie recht. Selbst wenn nicht, wäre es einfacher nachzugeben, als mit Adelaide darüber zu diskutieren, dass sie falsch lag.
„Hat denn einer einen Jutebeutel?", hakte sie nach und musterte die Garderobe, auf der Suche nach einem Sack, in dem sie die restlichen Sachen verstauen konnte.
„Hier!", Megans Stimme drang aus der Küche an ihre Ohren und Ava bemerkte, dass ihr nicht aufgefallen war, wie ihre Tante verschwunden war. Im nächsten Moment kam sie wieder in den Flur gerauscht. Das rote Haar wallte um ihren Kopf. Dabei schwenkte sie in einer Hand einen beigen Beutel, der gerade so groß genug für das Vorhaben wirkte. Kurz vor ihr kam sie zum Stehen und öffnete die Tasche so, dass Ava die Schuhe einfach hineinstopfen konnte. Kurz überlegte sie, quetschte den Schal und die Mütze dann aber dazu. Andernfalls würde sie beides vermutlich auf dem Weg zum Flieger irgendwo vergessen, denn anziehen konnte sie nichts davon, wenn sie sich während des Fluges nicht tot schwitzen wollte.
Während sie sich die Träger über die rechte Schulter schob, warf sie einen Blick auf ihre Armbanduhr. Bis sie im Flieger sitzen musste, waren es gerade mal noch zwei Stunden. Nervosität sprudelte in ihr hinauf wie ein Wasserfall. Wenn sie heute nicht flog, würde sie es nie tun.
„In zwei Stunden geht mein Flieger", verkündete sie und griff nach ihrem Koffer, um ihn zur Tür zu hieven. Der Blick, den sie zu Adelaide herüber war, enthielt eine deutliche Aufforderung, die ihre Cousine glücklicherweise zu verstehen schien. Addy sammelte die bleischwere Reisetasche über die Schulter und ging unter dem Gewicht leicht in die Knie, versuchte sich aber nicht anmerken zu lassen.
„Pass gut auf dich auf", Megan zog Ava in ihre Arme, bevor sie überhaupt Anstalten hätte machen können, ohne sich zu verabschieden.
„Ich verspreche es", murmelte sie in das rote Haar ihrer Tante hinein, dessen vertrauter Zimtgeruch ihr Herz erneut sinken ließ. Der Knoten in ihrer Kehle drehte ein weiteres Mal zu einer bedrückenden Größe anzuschwellen.
Megan drückte mit den Händen sanft ihre Schultern, bevor sie sich löste, um Ava ins Gesicht blicken zu können. Über ihre Augen, die für gewöhnlich vor Leben übersprühten, hatte sich ein dunkler Schleier gelegt. Sanft strich sie ihr eine blonde Strähne aus dem Gesicht und nahm ihr Gesicht in die Hände.
„Es ist okay nicht mit allem alleine fertig zu werden", ihre Stimme war ein Wispern, als sie zu ihrer Nichte sprach: "Sollte irgendwas sein, während du dort bist, musst du nur anrufen. Dann kommen wir und holen dich zurück nach Hause."
Ein Lächeln schlich sich auf Avas Lippen und sie schmiegte ihre Hand vorsichtig gegen Megans weiche Hand. In Momenten wie diesen fühlte sie sich erneut wie fünfzehn.
„Ich weiß, aber ich schaffe das schon", sie versuchte lässig abzuwinken, kam sich dabei aber einfach lächerlich vor.
Daraufhin stieß Megan lediglich einen Seufzer aus, den Ava nicht ganz deuten konnte. Dann nahm sie ihre Hände beiseite und nickte in Richtung der Haustür: "Adelaide wartet sicher am Auto auf dich. Du lässt sie besser nicht zu lange warten."
„Bis bald", war die Einzige, was sie hervorbrachte. Eine richtige Verabschiedung brachte sie nicht zustande. Lieber zögerte sie die Endgültigkeit der Trennung von ihrer Familie so lange es ging vor sich her.
Sie schob den Träger der Tasche noch einmal richtig über ihre Schulter, bevor sie mit dem Koffer in der Hand in Richtung der Haustür stolperte. Als sie auf die Veranda trat, bemerkte sie, dass Addy den Wagen bereits angelassen hatte. Der Kofferraum des kleinen, roten Autos, das sie sich im letzten Jahr vom Gehalt ihres Nebenjobs gekauft hatte, stand sperrangelweit auf. Die Reisetasche hatte sie bereits darin verstaut und wartete gegen die rechte Flanke gelehnt, auf ihre Cousine.
„Brauchst du Hilfe?", rief sie Ava zu, als diese den Koffer die wenigen Treppen von der Veranda bis in den Vorgarten schleppte.
„Schon gut", murmelte sie, während sie über den dünnen Weg zu ihrer Cousine herüberlief.
„Ich hab schon alles ins Navi eingegeben", erwiderte sie und nahm Ava den Koffer ab, als sie beim Auto stehen blieb. Während Addy das Gepäckstück verstaute, nahm die Blondine den Jutesack von ihrer Schulter und legte ihn oben auf den Stapel.
Schweigend schloss Adelaide den Kofferraum, während Ava bereits vorging und sich auf den Beifahrersitz sinken ließ. Während sie mit einer Hand nach dem Anschnallgurt suchte, sank sie im Sitz in sich zusammen. Das hier war es also. Das vorübergehend letzte Mal, dass sie ihre Familie sah. Es mochte bloß vorübergehend sein, doch trotzdem graute es ihr davor. Vor der Einsamkeit und vor der Unsicherheit über das, was sie erwarten würde, wenn sie von der Einfahrt fuhren.
_____
Ava ließ sich tiefer in den Flugzeugsitz sinken, als sie den Blick vom Fenster löste. Sie ertappte sich dabei, wie sie zum ersten Mal an diesem Tag Erleichterung in ihr ausbreitete. Ein trügerisches Gefühl, das sogleich von Schuld überschattet wurde. Dabei gab es keinen Grund dazu. Zumindest versuchte sie sich das einzureden. Sie war lediglich froh, dass soweit alles funktioniert hatte. Obwohl sie der Landung dieses Fliegers nicht gerade freudig entgegenfieberte, konnte sie nun zumindest keinen Rückzieher machen. Sobald sie wieder festen Boden unter den Füßen hatte, musste sie sich ihrer Aufgabe stellen und konnte nicht mehr kneifen. War sicher, wovor sie sich in den vergangenen Tagen gefürchtet hatte.
Sie schüttelte den Kopf, als würde sie sich damit von den Gedanken befreien können. Es half nichts, darüber nachzugrübeln. Zumal das hier der denkbar schlechteste Augenblick war, um ihre Gefühle zu ergründen. Das Wichtigste war, dass sie einen kühlen Kopf behielt und sich auf das Wesentliche konzentrierte. Sie würde die Dinge ihrer Eltern aussortierten und einen Käufer für ihr Elternhaus finden. War das einmal geschafft, konnte sie das hinter sich lassen, nach Washington zurückkehren und ein für alle Mal mit ihrer Vergangenheit abschließen.
Ihr Blick fiel auf den flackernden Bildschirm vor ihrer Nase. Nicht einmal eine halbe Stunde war sie in der Luft. Wenn die angezeigte Flugzeit stimmte, würde sie also erst in etwa viereinhalb Stunden an ihrem Ziel ankommen. Deshalb blieb ihr nichts anderes übrig, als die Zeit irgendwie totzuschlagen. Diese Zeit mit Grübeln zu verbringen, kam nicht infrage. Dann wäre sie mental bereits fertig, bevor sie ihr Ziel erreichte.
Sie löste den Blick vom leuchten Flugnavigator und reckte sich ein Stück, um ihn über ihre Umgebung schweifen zu lassen. Die Frau neben ihr im Businessanzug hatte ein Nackenkissen um ihren Hals gestülpt und döste friedlich vor sich hin. Damit war sie nicht die Einzige. Andere schauten Filme oder blätterten in Zeitschriften. Als sie hinter sich einen Mann entdeckte, der in ein Buch vertieft war, kam ihr die Verabschiedung von Addy wieder in den Sinn.
Schnell wandte sie sich wieder nach vorne und beugte sich vor, um ihren Beutel auf ihre Knie hochzuziehen. Glücklicherweise war er als Handgepäck durchgegangen. Mit einem kleinen Lächeln zog sie das Buch heraus, das ihr Adelaide beim Abschied überreicht hatte.
‚Ich bin nicht dazu gekommen, es zu lesen. Also gebe ich es dir lieber zurück. Sicher kannst du es besser gebrauchen, als ich', hatte Addy gesagt, als sie es aus ihrer Tasche gezogen hatte. Seit sie es ihr geliehen hatte, waren bereits so viele Monate vergangen, dass sich Ava kaum noch daran erinnert hatte. Dabei konnte sie sich noch gut auf den Moment besinnen, als sie es in der Buchhandlung entdeckt und stolz zur Kasse herübergetragen hatte. Da damals noch dabei gewesen war ein anderes Buch zu beenden, hatte sie es trotzdem an Addy verliehen, als diese sie darum bat. Wie sie es vergessen hatte, war ihr selbst ein Rätsel. Offensichtlich hatte Adelaide es nicht aus den Augen verloren.
So wie es aussah, würde sie mit ihren Worten recht behalten. Sie braucht es. Genau in diesem Moment war es das Beste, was ihre Cousine für sie hätte tun können. Vorsichtig legte sie das Buch auf ihren Schoß ab, bedacht darauf, den jungfräulichen Einband des Taschenbuches nicht sofort zu zerknicken. Schließlich war es bisher ungelesen.
Als sie es aufschlug, stieg ihr der geliebte Geruch von frischem Papier, der noch immer schwach an den Seiten haftete, in die Nase. Ein Seufzer kam ihr über die Lippen. Die Erinnerungen an die Abende, die sie mit Addy umgeben, von Bücherstapeln auf dem Sofa verbracht hatte, schoben sich vor ihr inneres Auge. Dumpf hallte in ihren Ohren ihr freudiges Lachen wieder, das sie schwer zurückzuhalten versuchte. Unzählige Abende hatten sie so verbracht. Einander die kitschigsten Zeilen aus verschiedensten Romanen vorlesend, in dem Versuch den anderen mehr zum Lachen zu bringen, als sich selbst.
In Erinnerungen schwelgend blätterte sie weiter zur Widmung. Dort kam sie überrascht zum Stocken. Zwischen den Seiten lag ein dünnes, dunkelgrünes Blatt, das seine weichen Äste wie Fühler von sich in die Höhe streckte. Seine Form erinnerte an eine kleine Tanne.
Ein verstohlenes Lächeln schlich sich auf ihre Lippen. Das konnte nur Adelaide gewesen sein. Sie hatte sich das ganz genau überlegt. Der Gedanke wärmte Avas Herz. Ihre Cousine hatte schon immer einen leuchtend grünen Daumen besessen. Deshalb war es kaum verwunderlich gewesen, als sie vor der ganzen Familie verkündet hatte, Botanik studieren zu wollen und diesem Pfad letztendlich wirklich gefolgt war. Daher wirkte es auf Ava kaum absonderlich, dieses Blatt anstelle einer Nachricht vorzufinden. Oft genug hatte Addy betont, wofür es stand.
Vorsichtig griff Ava nach dem Stängel und zog es von der Seite, sodass es vor ihren Augen im fluoreszierenden Licht des Bildschirms vor ihr leuchtete.
Der Lebensbaum bedeutet unerschütterliche Freundschaft. So wie unsere.
Wehmut flutete ihren Körper, als sie sich die Worte ihrer Cousine wieder in die Gedanken rief. Ohne es verhindern zu können, wanderten ihre Gedanken zu ihrer Verabschiedung am Flughafen. Addy hatte sie so fest gedrückt, dass Ava daran zu zweifeln begonnen hatte, ob sie sie je wieder loslassen würde. Hätte sie es nicht getan, hätte Ava ihr nicht einmal böse sein können. Was sie verband, war etwas Besonderes. Das hatte sie in dieser einen Nacht gewusst, in der Adelaide sich ihr zum ersten Mal anvertraute und Ava sie nicht weggestoßen hatte. Seither hatte es nicht gegeben, das ihre Treue zu ihrer Cousine jemals hätte erschüttern können. Adelaides wortlose Nachricht legte nahe, dass es ihr genauso ging.
Vorsichtig schlang sie die Arme um ihren Körper, um das Gefühl der Umarmung am Flughafen nachahmen zu können. Dabei stellte sie die Beine auf, ließ sich tiefer in ihren Sitz sinken und richtete den Blick auf das erste Kapitel ihres Buches. Das aufstrebende, schmerzhafte Pochen in ihrem Kopf ignorierte sie.
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