Kapitel 5
Sieben Jahre war es her, dass ich meine Schwester verloren hatte, und doch verging kein Tag, an dem es nicht schmerzte.
Ich hätte alles dafür gegeben, sie noch einmal lachen hören zu können, sehen zu können, wie sie sich aufregt, wie sie eine erwachsene Frau geworden wäre, wie sie eine eigene Familie gegründet hätte. All das und noch viel mehr wurde ihr von diesem Unseelie Abschaum genommen.
Zuerst nahmen sie Haster ihre geliebte Pearl, ihre erste große Liebe, und dann nahmen sie mir alles, was mir von meiner Familie geblieben war.
Und nichts davon wäre passiert, wenn ich nicht gewesen wäre.
Hätte ich mit Pearl nicht über die finanziellen Probleme ihrer Familie gesprochen, hätte ich ihr nie von den hohen Gehältern erzählt, die der Adel der Unseelie ihren Bediensteten zahlte.
Hätte ich auch nur eine Sekunde darüber nachgedacht, bevor ich es ihr anvertraute, wäre mir klar geworden, dass kein Gold der Welt es wert wäre, für diesen Abschaum zu arbeiten.
Hätte ich damals einfach meinen Mund gehalten, wäre sie nie zu König Kivil gegangen und hätte den Seelenvertrag der Fae unterschreiben müssen.
Hätte ich ihr nie geraten, in diesem Alptraum von einem Schloss zu arbeiten, hätte sie Kivil nie so anfassen können, wie er es getan hat.
Und hätte sie den Vertrag nicht auf meinen dummen Rat hin unterschrieben, hätte sie ihn nie gebrochen, als sie Haster von den Vergewaltigungen und Misshandlungen im Schloss erzählte.
Hätte Pearl nicht meinetwegen dieses Schicksal erlitten, hätte sie nie wegen Vertragsbruchs in den Seelenfluss steigen müssen und wäre nicht auf ewig verdammt.
Und wäre Pearl meinetwegen nicht fort, hätte Haster nie öffentlich gegen die Herrschaft der Unseelie gekämpft.
Hätte ich nicht durch meine Fehler Hasters Hass auf König Kivil verstärkt, wäre sie nicht ermordet worden.
Zwei weitere Tode, welche auf mein Konto gingen.
Ich lehnte mich an die Holztür in meinem Rücken und atmete tief durch, während Erinnerungen auf mich einprasselten.
Der Wind spielt mit meinen Haaren und Vogelgesang erfüllt die Luft, während mich das Gras an meinen nackten Unterschenkeln kitzelt.
Ich liege auf den Bauch im hohen Gras und spähe vorsichtig durch die einzelnen Halme hindurch.
Ich höre das zischen von Waffen, welche durch die Luft wirbeln und erkenne das Glitzern des Lichts auf dem zu können. Ich höre einen Mann Anweisungen brüllen und ein Mädchen, welches vor Anstrengung keucht und vor Frustration brüllt.
Nur noch ein kleines Stück und ich kann sehen, was dort passiert.
»Luceit!«, höre ich eine Stimme hinter mir tadeln und ich werde aus dem Gras gehoben.
Niedergeschlagen lasse ich mich wie einen nassen Lappen hängen, während mich meine Mutter an meinen Hüften hochhebt und dann auf die Füße stellt.
»Schatz, was machst du hier?«, kniet sie sich vor mich und streicht mein Kleid glatt, »du weißt doch, dass du deine Schwester nicht beim Training stören darfst.«
»Aber ich will zusehen.« Ich schere mit dem Fuß in der Erde, um meine Enttäuschung zu verbergen.
»Wenn du deine Schwester ablenkst, könnte sie beim Training verletzt werden. Sie braucht Ruhe und Konzentration. Verstehst du das, liebes?«
Ich nicke mit dem Kopf, ohne den Blick zu heben.
»Komm mit, wir machen was schönes zu essen für deine Schwester, damit sie sich nach dem Training stärken kann«, sagte meine Mutter und hält mir ihre Hand hin.
Ich greife nach ihren Fingern und sehe sie bedächtig an, »Nächstes Jahr bin ich schon zehn Jahre alt. Dann werde ich auch eine Assassine. Wie du und Papa. Und wie Haster.«
»Nein. Das wirst du nicht«, sagt sie, während sie stur weiter geradeaus blickt.
»Aber ich möchte auch eine Assassine werden. Ich möchte auch eine Heldin werden.«
Die Erinnerung verblasste vor meinen Augen, während ich die Tränen davon blinzelte und mir mit den Händen über mein Gesicht wischte.
Heute wusste ich, dass Assassinen Mörder waren und keine Helden. Meine Familie bestand aus Mördern und ich selbst war kein Stück besser.
Ich raubte, verstümmelte und tötete.
All das, damit Firion mich weiter unterrichtete, während ich Aufträge für ihn ausführte. Nichts was ich tat, konnte meine Schwester zu mir zurückbringen, aber ich würde sie rächen. Und das war mir jeden Preis wert.
Ich stieß mich von der Tür ab und machte mich auf den Weg zu den Treppen, um in mein Zimmer zu gehen und mich augenblicklich in mein Bett fallen zu lassen. Dann würde ich mich in Selbstmitleid suhlen und-
»Luceit!«, rief Anton durch den stimmenerfüllten Raum und winkte zu mir herüber.
Mein Blick glitt zwischen ihm und der Treppe hin und her. Die Stufen waren nur noch drei winzige Schritte entfernt, aber als ich wieder zu meinem Onkel blickte, schubste er gerade einen schmächtigen Mann vom Ende der Sitzbank und klopfte auf den nun freien Platz neben sich.
Ich schnaufte amüsiert und setzte mich in Bewegung. Noch während ich auf den langen Tisch zuhielt, rief Anton eine der Damen mit Serviertablett herbei und lehnte sich zu ihr, um ihr über die Lautstärke hinweg etwas zu sagen. Sie nickte eifrig und verschwand dann in der Menge.
Sobald ich mich setzte, zog Anton mich an sich und drückte mir einen groben Kuss auf die Schläfe. »Wo warst du denn, kleines? Wir haben dich hier vermisst.«
»So so, ihr habt mich also beim Bierkrug leeren vermisst? Scheint doch auch gut ohne mich geklappt zu haben«, sagte ich, während ich ihm in seine glasigen Augen sah und er setzte ein verschmitztes Lächeln auf.
»Ich sagte du hast gefehlt. Nicht, dass wir nicht ohne dich angefangen hätten.«
Ich lachte leise, als die Dame mit zwei großen Krügen auf ihrem Tablett wieder kam und diese vor mir und Anton abstellte, wobei ihr Blick argwöhnisch zwischen uns hin und her glitt und dabei eine Sekunde zu lang auf dem Arm verweilte, den er noch immer um meine Schultern gelegt hatte.
Ich legte meinen Kopf schief und beobachtete sie mit zusammengekniffenen Augen.
Sie musste neu hier sein, da ich sie vorher noch nie unter den Angestellten entdeckt hatte. Sie war groß, kurvig und bildschön. Ihr blondes Haar fiel ihr in langen Locken ins Gesicht und ihre blauen Augen durchbohrten mich geradezu.
Als sie das Wort an mich richtet, tropfte ihre Stimme vor Abscheu, »darfst du überhaupt schon Alkohol trinken? Du siehst so... jung aus.« Ein gehässiges Lächeln liegt auf ihren Lippen.
»Ich bin dreiundzwanzig«, fauchte ich und straffte den Rücken.
Dieses Hutzelweib wusste eindeutig nicht, dass Anton mein Onkel war und dachte wohl, ich wäre eines dieser Mädchen, welches den Männern das Geld aus den Taschen zieht. Sollte sie das doch denken, es war mir egal. Es ging sie ohnehin nichts an.
»Du solltest lieber zu sehen, dass du-«, setzte die Blondine wieder an, bevor Anton eine Hand hob und sie unterbrach, »ich habe mein Bier ohne Ratschläge bestellt, danke.«
Sie kniff ihre Augen zusammen, drehte sich wütend um und stapfte davon.
»Bei der sollten wir lieber kein Bier mehr bestellen. Nicht, dass sie uns noch in den Becher rotzt«, wandte ich mich wieder zu ihm um. Mein Onkel lachte so laut und herzlich auf, dass sich eine der braunen Strähnen aus seinen zurückgestrichenen Haaren löste und ihm ins Gesicht fiel.
»Doch, ich schwöre es. Ich habe es gesehen!«, rief ein Mann am Tisch und die Runde aus Männern lachte.
Der Fremde griff sich verzweifelt in sein blondes Haar und ließ die Strähnen dadurch zu Berge stehen.
»Was ist denn da los?«, flüstere ich Anton zu und beobachte aufmerksam das Gesicht des Fremden.
»Der Kerl dort«, sagte er und deutete mit seinem Krug in Richtung des Fremden, »denkt, dass eine Göttin kommen wird und die High Fae wieder den Thron der Seelie besteigen werden.«
»Aber das ist seit fast zweihundert Jahren nicht geschehen. Die Königin starb ohne einen Erben in die Welt zubringen«, schüttelte ich den Kopf und nahm einen Schluck meines Bieres.
Der Fremde merkte, dass Anton und ich uns über ihn unterhielten und sah mir tief in die Augen, ehe er sich über den Tisch in meine Richtung lehnte und Anton sich schützend aufrichtete und den Krug fester packte. Bereit, den Fremden damit den Schädel einzuschlagen und mich zu verteidigen, falls es nötig sein würde.
»Sie ist die ersten Sonnenstrahlen des Morgens, der Tau auf der Erde und die grünen Lichter am Sternenhimmel. Sie wird uns alle retten. Sie wird uns wieder vereinen«, stotterte der Fremde und ließ meinen Blick nicht los.
Sein blondes Haar war zerzaust, sein Hemd falsch geknöpft und sein Gesicht wirkte durch die tiefen Augenringe ganz eingefallen.
»Das reicht jetzt«, knurrte Anton und drehte sich schützend vor mich.
Über seine Schulter hinweg beobachtete ich, wie der Fremde eingeschüchtert in sich zusammensackte.
Was war nur mit ihm geschehen?
Er musst ein meinem Alter sein und doch war er schon so verwirrt und zerstreut. Ich hatte Mitleid mit ihm.
»Ist schon gut«, sagte ich beschwichtigend und legte Anton eine Hand auf den Oberarm.
Sein Blick glitt von dem unbekannten Mann zu mir und als er in meine Augen sah, wurden seine Gesichtszüge weicher. Schweigend nickte er und nahm einen Schluck aus dem Holzkrug, ehe er sich wieder dem Gespräch der betrunkenen Männern widmete.
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