Kapitel 1
Schwarze Nacht war alles, was ich sah. Es war stockduster. Perfekt.
Leise schlich ich über das Dach des Herrenhauses, dessen Dachziegel klamm vom Tau waren. Ich musste mich konzentrieren, um nicht abzurutschen.
Durch eines der Dachfenster glomm ein schwaches Licht und bekämpfte die Dunkelheit. In der Nähe des Hauses waren Stimmen und auch das Getrappel von Pferdehufen zu hören.
Das Pferd scheute und versuchte sich von den zwielichtigen Gestalten zu befreien.
»Mach nur so weiter blöder Gaul, dann landest du als Frühstück auf meinem verdammten Teller«, zog der Mann an den Zügeln und schüttelte damit den Kopf des Tieres.
Das arme Ding. Keine Sorge, ich werde dich hier rausholen.
Ich wandte mich erneut dem Dachfenster zu und schob behutsam die Klinge meines Messers zwischen Holzrahmen und Fensterbrett. Ich bewegte das Metall leicht hin und her, bis ich auf den Fensterverschluss stieß. Jetzt ganz vorsichtig und leise. Schnapp. Und auf war der Verschluss des Fensters.
Ich zog die Lederhandschuhe von den Fingern und drückte meine Handflächen gegen die Fensterscheibe. Mit einem leisen quietschen schob ich das Fenster nach oben.
Das Wegwischen der Fingerabdrücke sparte ich mir. Sollten sie doch danach suchen.
Diese Einzigartigkeit habe ich mir schon vor Jahren von den Handflächen gebrannt.
Gespenstisch wie ein Schatten ließ ich mich durch das offene Fenster in den Raum fallen.
Dort befanden sich zahlreiche alte Gegenstände wie eine verstaubte Nachttischlampe, ein zerbrochener Spiegel, einige verbeulte Kisten und Truhen, sowie ein paar veraltete Kleidungsstücke. Alles uninteressanter Plunder.
Doch dann sprang mir eine Farbe zwischen den Kleidern ins Auge. Ein wunderschönes dunkles Altgrün. Ich streckte vorsichtig meine Hände nach dem Stoff aus. Er war weich und seidig und das Kleid wirkte sehr hochwertig.
Es ist bedauerlich, dass es hier herumhängt und verstaubt - und das Grün passte so gut zu meinen roten Haaren.
Kurzerhand wanderte das Kleid in meinen Rucksack, welchen ich mir eilig wieder über die Schultern warf. Dabei streifte besagter Rucksack das Heft meines Schwertes und zog dieses beinahe aus der Scheide.
Gott sei Dank, waren meine Reflexe genauso schnell, wie ich tollpatschig bin. Ich erwischte das halb herausgezogene Schwert am Griff und schob es behutsam wieder in die Scheide.
Wäre dieses Schwert auf den Boden gesegelt, hätte der Aufprall vermutlich das gesamte Haus geweckt.
Ich atmete tief durch, um meine Gedanken zu sammeln.
Dann zog ich das Tuch, das mein Gesicht, meine Haare und mein Dekolleté verdeckte, bis knapp unter meine Augen.
Gut, ich gehe jetzt darein, finde den Familienschmuck von Madame Celia und verschwinde wieder. Rein, raus, fertig.
Obwohl ich schon seit ein paar Jahren als Assassine tätig war, machte es mich doch jedes Mal wieder nervös Aufträge auszuführen, bei denen ich stehlen musste.
Aber ich vermutete, dass das Adrenalin es ist, was den Job so spannend macht. Oder?
Ich legte behutsam eine Hand an die leicht geöffnete Holztür und sie schwang geräuschlos auf. Das gesamte Haus war hell erleuchtet, jedoch war kein Ton zu hören.
Keine Gespräche, keine Schritte, kein Schnarchen.
Ich runzelte die Stirn und zog die Augenbrauen zusammen. Etwas stimmte hier nicht.
Wie ein todbringendes schwarzes Stoffknäuel husche ich durch die hell erleuchteten Gänge des Obergeschosses. Das Licht war in diesem Moment wirklich nicht mein bester Freund.
Meistens befinden sich die Schlafzimmer im Obergeschoss. Und meistens wird der Schmuck im Schlafzimmer aufbewahrt. Mit etwas Glück fand ich also schnell, was ich suchte, und konnte den gleichen Weg zurückgehen, auf dem ich gekommen war. Rein, raus, fertig.
Ich spähte durch die ersten drei Türen des Hauptflurs. Ein Klavierzimmer, ein Abstellraum und ein "Spielzimmer", das ich lieber nicht gesehen hätte. Pfui. Im vierten Zimmer stand ein großes Himmelbett, eine Kommode und dort vor einem riesigen Fenster ein Frisiertisch, auf dem der Schmuck lag, den ich suchte. Wie auf einem Präsentierteller.
Wieder überkam mich das Gefühl, dass hier etwas nicht stimmte.
Im gesamten Haus brannte Licht, aber es war totenstill.
Außer den Wachposten vor dem Haus hatte ich niemanden gesehen.
Und nun lag hier so klischeehaft der Schmuck auf dem Frisiertisch im Schlafzimmer.
Das war alles zu einfach.
Misstrauisch ließ ich meinen Blick durch den Raum gleiten.
Ich entdeckte keine Schatten, keine Schuhe hinter den Vorhängen, keine angelehnten Türen, hinter denen sich jemand verstecken könnte. Ich entdeckte auch keine aufgestellten Fallen oder andere Dinge, hinter denen der Tod auf mich lauern konnte.
Was war hier los?
Langsam und vorsichtig setzte ich einen Schritt vor den anderen und näherte mich langsam aber sicher den Schmuckstücken.
Ich musste sie zurückbringen, ich durfte nicht scheitern. Koste es, was es wolle. Ich streckte meine Hände nach den Schmuckstücken aus und als ich sie anhob, passierte... nichts. Merkwürdig.
Behutsam steckte ich Kette und Ohrringe in meine Beuteltasche, die um meine Hüfte hing, und drehte mich zufrieden um, nur um frontal gegen eine stahlharte Männerbrust zu prallen. Langsam blickte ich auf und der Berg von Mann starrte mich an: »Hallo kleine Assassine.«
Ich wurde unsanft auf einen Stuhl im Nebenzimmer gestoßen und erdolchte den Mann mit Blicken.
Meinen richtigen Dolch und das Schwert hatte er mir abgenommen. Die kleine Klinge in meinem Stiefel hatte er allerdings nicht ertastet und auch den Schmuck von Madame Celia hatte er in meinem Beutel gelassen. Und der kleine Rucksack inklusive Kleid, waren noch auf meinen Rücken geschnallt. Einen guten Job hatte der Wachmann nicht getan.
Vor mir saß ein unappetitlich aussehender Mann an einem übergroßen Schreibtisch. Wirklich, dieser Schreibtisch war gigantisch. Ob dieser Tisch wohl etwas kompensieren sollte?
»Ich habe schon auf Sie gewartet«, sah mir der Kerl hinter dem Tisch in die Augen und erhob sich von seinem Stuhl.
Er trug einen viel zu engen Dreiteiler. Die Hose reichte nicht über seinen Bauch, und die Knöpfe seiner lilafarbenen Weste drohten sich zu lösen und mir geradewegs ins Gesicht zu springen.
Mit vor der Brust verschränkten Armen lehnte ich mich in meinem Stuhl zurück und musterte den Mann verächtlich.
Er schnaubte und verzog einen Mundwinkel zu einem spöttischen Grinsen, »Ich wusste, dass er Sie schicken würde, wenn ich den Familienschmuck seiner Frau stehlen würde. Und ich wusste auch, dass Sie so versessen darauf sein würden, ihn zurückzubekommen, dass Sie in eine offensichtliche Falle laufen würden. Aber keine Sorge, ich will Ihnen nichts tun, ich will nur mit Ihnen reden.«
Jetzt war es an mir zu schnauben und ich verdrehte - als Untermalung meiner Missbilligung – trotzig die Augen.
»Ich habe ein Angebot für Sie«, überging er meine Respektlosigkeit. »Sie sind klein und flink. Genau das, was ich für meinen nächsten Schachzug brauche. Arbeiten Sie für mich und ich mache aus Ihnen eine echte Assassine, eine Legende.«
Ich richtete mich in meinem Stuhl etwas auf und sah ihm direkt in sein widerwärtiges Gesicht. »Hören Sie...«
»Tilton", nannte er mir seinen Namen.
»Tilton«, wiederholte ich nickend, »ich weiß nicht, was Sie von mir erwarten, aber ich würde lieber sterben, als für einen Menschenhändler wie Sie zu arbeiten.«
Er lachte laut und schüttelte den Kopf während er um den Tisch herumging und sich mir gegenüber an den Rand der Holzkante lehnte.
Hinter dem Tisch, an der Wand konnte ich jetzt mein Schwert und den Dolch mit der eingravierten Rose lehnen sehen. Ich konnte nicht ohne diese Waffen von hier verschwinden...
Aber wenn ich erst die Waffen holen und dann zur Tür hinter mir laufen würde, hätten sie zu viel Zeit, mich aufzuhalten.
Etwa einen halben Meter von den Standpunkt meiner Waffen entfernt, gab es ein Fenster. Aber ich war immer noch im Obergeschoss. Vielleicht wäre ein Sprung aus dem Fenster zu riskant.
Ich musste hier irgendwie rauskommen.
»Ich kann Ihnen jeden Wunsch erfüllen, den Sie haben«, versuchte der Widerling es weiter.
»Sind Sie etwa meine gute Fee?«, ich schlage mir gespielt begeistert die Hände vor die Wangen und blicke ihn mit großen Augen an.
Der Wachmann neben mir unterdrückt ein Lachen, das in ein hysterisches Husten ausartet. Er fängt sich prompt einen Todesblick von Tilton ein.
»Ich will ehrlich zu Ihnen sein, Tilton«, fange ich an und lenke seine Aufmerksamkeit wieder auf mich, »Ihnen könnte der große Dschinni höchstpersönlich aus dem Arsch fliegen, und trotzdem würde ich nie auch nur einen Finger für Sie rühren. Wenn Sie also so freundlich wären und meine Zeit nicht weiter verschwenden.«
Ich sprang aus dem Stuhl, wich dem immer noch keuchenden Wächter aus, bevor er mich packen konnte, und rollte mich über den Tisch in Richtung meiner Waffen.
Tilton griff von hinten nach dem Tuch auf meinem Kopf und riss es herunter.
Braune Haare und ein rundes Gesicht kamen zum Vorschein.
Keine roten Haare, kein schmales Gesicht, keine Sommersprossen.
Ich lächelte und griff nach meinem grünen Kettenanhänger, der mein Äußeres so veränderte, dass ich nicht wiederzuerkennen war. Nur das Braun meiner Augen blieb immer gleich.
Ich schlitterte zu den Waffen, und während ich das Schwert in die Scheide schob, zerbrach ich mit dem Ellbogen eine der Fensterscheiben und sprang.
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