Prolog

Prolog

England, 12 Jahre zuvor...

Die Finsternis der Nacht war bereits angebrochen, als sich der Tag langsam aber sicher dem Ende näherte. Dunkle Wolken bedeckten den gesamten Himmel und nun brach der Regen in Form eines heftigen Schauers über England aus und tränkte den Erdboden.
Das Musgrave-Anwesen der Holmes-Familie lag abseits der Städte und trotz der Erneuerungen und Renovierungsarbeiten zeichneten sich an dem Gebäude die Schatten der Vergangenheit ab. So tragische Dinge waren an diesem Ort geschehen, dass es kaum einer für möglich gehalten hätte, dass jemand ihn noch einmal als Heimat bezeichnen würde. Doch Sherlock Holmes tat es!
Mit seiner Familie hatte er sich in dem einstigen Anwesen seiner Eltern ein neues Leben aufgebaut, denn er hatte sich nicht länger von den Dämonen seiner eigenen Vergangenheit beherrschen lassen wollen. Zwar hatte er seine Zweifel gehabt, ob Evelyn dieses Haus jemals wahrhaftig als Heimat anerkennen würde, doch sie hatte es vorbehaltlos getan.
Schon an jenem Tag, als er ihr diesen Vorschlag in Form einer Überraschung dargeboten hatte, war sie von der Idee begeistert gewesen und das, obwohl seine Schwester Eurus ihnen allen auf Musgrave doch förmlich ein tödliches Spiel beschert hatte.
Es war fast schon Ironie des Schicksals, dass sie nun gemeinsam an dem Ort lebten, wo sie das letzte Problem hatten lösen müssen und sich gegenseitig gerettet hatten. Für Sherlock war der Tag trotz der dramatischen Umstände besonders gewesen, denn an jenem Tag hatte er Evelyn auch seine Liebe gestanden. Zuerst aus Zwang durch Eurus...dann aber aus freien Stücken von sich selbst aus.

Evelyn! Die einzige Frau, die bei ihm romantische Gefühle geweckt hatte und eine fast noch dramatischere Vergangenheit hatte als er selbst. Ihre Eltern hatte Evelyn früh verloren, sowie ihren Bruder William und schlussendlich sogar ihre Tante Maggie. Sie alle waren auf brutale Weise von Vincent ermordet worden- Evelyns Zwillingsbruder!
So viele Jahre war sie vor ihm auf der Flucht gewesen, bis er sie in London gefunden und zu einem Spiel des Todes gezwungen hatte. Ein Spiel, welches letztendlich ihn das Leben gekostet, aber seine Spuren auf ihnen allen hinterlassen hatte. Und noch heute ließen die Schatten der Vergangenheit Sherlock und Evelyn niemals vollkommen. Aber heute hatten sie etwas, das sie damals nicht hatten: Jacinda- ihre gemeinsame Tochter!
Sie war nun 8 Jahre alt und für ihr Alter schon unglaublich klug, was Sherlock mit Stolz erfüllte und Evelyn gelegentlich an den Rand der Verzweiflung brachte. Denn Jacinda hatte sehr viele Eigenschaften ihres Vaters angenommen. So besaß sie seinen unglaublichen Scharfsinn, seine hohe Konzentration und die Fähigkeit, alles genauestens zu beobachten und durch Deduktionen zu analysieren. Das machte sie zu einem wahren Wunderkind, aber in ihrer Schule zu einer Außenseiterin. Etwas, das Jacinda allerdings nicht sonderlich zu stören schien.

Von ihrer Mutter hatte Jacinda einen großen Teil des Erscheinungsbildes geerbt, was Sherlock insgeheim ebenfalls freute. So hatte sie dunkelbraune Haare, die einen leichten schwarzen Schimmer besaßen und war in seinen Augen somit mindestens genauso schön wie Evelyn.
Jacinda war sogar etwas offener im Umgang mit Emotionen als ihr Vater, was ihrer Mutter Evelyn zumindest manchmal das Gefühl gab, nicht ganz hoffnungslos unterlegen in ihrer Familie zu sein. Zumal Jacinda auch nicht ganz so impulsiv wie Sherlock war, so konnte sie dennoch ein echter Wirbelwind sein und sehr zu Evelyns Bedauern hatte sie die gleiche Vorliebe für verrückte Experimente entwickelt.
Das Einzige, was Jacinda nicht von ihren Eltern geerbt hatte, waren deren blaue Augen. Im Gegensatz zu Evelyn und Sherlock hatte sie nämlich braune Augen, die sie laut ihrer Eltern aber umso einzigartiger machten. Jacinda war der ganze Stolz ihrer Eltern und sowohl Sherlock als auch Evelyn hatten keinen Zweifel daran, dass ihre Tochter eines Tages mindestens genauso brillant und berühmt sein würde wie es Sherlock selbst war. Wenn nicht sogar etwas mehr.

Es war nun einmal ihre perfekte kleine Welt, die sie sich hier draußen geschaffen hatten und das Kostbarste, was es ihrer Meinung nach geben konnte. Und nichts und niemand würde diese Welt zerstören können, davon waren Sherlock und Evelyn überzeugt gewesen. Zumindest...bis zum heutigen Abend. Ein Abend, der alles verändern und ihre heile Welt auf ewig auseinanderreißen würde.

Evelyn stand in der Küche und stellte das Geschirr in die Schränke, als sie hörte wie die Haustür aufgeschlossen und anschließend wieder geschlossen wurde. Und noch bevor er den Raum betreten hatte, informierte Sherlock Holmes seine Frau kurzer Hand über den Ausgang seines vergangenen Falls.
,,Es war der Bruder!", entgegnete er kurz und bündig, woraufhin Evelyn sich umdrehte und ihrem Mann ein freches Grinsen zuwarf.
,,Sag ich doch! Und du wolltest mir weismachen es wäre die Schwiegermutter gewesen. Kommt nicht oft vor, dass du dich täuscht. Aber keine Sorge...dafür hast du ja mich."
,,Mja. Das werde ich mir jetzt wohl bis in alle Ewigkeiten anhören dürfen.", gab Sherlock ungerührt zurück, schmunzelte aber dabei.
Evelyn kam nicht drum herum lachend den Kopf zu schütteln, doch dann verschränkte sie die Arme in seinem Nacken und legte den Kopf etwas schräg. Neckisch sah sie ihn an und versuchte sein angeknackstes Ego sogleich wieder zu richten.
,,Aber nicht doch...nur für die halbe Ewigkeit."
Sherlock verdrehte leicht die Augen, was Evelyn noch etwas mehr amüsierte. Doch dann musste er selbst leicht grinsen und fand relativ schnell wieder zu seinem Hochmut zurück.
,,Der Triumph sei Ihnen vergönnt, Mrs. Holmes. Aber vergessen Sie bitte nicht, dass ich bei weitem mehr Fälle aufgeklärt habe und immer noch der Schlauere von uns beiden bin."
,,Okay...ich gebe mich geschlagen. Diese Diskussion würde ich ohnehin niemals gewinnen.", entgegnete Evelyn und wollte sich schon abwenden, doch Sherlock schloss schnell seine Arme um sie und reckte das Kinn etwas in die Höhe.
,,So leicht kommst du mir nicht davon. Außerdem hast du was Wichtiges vergessen."
,,Und was?"
Evelyn sah Sherlock abwartend an und forderte ihn mit ihrem Blick geradezu heraus. Und schließlich überbrückte er den letzten Abstand zwischen ihnen und küsste sie. Evelyn lächelte in den Kuss hinein und erwiderte ihn. Selbst nach der gemeinsamen Zeit, die sie nun schon zusammen waren, kam es ihr auch heute noch wie ein Wunder vor, dass Sherlock Holmes doch tatsächlich Gefühle für sie entwickelt und sie sogar geheiratet hatte. Ihr Leben glich vielmehr einem einzigartigen Traum, von dem Evelyn hoffte, dass er niemals enden würde.
,,Muss das immer sein?", erklang eine nur allzu vertraute Stimme, woraufhin Evelyn und Sherlock ihren Kuss unterbrachen und sich umdrehten.
Im Türrahmen stand ihre 8-jährige Tochter Jacinda und hob prüfend eine Augenbraue. Sie hatte die Arme vor der Brust verschränkt und wirkte für ihr junges Alter schon wie eine Kleinausgabe von Sherlock persönlich, der sich damals noch stets gegen Romantik und Gefühl gesträubt hatte. Jacinda schüttelte den Kopf und warf sich augenblicklich die Handflächen vor die Augen.
,,Ihr seid so peinlich."

Evelyn grinste und sah zu Sherlock, der ebenfalls schmunzelte. Natürlich war dies die typische Reaktion eines Kindes, doch Jacinda war eben kein normales Kind und gerade deshalb war es umso amüsanter. Doch nun sah Jacinda erwartungsvoll zu ihrem Vater und musterte diesen prüfend.
,,Wer war der Mörder, Dad?", wollte sie wissen und Sherlock seufzte nun ergebend.
,,Deine Mutter hatte bedauerlicherweise Recht. Es war der Bruder."
,,Sag ich doch! Alles andere wäre unlogisch gewesen.", gab Jacinda in bester Manier von sich und als Sherlock zu Evelyn sah, hob die abwehrend die Hände.
,,Schau nicht mich an. Es sind deine Gene, die sich durchgesetzt haben."
Sherlock richtete den Blick zur Zimmerdecke, doch dann wandte er sich seiner Tochter wieder zu. Diese kam nun auf ihn zugelaufen und warf sich ungehalten in seine Arme, was der Detektiv mit Humor nahm.
,,Genauso stürmisch wie deine Mutter. Die musste ich auch immer auffangen."
,,Gar nicht wahr.", verteidigte sich Evelyn und Jacinda sah ihren Vater nun mit leuchtenden Augen an.
,,Ist der Bruder jetzt verhaftet?"
,,Oh, ja. Graham hat ihn umgehend ins Einzelzimmer mit Gitterstäben gesteckt und dein Onkel John hat eine neue Story für seinen glorreichen Blog. Bin gespannt was er sich diesmal für einen Titel ausdenkt.", meinte Sherlock und Evelyn buffte ihm spielerisch gegen die Schulter.
,,Vielleicht Der große Irrsinn des Sherlock Holmes"! Ich bin sicher, es würde die Story des Jahres werden."
,,Mum, Dad ist doch ein Genie. Da wäre der Begriff Irrsinn doch äußerst unangebracht.", gab Jacinda zurück und Sherlock sah vielsagend zu seiner Frau.
,,Meine Worte. Unsere Tochter wird ein mindestens genauso großes Genie werden wie ich."
,,Okay, ihr Genies. Wie wäre es, wenn ihr beide eine Runde Verstecken spielt und ich kümmere mich derzeit ums Abendessen?!", schlug Evelyn vor und Sherlock runzelte die Stirn.
,,Warum ausgerechnet Verstecken?"
,,Weil unsere Tochter erst 8 Jahre alt ist und ich möchte, dass sie noch etwas von einer normalen Kindheit hat, bevor sie sich in das Vergnügen der Kriminalverbrechen und umfangreichen Deduktionen stürzt. Seht es als ein Training für eure verschärften Sinne an. Kann niemals schaden.", erklärte Evelyn, doch Jacinda warf ihr braunes Haar spielerisch zurück.
,,Meine Sinne sind scharf genug, Mum."
,,Dann wirst du deinen Vater sicher locker besiegen. Und jetzt raus aus der Küche...das ist mein Revier!"

Evelyn scheuchte die beiden aus dem Raum, grinste ihnen dabei aber verschlagen entgegen. Sherlock fügte sich schließlich seinem Schicksal und ordnete seiner Tochter an schon mal mit geschlossenen Augen zu zählen, ehe er sich ein gutes Versteck suchte. Jacinda hatte sich auf der Treppe niedergelassen und ersehnte bereits das Ende des Zählens, um mit der aufregenden Suche beginnen zu können.
,,5...4...3...2...1. Ich komme!"
Jacinda öffnete ihre braunen Augen und sofort begann sie damit, die Umgebung zu analysieren. Jedes einzelne Detail des Hauses fiel ihr ins Auge und sie machte sich auf die Suche nach ihrem Vater. Nicht oft spielten sie Verstecken und meist nur dann, wenn Evelyn diese Idee ins Leben rief, doch insgeheim fand Jacinda dieses Spiel doch aufregend und interessant. Es kam ihr so vor, als würde sie ihr zu Hause dadurch jedes Mal ganz neu entdecken und dies war ein ungeheures Abenteuer für sie. Nichts wünschte sie sich mehr, als eines Tages so zu werden wie ihr Vater Sherlock Holmes...der im Grunde eine lebende Legende war.
Langsam schlich Jacinda über den Flur und warf einen prüfenden Blick in die Abstellkammer, die als Versteck jedoch ausfiel. Zuerst überlegte sie, ob sie vielleicht oben suchen sollte, doch dann verwarf sie diesen Gedanken augenblicklich wieder. Ihr Vater war zu schlau, um sich zweimal das gleiche Versteck zu suchen und deshalb entschloss sie sich, das Wohnzimmer vorzunehmen. Doch noch bevor sie dieses erreicht hatte, hielt Jacinda inne. Aus dem Augenwinkel heraus sah sie, wie die Tür zum Keller nur angelehnt war und für gewöhnlich war diese stets verschlossen.
Ein leichtes Lächeln umspielte ihre Lippen und sie begab sich sofort zur Kellertür, wo sie einen Blick nach unten warf. Eigentlich durfte sie nicht in den Keller, doch diesmal war ihre Neugier und auch die Spannung einfach zu groß.
Jacinda ging die Treppe runter und sah sich ehrfürchtig um. Diesen Winkel des Hauses zum ersten Mal zu sehen war ganz aufregend und sofort fiel ihr auf, dass der Keller einen ziemlich geheimnisvollen Eindruck auf sie machte. Als hätte er ihr ein dutzend Geschichten zu erzählen, die nur darauf brannten endlich gehört zu werden.

Jacinda ging den langen Gang entlang und sah an den Wänden unzählige Fotos von ihrem Vater und Onkel Mycroft als Kinder. Sie hatte schon einmal ein Album stibitzt und einen heimlichen Blick reingeworfen, was ihrem Vater nicht sonderlich gefallen hatte, aber ihre Mutter hatte es ihr durchgehen lassen.
Als Jacinda eine Tür öffnen wollte, stellte sich diese jedoch als verschlossen heraus und ihr Blick fing eine altmodische Büste ein, der sie jedoch keine weitere Beachtung schenkte. Stattdessen fiel ihr Blick auf eine Tür, die einen Spalt offen stand und sofort nahm Jacinda sie ins Visier. Doch je näher sie dem Raum kam, desto schneller schlug ihr Herz in der Brust und desto mehr spannte sich ihr kleiner Körper an.
Ihr Instinkt riet ihr, sofort wieder umzukehren und für einen kurzen Moment zog Jacinda es auch in Betracht. Doch dann hatte sie die Tür erreicht und öffnete sie. Ein kalter Windzug fegte ihr entgegen und schnell realisierte Jacinda, dass dies ein Arbeitszimmer sein musste. Allerdings war es vollkommen verwüstet. Sämtliche Schränke und Schubläden waren aufgerissen...Bücher, Akten und Papiere lagen zerstreut auf dem Boden und als sich der Blick von Jacinda auf das Fenster richtete, musste sie entsetzt feststellen, dass dies zerschlagen worden war. Sofort schrillten ihre Alarmglocken und sie rief instinktiv nach ihrem Vater.
,,Hey, Dad! DAD!"
,,Jacinda? Wo bist du?", erklang sofort seine Stimme und sie vernahm schnelle Schritte auf der Treppe.
Jacinda war augenblicklich klar, dass ihr Vater also nicht im Keller gewesen war und als Sherlock seine Tochter in seinem Arbeitszimmer fand, eilte er augenblicklich in den Raum. Beim Anblick der Verwüstung hielt er inne und starrte entsetzt auf das Bild, welches sich ihm darbot, ehe ihm ein schrecklicher Gedanke kam und jede Fassung ihm augenblicklich entgleiste.
,,EVELYN!", rief er aus und wies Jacinda an im Türrahmen stehen zu bleiben.
Obwohl es ihr Unbehagen bereitete, folgte Jacinda der Anordnung und beobachtete ihren Vater nun beunruhigt dabei, wie er sich am Schreibtisch zu schaffen machte und etwas zu suchen schien.
,,Verdammt!", brachte er nur hervor und sofort spürte Jacinda, dass hier etwas gewaltig nicht stimmte, als auch schon ihre Mutter zu ihnen stieß.
,,Sherlock, was ist..."
Ihre Stimme brach beim Anblick vom Arbeitszimmer ihres Mannes ab und sie starrte erschüttert auf den Zustand des Raumes. Alarmiert sah sie zu Sherlock, der ihr einen eindringlichen Blick zuwarf, der sie sofort das Schlimmste befürchten ließ.
,,Wir müssen von hier verschwinden...SOFORT!"

Jacinda wusste nicht, wie viel Zeit verstrich, denn sie schien wie in Lichtgeschwindigkeit und doch gleichzeitig wie in Zeitlupe an ihr vorbeizuziehen. So hysterisch und alarmiert hatte sie ihre Eltern noch nie erlebt, die in Windeseile eine Tasche zusammengepackt hatten und nebenbei hektische Gespräche führten. Viel bekam Jacinda nicht mit, aber sie ahnte, dass dieser Abend keine guten Folgen mit sich bringen würde.
,,Bring Jacinda ins Auto. Ich rufe Mycroft an! Wir haben nicht viel Zeit.", sagte Sherlock an Evelyn gewandt, die bereits auf ihre Tochter zukam und dieser schnell eine Jacke überwarf.
,,Komm, Schätzchen!"
,,Wo gehen wir denn hin?", wollte Jacinda wissen, doch ihre Mutter gab ihr keine Antwort.
Im rasanten Tempo brachte sie Jacinda zum Auto und warf dabei immer wieder prüfende Blicke in die finstere Umgebung. So, als wollte sie sich vergewissern nicht beobachtet zu werden. Als sie Jacinda auf die Rückbank setzte und anschnallte, sah Jacinda wie die Dienstwaffe ihrer Mutter aus der Innentasche ihrer Lederjacke hervorstach. Dabei war ihre Mutter zurzeit gar nicht im Dienst und nahm ihre Waffe sonst nie mit, wenn sie das Haus verließ. Da kam auch schon Sherlock aus dem Haus geeilt und verschloss die Tür, ehe er die Tasche in den Kofferraum des Autos warf und sich seiner Frau zuwandte.
,,Mycroft weiß Bescheid! Er verschafft uns so viel Zeit wie er kann. Wir müssen uns beeilen."
Evelyn nickte und schloss die hintere Autotür, ehe sie sich ans Steuer setzte. Sherlock nahm auf dem Beifahrersitz Platz und Jacinda hörte, wie er ihren Patenonkel John anrief und diesen informierte, dass sie jetzt zu ihm und seiner Familie kommen würden. Doch Jacinda wunderte sich, da dies hier kein normaler Besuch sein konnte.

Die Straßen von London zogen rasend schnell an ihnen vorbei, als sie nach einer gefühlten Ewigkeit das Haus der Familie Watson erreichten. John stand schon auf der Veranda und schien sie zu erwarten, als Evelyn das Auto stoppte. Trotz der angespannten Stimmung freute sich ein Teil von Jacinda auch, ihre beste Freundin Lizzy und auch Tante Alicia zu sehen.
Evelyn stieg aus dem Auto und holte Jacinda von der Rückbank, während Sherlock bereits die Tasche aus dem Kofferraum holte. John kam auf sie zu und wirkte zutiefst besorgt, während er seine Freunde und ihre Tochter bestürzt ansah.
,,Sherlock, was ist denn passiert? Du klangst du seltsam am Telefon."
,,Das sollten wir besser drin besprechen, John.", erwiderte Sherlock und John deutete kurzer Hand auf das Haus.
,,Sicher. Kommt rein!"
Er ging voraus und Jacinda wurde von ihren Eltern ins Haus der Watsons gebracht. Jacinda fand, dass dies Haus vollkommen anders war als ihr eigenes zu Hause. Es wirkte weniger geheimnisvoll und ehrfürchtig, sondern man spürte hier wahrlich die Harmonie, welche die Familie Watson verspürte. Und als sie das Haus betraten, kam ihnen bereits Alicia entgegen, die mindestens genauso alarmiert und zerstreut war wie ihr Mann John.
,,Evelyn! Sherlock! Was ist los? John sagte nur, dass ihr unbedingt vorbeikommen müsst.", brachte sie hervor und Jacinda bemerkte den angespannten Blick ihres Vaters.
,,Könnten wir das vielleicht woanders besprechen? Es ist wirklich wichtig."
Jacinda sah, wie alle Blicke unauffällig in ihre Richtung gingen und sofort war der 8-jährigen klar, dass dieses Gespräch offenbar nicht für ihre Ohren bestimmt zu sein schien. Doch da erklang bereits eine weitere Stimme, die sofort sämtliche Aufmerksamkeit auf sich zog.
,,Jacinda!"
Es war Lizzy, die Tochter von John und Alicia und Jacindas beste Freundin. Sie war zwar etwas älter als sie, aber dennoch waren die beiden Mädchen unzertrennlich wie Pech und Schwefel. Lizzy kam die Treppe runter gelaufen, wobei ihre blonden Locken wild auf und ab hüpften, die sie von ihrer Mutter geerbt hatte. Die blauen Augen hatte John an seine Tochter weitergegeben und auch seinen prüfenden Blick hatte Lizzy nun aufgesetzt, da ihr ebenfalls die angespannte Situation aufzufallen schien.
,,Was ist hier los?"
,,Lizzy, warum gehst du nicht mit Jacinda nach oben etwas spielen.", schlug John vor und sofort war seine Tochter Feuer und Flamme.
,,Oh, ja!"
,,Jacinda, geh mit Lizzy nach oben.", wies Evelyn ihre Tochter an, doch die zögerte.
,,Aber..."
,,Kein Aber. Hör auf deine Mutter!", unterbrach Sherlock sie und sein Blick duldete keinerlei Widerspruch, weshalb Jacinda sich geschlagen gab und von Lizzy prompt mit nach oben gezogen wurde.

                                                                                             ***

Voller Anspannung wartete Jacinda im Zimmer von Lizzy darauf, dass etwas passierte. Ihre beste Freundin hatte sich inzwischen mit Stiften bewaffnet und hatte begonnen zu zeichnen, wobei sie ihrer Fantasie freien Lauf ließ. Jacinda jedoch, hatte ihr leeres Blatt noch keines Blickes gewürdigt, denn vielmehr wollte sie wissen, was dort unten bei den Erwachsenen vor sich ging. Deshalb schlich sie sich nun zur Tür und öffnete diese leise, woraufhin Lizzy sofort den Kopf hob.
,,Jacinda, was machst du da?"
,,Psst! Sei leise! Sonst hören sie dich noch.", zischte Jacinda im Flüsterton, doch Lizzy sah unsicher zu ihrer Freundin.
,,Du hast doch gehört was sie gesagt haben. Wir sollen im Zimmer bleiben."
Jacinda erwiderte nichts, sondern rollte nur mit den Augen. Ihre beste Freundin war ihres Erachtens nach etwas zu gut erzogen, was manchmal selbst für die 8-jährige nervtötend war. Als sie nun ein paar Schritte auf den ersten Treppenabsatz zu schlich, vernahm sie bereits die Stimmen der Erwachsenen, die nun wieder im Flur standen.
,,Und ihr seid wirklich sicher, dass dies die einzige Lösung ist?", kam es von Alicia und Jacinda sah, wie ihre Mutter geknickt nickte.
,,Ja. Eine andere Möglichkeit haben wir nicht."
,,Aber vielleicht könntet ihr uns wenigstens sagen wohin...", setzte John an, doch Sherlock schüttelte den Kopf.
,,Nein, John! Das geht nicht. Je weniger ihr wisst...desto besser."
Eine beunruhigende Stille kehrte ein und nun bemerkte Sherlock seine Tochter, die besorgt zu ihnen hinunter sah. Er seufzte zuerst ergebend, doch dann reichte ein Kopfnicken von ihm aus und Jacinda kam nach unten gelaufen. Sofort fiel ihr auf, dass ihre Mutter regelrecht verzweifelt wirkte und geweint haben musste. Ihr Vater hingegen, wirkte zwar gefasst, aber auch ihm war anzusehen, dass die Situation nicht einfach war. Sherlock kam auf Jacinda zu und kniete sich vor sie, während er ihr einen eindringlichen Blick zuwarf.
,,Jacinda, du bleibst für eine Weile bei Onkel John und Tante Alicia.", erklärte er, woraufhin seine Tochter ihn verwirrt ansah.
,,Warum?"
,,Deine Mutter und ich...haben etwas Wichtiges zu erledigen.", erwiderte Sherlock, doch Jacinda sah ihren Vater bittend an.
,,Ich will aber mit euch mitkommen."
,,Das geht nicht. Du bleibst hier, bis wir wieder zurückkommen."
Jacinda spürte, wie ein Anflug von Panik sich in ihr ausbreitete, was für gewöhnlich sonst nie der Fall war. Aber die Art, wie ihr Vater mit ihr sprach und sie ansah gefiel ihr nicht und als er ihr einen leichten Kuss auf die Stirn gab, wusste Jacinda sofort, dass etwas ganz und gar nicht stimmte. Dann erhob Sherlock sich, aber nur um Evelyn vortreten zu lassen, die nun ebenfalls vor ihrer Tochter in die Hocke ging und Jacinda konnte die Tränen sehen, die sich in den Augen ihrer Mutter spiegelten.
,,Mum?", setzte sie an und Evelyn zwang sich zu einem halben Lächeln.
,,Hör auf John und Alicia, ja? Sie werden auf dich aufpassen und Onkel Mycroft...wird auch ab und zu vorbeikommen."
,,Wann kommt ihr denn wieder?", wollte Jacinda wissen und Evelyn zögerte, ehe sie schwer schluckte, dann aber einen zuversichtlichen Blick aufsetzte.
,,Bald!"
,,Evelyn, wir müssen!", forderte Sherlock seine Frau auf und Evelyn zog Jacinda noch einmal eng an sich und flüsterte ihr ins Ohr.
,,Wir lieben dich...vergiss das nie!"
Dann ließ sie ihre Tochter widerwillig los und erhob sich, als Sherlock sie bereits an den Schultern umfasste und zur Tür mit sich zog. Evelyn öffnete sie und trat hinaus in die Dunkelheit, als Jacinda ihren Vater am Mantelärmel zu fassen bekam und ihn noch einmal zurückhielt.
,,Dad...", begann sie, doch er warf ihr nur einen ernsten Blick gemischt mit Traurigkeit zu.
,,Alles wird gut."
Sherlock hielt kurz inne, dann griff er in seine Manteltasche und legte Jacinda etwas in die Hand, die er kurz umschloss und warf seiner Tochter anschließend einen vielsagenden Blick zu.
,,Pass gut drauf auf!"
Dann wandte er sich ab und schloss die Tür hinter sich, ehe er Evelyn in die Finsternis der Nacht folgte. Jacinda spürte, wie die Hände von John ihre Arme fürsorglich umschlossen und warf einen Blick in ihre Hand, wo eine Kette mit einem Schlüssel mit der Aufschrift 221b" verborgen war. Und sowohl Verstand als auch Gefühl sagten ihr, dass sie ihre Eltern möglicherweise niemals wiedersehen würde...

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