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„Du solltest ihn direkt unterschreiben, ohne darüber nachzudenken", meint Alice, während sie in der Pfanne auf meinem Herd herumrührt. Ich ziehe meine Knie an und lehne mich gegen die Rückenlehne meiner Sitzbank. Mik&Son pragt schwungvoll und zentriert auf dem zusammengetackerten Blätterhaufen. „Ich kann doch nicht einfach einen Arbeitsvertrag unterschreiben, ohne zu wissen, was darin enthalten ist. Ist das nicht gefährlich?", frage ich zögernd und Alice rollt genervt mit den Augen.

„Olivia, wann wirst du jemals wieder so eine Chance erhalten, einfach so einen Arbeitsvertrag von einem der besten Verlage vorgelegt zu kriegen?", stellt sie mir die Gegenfrage und verteilt das Essen in zwei Tellern.

Ich weiß, was Alice denkt. So hat sie schon immer gedacht. Das reiche Püppchen Olivia, das ohne Eigenverschulden alles erhält, was sie gerne hätte. Ich nehme es ihr nicht übel. Alice hatte es noch nie leicht in ihrem Leben. Begonnen hat das Chaos, als sie zwölf war und ihr Vater ins Gefängnis kam. Daraufhin stürzte ihre Mutter ab und schmiss sie raus. In der Zeit, in der ich in meinem warmen, rosanen Zimmer nachts schlief, musste Alice bereits darum kämpfen, zu überleben. Sie brach die Schule mit 16 ab, begann in einem Restaurant und einer Bar gleichzeitig zu jobben und schätzte sich glücklich, wenn sie am Ende des Monats das Geld für ihre viel zu hohe Miete trotz viel zu kleiner Wohnung, die sie sich auch noch mit zwei Hexen teilen musste, zusammen hatte.

Mit 18 ließ sie sich auf den falschen Kerl ein, steckte sich bei ihm mit Aids an und lebte seitdem in ständiger Angst vor Bakterien und Viren, was man ihr nicht verübeln konnte. Die Menge an Tabletten, die sie täglich schlucken muss, würden jedes Immunsystem umhauen.

Alles in einem ist Alice das verfluchte Gegenteil von mir. Ich konnte es ihr noch nie übel nehmen. Sie schaute mir dabei zu, wie ich mein Leben ruiniere obwohl ich alles habe, während sie täglich darum kämpft, ihr Leben zu verbessern.

„Ich habe, um ehrlich zu sein, Angst", gestehe ich und schiebe den Blätterhaufen weg.

„Vor was denn?", fragt sie und stellt mir den Teller vor die Nase. Alice ist eine ausgezeichnete Köchin. Manchmal übernimmt sie die Rolle meiner Mutter und hat es sich zur Aufgabe gemacht, mir mindestens zweimal wöchentlich etwas warmes, anständiges zu kochen. Dabei ist sie mir um einiges lieber als meine Mutter, denn Alice gab keine Kommentare zu Tyler oder meiner aktuellen Lebenssituation ab. Sie kochte einfach für mich, weil sie sicher gehen wollte, dass ich gesund bleibe. Gott, wieso ist diese Welt so verflucht unfair zu ihr?

„Ich habe Angst, wieder unter Leute zu gehen. Ich zweifle an meinen Fähigkeiten. Was ist, wenn ich deren Anforderungen nicht erfüllen kann? Das wäre doch peinlich", erkläre ich mich und schiebe mir eine Gabel Pasta in den Mund.

„Hallo? Hast du eigentlich vergessen, wer du bist? Du bist Olivia Gray, die Super-Streberin mit dem Eins-Komma-Irgendwas Abschluss. Du hast dir dein gesamtes Leben lang nicht den Arsch dafür aufgerissen, um arbeitslos zu sein. Du gehörst in die oberste Schicht", meint sie und schlägt mir auf den Hinterkopf.

„Weißt du, Olivia, ich sage das jetzt nicht, weil ich deine Freundin bin. Ich spreche jetzt das aus, was sich alle denken: Du bist einfach nur verrückt. Du bist wunderschön, du warst es auch schon immer. Du bist so unfassbar klug, dass ich manchmal das Gefühl habe, ich besitze nicht einmal halb so viel Gehirnmasse wie du. Du bist so ehrgeizig, pflichtbewusst und hast einfach alles, was man als erfolgreiche Frau braucht. Du solltest dich schämen, dass du jeden Abend in dieser verfluchten ranzigen Bar von Joey sitzt. Joey sollte sich ebenfalls schämen, denn bei ihm ist es das gleiche Spiel, aber das ist jetzt nicht wichtig. DU solltest dich zu Grund und Boden schämen. Ich hoffe, du tust das. Denn selbst ich schäme mich fremd, wenn ich dich ansehe. Du bist mehr, als nur eine verzweifelte Frau, die jeden Abend Tequila bis zum Umfallen trinkt, nur weil sie von ihrem Kerl verlassen wurde. Soll ich dir mal was sagen? Das passiert so vielen Frauen, verdammt! So viele Menschen werden verlassen. So ist das Leben. Komm endlich damit klar und vergeude es nicht. Jeder Vollidiot hat seinen Liebeskummer überlebt, versuch bitte nicht mir zu erklären, dass es bei dir nicht der Fall ist. Du hast ein Jahr deines Lebens für nichts verschwendet, obwohl du in der Zeit schon auf eine teure Universität hättest gehen können. Hör auf, noch mehr Zeit zu verschwenden. So ein dämliches Denken, nur wegen einem Mann. Wo ist deine Selbstliebe? Dein Ehrgefühl? Du unterschreibst jetzt diesen beschissenen Vertrag und am Montag fängst du an dort zu arbeiten, oder ich schwöre dir, ich werde dir die Hölle heiß machen."

Wütend knallt sie ihre Gabel auf den Tisch und ich zucke zusammen.

„Okay", murmele ich und starre auf mein Essen. Spinat mit Gnoccis sieht nicht gut aus. Die Farben beißen sich, in meinen Augen.

„Du bringst mich wirklich zum Rasen", sagt Alice leise. „Ich werde jetzt eine rauchen. Bis ich zurück bin, ist dieser Dreck unterschrieben."

Sie steht auf, greift nach ihrer Jacke und macht sich auf den Weg zu meinem Balkon.

Oh Tyler, wo bist du nur? Wo bist du hingegangen? Wieso hast du mich nicht mitgenommen?

Meine Gedanken kreisen um die dunklen Haare, die strahlenden Augen. Sein Duft, Gott, zu gerne würde ich ihn wieder riechen. Seine Art zu lachen, die Art, wie er mit Menschen spricht. Wie er mit mir gesprochen hat. Wie er mich geküsst hat.

Als Alice die Küche wieder betritt, sitze ich immer noch vor meinem Teller und starre den Spinat. Er sieht kalt aus und irgendwie tut es mir leid, dass ich keinen Bissen von ihrem Essen herunter kriege.

Alice interessiert dies jedoch nicht. Sie sagt nichts und sie fordert mich auch nicht zum Essen auf. Das einzige, was ich aus dem Augenwinkel erkenne, ist ein zufriedenes Nicken, als sie die Unterschrift auf dem Arbeitsvertrag entdeckt.
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Hat irgendwer dieses Buch noch in seiner Bibliothek? I'm so sorry guys

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