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Räuspernd schiebe ich den noch halb gefüllten Teller von mir und zwinge mir ein Lächeln auf. Meine Eltern starren mich gebannt an, während mein Bruder mich nur kritisch mustert.
Ich möchte mir nicht anmerken lassen, wie enttäuscht ich darüber bin, dass sie doch irgendwie recht haben. Ohne der Unterstützung meiner Eltern würde ich nicht mal eine eigene Wohnung besitzen.
Ich denke an die Zeit zurück, in der ich davon geträumt habe, in einem Verlag zu arbeiten. Mit einem Haufen von Manuskripten, die ich mir abends durchlese, während Tyler neben mir auf der Couch sein Footballspiel guckt. Und dann denke ich daran, wie ich meine Tage verbringe, seitdem Tyler weg ist. Ich habe mir mein ganzes Leben von ihm zerstören lassen, dabei hat mein Leben noch nicht mal wirklich angefangen.
"Es ist ein sehr bekannter Verlag, weißt du. Sie bekommen viele Bewerbungen und ich denke, George...", ich unterbreche meinen Vater mit einer Geste.
Ich möchte nicht mehr abhängig sein. Weder von meinen Eltern, noch vom Amt, noch vom Alkohol aus Joeys Bar, geschweige denn von Tyler.
"Schon gut, Dad. Ich nehme das Angebot sehr gerne an."
Meine Stimme klingt rau und zittrig, als würde sie die Worte nicht aussprechen wollen. Ich spüre den überraschten Blick meiner Mutter, den sie mir zuwirft und sehe das Aufleuchten der Augen meines Vaters. Er grinst bis über beide Ohren.
"Das ist wirklich schön, Olivia! Soll ich mit George reden? Ihm Bescheid geben? Oh warte, ich könnte ihn einladen! Oder dir seine Nummer geben! Du könntest dort zu einem Bewerbungsgespräch auftauchen", redet er schnell und ich kann mir letztendlich doch das Lächeln nicht verkneifen.
Es herrscht ein kurzes Schweigen in Esszimmer, als ich mich erneut räuspere.
"Ich habe keinen Hunger mehr. Vielen Dank für das Essen Mum, aber ich bin pappsatt. Ich denke, ich werde mich mal wieder in meinem Zimmer umsehen. Da war ich schon lange nicht mehr", meine ich und stehe auf. Meine Mutter zögert kurz, da ihr Tischmanieren sehr wichtig sind, vorallem bei einem Familienessen, aber nickt dann schließlich. Aufhalten könnte sie mich sowieso nicht mehr.
So geräuschlos wie möglich schiebe ich den Stuhl zurück an den Tisch und verlasse hastig den Raum. Meine nackten Füße tapsen über die eiskalten Fließen und sehnen sich nach meinen dicken, flauschigen Kuschelsocken, die daheim auf mich warten. Ich laufe die Treppen hoch und gehe den Weg, den ich in meinem Leben schon so oft gegangen bin.
Mein Zimmer sieht aus, als wäre es niemals verlassen worden, obwohl ich schon seit drei Jahren nicht mehr daheim lebe. Alle meine alten Erinnerungen hängen hier drin, jedes Poster ziert die Wand an der selben Stelle, an der ich es Jahre zuvor angebracht habe. Meine Bücher stehen in den Regalen und eine rosane Tagesdecke liegt auf meinem Bett.
Für schlechte Zeiten, hatte meine Mutter damals gesagt, als ich ihr vorgeschlagen habe, aus meinen Zimmer ein Ankleidezimmer zu machen, nachdem sie sich wegen ihrer Schrankprobleme so beschwert hat.
Seufzend lasse ich mich auf mein Bett nieder und streiche über die Tagesdecke. Wenn ich Glück habe, werde ich bald wieder einen Job haben. Mit einem richtigen Verdienst, von dem ich mir wieder mal etwas leisten könnte. Ein mulmiges Gefühl übermahnt mich, als ich daran denke. Und dann schweifen meine Gedanken automatisch zu Tyler ab.
Ob er sein Haar wohl immer noch so verwuschelt trägt?
Ob er seine Krawatte wohl immer noch nicht richtig binden kann?
Ob sein Lieblinglied wohl immer noch täglich auf voller Lautstärke bei ihm läuft?
Ich unterdrücke die aufkommenden Tränen. Er hat mir so viel genommen.
Ich höre ein Klopfen an der Zimmertür, was mich zusammenzucken lässt. Es ist ungewohnt.
Schnell atme ich tief ein, um mir nichts anmerken zu lassen und warte darauf, dass die Person das Zimmer betritt. Keine Sekunde später streckt mein Bruder seinen Kopf durch einen Türspalt. "Können wir reden?", fragt er zögernd und ich nicke.
Er kommt rein und stellt sich mitten in das Zimmer. Ein unangenehmes Schweigen herrscht, während ich auf meiner Unterlippe kaue.
"Ich weiß nicht wirklich, was ich sagen soll", meint er schließlich. Das letzte Gespräch zwischen meinem Bruder und mir ist eine halbe Ewigkeit her. Ich nicke verständnisvoll und klopfe auf den leeren Platz neben mir auf dem Bett, damit Lucas nicht herumstehen muss wie bestellt und nicht abgeholt.
"Was ist mit dir passiert, Olivia?", fragt er plötzlich und seufzt. Ich zucke unmerklich bei seiner Frage zusammen und sehe ihn dann verwirrt an.
"Du fühlst dich nicht mehr an wie du. Irgendwie. Verstehst du? Wenn man in deiner Nähe ist, fühlt man sich ausgeschlossen. Ausgeschlossen von dir. Es ist, als würdest du in einer anderen Welt hängen. Deine Augen sind so matt und leer, wenn du einen anschaust. Wo ist das Mädchen hin, dass damals Wasserbomben auf Passanten geworfen und Tomatensuppe mit Zwiebelringen gegessen hat?", er lächelt leicht bei den Erinnerungen.
Mir jedoch ist wieder nur zum Heulen zu Mute. Ich habe keine Antwort auf seine Fragen und genau das ist es, was mich traurig macht. Ich weiß nicht, was mit mir passiert ist.
Ratlos zucke ich mit den Schultern und lächle ihn dabei traurig an. "Keine Ahnung. Ich schätze, diese Olivia gibt es nicht mehr", sage ich.
"Es ist krank, Olivia. Du kannst nicht einfach nach einem Jahr immer noch um ihn trauern. Wir alle vermissen die alte Olivia. Mum, Dad? Glaubst du, ihnen tut es nicht weh, dich so zu sehen? So...hilflos und so..anders. Das bist nicht du. Wir sehen dich nie, wir bekommen dich nie zu Gesicht. Erinnerst du dich überhaupt noch an die Zeit, in der du wirklich Spaß hattest? Wann war das zuletzt? An die Zeit, in der du gelebt hast? Verdammt, hör auf ihm nachzutrauern. Er ist weg! Er wird nie wieder kommen und du musst lernen es zu akzeptieren! Fang endlich wieder an zu leben!", brüllt er mich schon fast an, mit einem vor Wut verzerrten Gesicht. Wut und Enttäuschung funkeln in seinen Augen.
Ich streiche weiter über meine Decke und blinzle ihn stumm an. Mein Bruder atmet heftig ein und aus. Ich wende meinen Blick einen Stück weiter nach rechts, zu meinen Regal. Ich blicke auf den weißen Bilderrahmen, mit dem Bild von mir und Tyler nach unserem zweiten offiziellen Date darin. Und das einzige, woran ich denken kann, ist, ob es eine gute Idee wäre, den Tequila heute Abend einfach mit Salz und Zitrone zu mischen, um mit den langweiligen Prozess der Bodyshots zu ersparen.
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