(9) Zielscheibe
David möchte vielleicht vor dieser neugierigen und nervigen Ermittlerin den starken spielen, aber kaum dass er zuhause ist, kann er den Schwindel nicht mehr unterdrücken. Er geht im Flur an einem bodentiefen Spiegel vorbei und sieht nur kurz wie bleich er ist.
Er kann von Glück sagen noch den Weg aus dem Gebäude gefunden zu haben. Sein Kopf fühlt sich an wie Watte. Er hasst dieses Gefühl. Sein Körper ist schon beeinträchtigt. Bisher hat er sich immer auf seinen Verstand verlassen können, denn auf seine Sinne kann er sich nicht verlassen. Wenn er nun auch nicht mehr denken kann, dann ist er verloren.
Sein Verstand ist die einzige Waffe, die ihm noch bleibt - außer einer Neun-Millimeter vielleicht. Aber das würde Gina Baley nicht verstehen. Sie versteht überhaupt nichts. Hat sie überhaupt einen Verstand? Sie sieht die offensichtlichen Tatsachen nicht und solange sie blind für die Wahrheit ist, wird David sich hüten ihr alles zu sagen.
Alles andere wäre zu gefährlich für sie. Sie könnte erheblich zu Schaden kommen, wenn sie in seiner Nähe bleibt. Also muss David sie loswerden. Nur wie stellt er das bloß an?
Trotz des Schwindels in seinem Kopf findet er nach einiger Zeit etwas Schlaf und quält sich nur träge am nächsten Morgen aus dem Bett.
So etwas wird er wohl nicht so schnell wiederholen. Die wenigen Stunden Schlaf, die er hatte, erscheinen ihm jetzt wie ein Winterschlaf. So tief hat er schon lange nicht mehr geschlafen. Nur ist das kein Grund für ihn mit Drogen anzufangen.
Er geht ins Bad, duscht ausgiebig und dreht das Wasser so warm auf, dass seine Haut rot wird und anfängt zu dampfen. Die Locken kämmt er sich nach der Dusche zwar zurück, aber sie werden im Laufe des Tages wieder nach vorne springen. Zum rasieren hat er keine Lust.
Er macht den Fernseher an und zwingt sich nur ein leichtes Frühstück herunter.
Es wird natürlich auch über den Fall berichtet. Leider kommen die Ermittlungen nur schleppend voran und David hasst das. Solche Fälle sind die Härte. Noch dazu, wenn man selbst zur Zielscheibe werden könnte. Jeder Zeit und überall.
Er geht nach dem Frühstück in sein Arbeitszimmer und schaut sich seine eigenen in Kleinstarbeit zusammen getragenen Notizen über den Fall an.
Hover ist untergetaucht. War zu erwarten. David hat ihn bloß aufgeschreckt und vorsichtig gemacht. Eigentlich interessiert ihn dieser kleine Dealer auch nicht wirklich. Es würde kaum Sinn machen ihn weiter zu verfolgen, da der Mörder nun weiß, dass David diese Spur verfolgt. Er wird in Zukunft noch willkürlicher vorgehen, um seine Spuren zu verwischen.
Die einzige Sorge, die David wirklich Kopfschmerzen bereitet, ist seine Kollegin. Wenn sie weiterhin an seinen Socken hängt, kann sie das in große Schwierigkeiten bringen.
Es wäre für David kaum zu verkraften wenn sich seine Vergangenheit wiederholt.
~
In der Hauptzentrale...
Gina blickt unsicher immer wieder vom Bildschirm auf und hält Ausschau nach Jackson. Er ist heute noch nicht ins Büro gestürmt. Das ist gut und schlecht zugleich.
Das Gute daran ist, dass sie ganz in Ruhe seine Akte durchforschen kann. Sie hat ihren Chef um Einsicht in Jacksons persönliche Daten gebeten, um besser mit ihm zusammen arbeiten zu können.
Doch wenn er sie dabei erwischt, würde er nicht gerade begeistert sein.
Markus kommt zu ihr herüber und wirft ihr einen vielsagenden Blick zu, als er ihren Bildschirm ansieht.
„Wenn du so viel Zeit in den Fall stecken würdest, wie für die Recherche über deinen Kollegen, dann wäre er schon gelöst."
Sie geht gar nicht auf die Provokation ein.
„Nicht dieser Fall...der ist was besonderes."
„Und was genau suchst du in Jacksons Akte?"
„Irgendetwas, das sein sonderbares Verhalten erklärt."
„Und wirst du fündig?"
Sie nickt vielsagend.
„Und ob", gibt sie mit aufgerissenen Augen zurück.
Neugierig beugt sich Markus neben ihr vor.
„Er ist Vollwaise, hat seine Eltern bei einem Autounfall verloren", erklärt sie und sofort wird ihr einiges klar. Sein Verhalten in ihrem Auto. Offenbar hatte er den Verlust live miterlebt - wie schrecklich. Doch noch schlimmer war der Verlust seiner ehemaligen Partnerin vor drei Jahren. Sie war ihm für die Ermittlung in einer Mordserie zugeteilt worden und hatte bei einer schweren Schießerei das Leben verloren.
Gina kann sich gar nicht ausmalen wie schrecklich das für ihn sein muss. Kein Wunder, dass er unbedingt alleine arbeiten möchte.
Es stehen keine genauen Details zum damaligen Fall in der Akte, aber etwas anderes weckt ihre Neugier, die gleichzeitig auch von Verwirrung begleitet wird.
„Ach du Schande...", rutscht es Jodie leise heraus, die ebenfalls dazu gekommen ist und sich die medizinischen Angaben anschaut.
„Der Mann ist..."
„Was? Was bedeutet das?", will Markus ganz ungeduldig wissen.
Auch Gina kann ihre Neugier kaum verbergen.
„Laut der Akte hat er..."
Jodie hat wohl in ihrem üblichen Fachchinesisch antworten wollen und wird sich noch in letzter Sekunde bewusst, dass Gina und Markus nicht Medizin studiert haben.
„Er hat eine Störung des zentralen Nervensystems. Nichts wildes, aber wenn ich das richtig verstehe, dann ist er echt ein Freak."
Sowohl Gina als auch Markus tauschen Blicke und sehen dann zu Jodie auf. Diese tritt einen Schritt zurück.
„Versteht mich nicht falsch. Er ist ein bedauernswerter Freak."
„Wie meinst du das?", hakt Gina nach, doch bevor sie eine Antwort von Jodie bekommen kann, taucht besagter Detektiv im Flur auf und die junge Gerichtsmedizinern zieht es vor das Weite zu suchen.
„Eine Störung im zentralen Nervensystem? Das kann alles bedeuten. Was hat sie nur damit gemeint?", fragt Markus nachdenklich.
Gina zuckt ratlos mit den Schultern und beendet ihr Studium über Jackson. Höchste Zeit einen Mord aufzuklären. Nein, vier Morde.
Vorerst gibt es keine Begegnung mit Jackson, doch behält Gina ihn im Auge. Sobald er Anstalten macht das Revier zu verlassen oder besonders arbeitseifrig wirkt, ist ihr Interesse geweckt. Jetzt noch mehr als zuvor. Kann sie ihm im Ernstfall wirklich vertrauen?
Gegen Nachmittag gibt es eine kleine Besprechung und der Boss ruft alle zusammen. Er trägt kurz und knapp die wenigen neuen Erkenntnisse im Fall Taschenmörder - so hat Brian ihn getauft - hinzu und erklärt die nächsten Schritte. Also schickt er David und Gina zusammen los, um noch einmal mit Georges Frau zu reden. David ist Hover immer noch auf der Spur, wobei er nicht wirklich an ihm interessiert zu sein scheint. Brian hat inzwischen das Handy des Toten geknackt und eine Nummer entdeckt, die vor Fengs Tod auffällig oft angerufen wurde.
Leider hat sich sehr schnell herausgestellt, dass diese Nummer zu einem Prepaid Handy führt und nicht weiter verfolgt werden kann. Brian kann nicht einmal sagen, ob es das Handy überhaupt noch gibt.
Gina bleibt nach wie vor an einem wichtigen und ungeklärten Punkt hängen. Selbst wenn sie die Tatwaffen und Opfer zurückverfolgen können. Hat der Täter immer noch kein Motiv gezeigt oder erklärt wie er diese vier Menschen davon überzeugt hat zu den Tatorten zu fahren. Gina ist sich sicher, dass er bei George den Taxifahrer benutzt haben muss oder der Mörder selbst das Taxi gefahren hat. Nur wo ist das Fahrzeug? In der ganzen Stadt ist das Kennzeichen nie wieder aufgetaucht, als ob der Wagen im Nichts verschwunden ist.
Nur verschwinden Autos nicht einfach ohne jede Spur. Man hat Fahndungen raus gegeben und sich auf den Schrottplätzen umgehört. Nichts deutet auf ein altes Taxi hin. Vielleicht hat der Mörder es noch. Sie rauft sich die Haare und dreht den Kuli auf dem mahagoni-farbenen Tisch.
„Warum nur führt jede Spur ins Nichts? Gerade wenn man denkt man könnte etwas voran kommen, endet man doch wieder in einer Sackgasse."
Von allen kommt ein deprimierendes Seufzen. Nur von David nicht. Er lehnt sich auf seinem Stuhl zurück und starrt das Whiteboard an, als ob er da etwas anders sehen würde.
„Lasst Euch nicht unterkriegen. Sucht weiter und wenn es nur Nadeln im Heuhaufen sind. Wichtig ist nur nicht nach Spekulationen zu handeln, sondern dass ihr mir Beweise gebt."
Der Chief sieht kurz zwischen David und Gina hin und her.
„Gibt es noch irgendwelche Spannungen, von denen ich wissen sollte, oder könnt ihr bei diesem Fall mal zusammen arbeiten? Ich glaube ihr könnt großartig sein, als Partner."
Nun sieht David das erste mal seit Beginn der Zusammenkunft zu ihm herüber.
„Ich arbeite nicht mit Baley. Sie ist nur ein Hindernis."
„Wenn Sie doch so großartig sind, warum haben Sie dann noch nicht mehr an die Tafel geschrieben?", hackt sie auf ihn ein.
Er spart sich die Antwort, auch weil der Chief dazwischen geht.
„Auch wenn Sie sich nicht sonderlich verstehen, ist es doch Befehl von oben. Also reißen Sie sich zusammen!"
Beim letzten Satz schaut er hauptsächlich zu Jackson, der genervt aufsteht.
„Von mir aus."
Gina zuckt grinsend die Schultern und folgt ihm. Zehn Minuten später sitzt er schweigend auf dem Beifahrersitz ihres Autos und guckt missmutig aus dem Fenster. Ob er sich wieder unwohl fühlt? Nun weiß Gina etwas mehr über ihn und kann sein komisches Verhalten im Auto nachvollziehen. Sie kann auch verstehen warum er lieber alleine arbeitet. Am liebsten würde sie ihn auch auf die andere Sache ansprechen, aber dann müsste sie gestehen, dass sie spioniert hat.
Sie sprechen erneut mit Georges Frau und gehen zum dritten Mal den vermeintlichen Ablauf des Mordabends durch. Es hat an dem Tag stark geregnet. Er wollte wie immer mit der Bahn nach Hause Fahren, nahm sich dann aber unerwartet ein Taxi und fuhr direkt zum Tatort. Jackson glaubt immer noch nicht, dass der Taxifahrer der Mörder ist. Gina ist mehr und mehr davon überzeugt. Es kann gar nicht anders sein.
„Mrs. Hamington, laut der Bank hatte Ihr Mann erhebliche Schulden. Wussten Sie etwas davon?", fragt David und stützt sich auf die Knie.
„Wir haben einige Hypotheken aufgenommen, aber das war alles abgesprochen. Ich wusste nichts, von größeren Sachen."
„Dann wussten Sie auch nichts von den Drogen?"
„Welche Drogen?"
Sie wirkt ernsthaft überrascht. Es kann aber auch eine Finte sein.
„Ihr Mann hat im Dark Web Drogen erworben. Laut Gerichtsmedizin hatte er eine geringe Dosis noch im Blut, als er starb. Doch hat er viel mehr gekauft, als er eingenommen hatte. Also muss er irgendwo noch etwas von dem Zeug haben."
„Ich glaube Ihnen nicht. Mein Mann war nicht süchtig."
„Vielleicht hat er zu viel gearbeitet oder hatte Stress? Es muss einen Grund gegeben haben, warum er die Drogen genommen hat."
„Wir hatten keine Sorgen und waren auch gesund."
Sie überlegt einen Moment.
Sie kommen mit ihren Fragen nicht weiter. Anscheinend weiß Mrs. Hamington wirklich nichts von den dunklen Seiten ihres Mannes.
Sie verlassen nach einiger Zeit ihr Haus und fahren durch die belebten Straßen der Stadt. Es ist schon dunkel geworden. Seit Tagen hängen dicke Wolken am Himmel und so kommt der Abend noch schneller als üblich.
„Können die Drogen ein Mittel dazu sein die Opfer zu kontrollieren? Wir wissen, dass alle vier die Drogen genommen haben. Jeder hatte eine ähnliche Menge im Blut nachzuweisen."
Gina spürt Jacksons blick auf sich und wendet den Kopf in seine Richtung, als sie an einer roten Ampel bremsen muss.
Er wirkt überrascht.
„Was? Ist das zu weit hergeholt?"
Er schüttelt unmerklich den Kopf.
„Heißt das Sie hatten auch schon den Gedanken?"
„Wir wissen nicht viel über das neue Zeug. Vielleicht ist es ein Halluzinogen oder eine neue Art der Bewusstseinskontrolle. Jodie sollte mehr davon untersuchen, aber dafür müssen wir nochmal in die Drogenwelt und mehr davon besorgen."
Gina ist nicht begeistert von der Idee, gibt Jackson aber recht.
„Beim letzten Mal sind wir aufgeflogen."
„Dann müssen wir geschickter vorgehen. Das letzte Mal war zu spontan. Bereiten Sie sich vor. Notfalls gefälschte Ausweise oder sowas."
Nanu, er ist ja auf einmal so kooperativ. Das liegt nicht nur an der Ansage vom Boss. Hat er seine Einstellung zu ihr geändert?
Sie fährt an und der Wagen rollt gerade auf die Mitte der Kreuzung, als ein lautes Quietschen sie erschreckt und gleich in der nächsten Sekunde rammt etwas großes den Wagen.
Der Knall gleicht einem Donnern, Ginas Wagen dreht sich und überschlägt sich. Sie drückt die Hände an die Seite und an die Decke. Sie sieht wie die Welt sich dreht und Übelkeit überfällt sie.
Blech knarzt, die Scheiben zerspringen und erst einige Meter weiter am Straßenrand kommt ihr Fahrzeug auf dem Dach liegend zum Stillstand.
Ächzend hält Gina sich noch einen Moment fest und lauscht den leisen Zischen von der Motorhaube. Ihr tut der Kopf weh und einige Glassplitter haben ihre Wange getroffen.
Abgesehen davon fühlt sie keinen Schmerz. Also versucht sie vorsichtig sich zu bewegen und schaut nach ihrem Partner.
Dieser scheint starr vor Schreck. Er starrt abwesend und bleich nach vorne und hängt gleichzeitig verkrampft auf dem Sitz. Die Schwerkraft kämpft gegen den Sicherheitsgurt.
Gina befreit sich und ruft seinen Namen, doch er reagiert nicht. Das Auto dampft und sie weiß die Zeit wird knapp.
„Gehts Ihnen gut? Jackson, hören Sie mich?"
Mühsam krabbelt Gina aus dem Auto, stellt erleichtert fest, dass ihre Beine okay sind und rennt dann auf die andere Seite zu Jackson.
Dort kommt sie nicht weiter, weil eine Hauswand ihr den Weg versperrt.
„Scheiße!", Flucht sie laut und rennt zurück.
„Jackson!", ruft sie immer wieder, doch ist ihr Partner völlig erstarrt.
Gina sieht wie der Rauch aus der Motorhaube sich verdichtet. Die Zeit ist gegen sie.
Sie öffnet seinen Gurt, woraufhin er zusammensackt und sich halb verdreht über die Sitze legt. Gina nimmt seine Arme und zieht ihn aus dem Cockpit.
Mittlerweile kommen Leute dazu und helfen. Sie fragen, ob es ihnen gut geht und rufen einen Krankenwagen.
„Der Wagen könnte explodieren, bitte gehen Sie!"
Die wenigen Menschen, die helfen wollen, weichen panisch zurück. Bis auf einen Mann, der sich hinunter beugt und Jackson von der Straße zieht.
Sie entkommen keine Sekunde zu früh, als eine gewaltige Explosion Ginas schönen Wagen in die Luft jagt. Erschrocken sieht sie auf das Desaster. Dann fällt ihr Blick auf den Truck, der mitten auf der Kreuzung steht und den Verkehr blockiert.
Im selben Moment kommt Jackson zu sich und findet auf die Beine. Gina sieht auf seine blutende Hand. Sein Arm scheint verletzt zu sein. Ebenso wie sein rechtes Bein. Ihn stört es nicht, denn er geht schnurstracks auf den Truck zu und öffnet die Fahrertür. Niemand dort. Entweder der Fahrer hat gleich nach dem Crash die Biege gemacht, oder es hat von Anfang an niemand drin gesessen.
„Sie wollten uns umbringen", haucht Gina noch leicht verstört, ohne den Blick von seinen Verletzungen zu nehmen. Jackson verzieht nicht einmal das Gesicht.
„Nicht Sie, Baley. Sie sind nicht die Zielscheibe."
„Etwa Sie?"
Er beantwortet das nicht.
„Irgendjemand will nicht, dass wir weiter ermitteln."
„Das ist es nicht."
Jackson schließt wieder die Tür und sieht in die Richtung aus welcher der Truck gekommen sein muss.
„Gehen wir."
„Wohin?", fragt sie und Jackson läuft schon los.
„Wenn jemand uns umbringen will, dann wird er sich davon überzeugen wollen, ob sein Plan aufgegangen ist. Wir stehen hier auf dem Präsentierteller."
Das löst in Gina ziemliche Unruhe aus. Sie spürt ihren Puls und ihre Atmung wird unruhig. Trotzdem folgt sie ihrem Partner, der anscheinend aus Gummi zu sein scheint. Er humpelt nicht einmal.
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