(5) Spur ohne Anfang und ohne Ende
Zuhause angekommen, schmeißt Gina ihre Schuhe in die Ecke an der Garderobe und hängt ihren Mantel bloß am Haken auf, anstelle auf einen Bügel. Sie ist total fertig. Dieser Fall beschäftigt sie schon seit Wochen. Ihre Wohnung sieht sie kaum noch von innen.
Genauso wie sie ihren kleinen freilaufenden Kater vernachlässigt.
Kaum ist sie auf dem Sofa und legt die Beine hoch, springt er auf ihren Schoß und wirft ihr einen vorwurfsvollen Blick zu.
„Ja ich weiß, ich habe viel zu tun. Das ändert sich, sobald ich dieses Schwein gefasst habe."
Er gibt nur ein klägliches „Miau" von sich und lässt sich den Nacken kraulen.
Sein schwarzes Fell ist kuschelig weich. Er ist wunderhübsch und sehr gnädig mit ihr. Nach einer ausreichenden Portion Streicheleinheiten scheint er ihr zu vergeben.
Irgendwann springt er von ihr herunter und verschwindet um die nächste Ecke in der Diele. Gina zuckt nur mit den Schultern und geht in die Küche, um sich essen zu machen. Sie will gerade den Kühlschrank öffnen, als es an der Haustür klingelt.
„Wer kann das noch sein?", fragt sie mehr an sich selbst und schaut auf die große Küchenuhr.
Halb neun. Definitiv keine Besuchszeit mehr.
„Ähm...", rutscht es ihr nur heraus, als sie einen älteren Mann und eine Dame im mittleren Alter vor ihrer Tür stehen sieht. Die Frau hat ihre dunklen Haare zu einem Knoten im Nacken gebunden und der Mann zeigt einen prächtigen Lockenkopf. Sie grinsen nur angespannt und präsentieren ihr zwei vollbeladene Einkaufstüten.
„Mum, Dad, was macht ihr denn noch hier?"
„Dafür sorgen, dass du nicht verhungerst. Weißt du eigentlich, wie oft ich dir auf den AB gesprochen habe?", meckert ihre kleine Mutter und geht ohne Einladung an ihr vorbei in die Küche. Ihr schweigsamer Vater hört nicht auf zu grinsen und folgt ihr langsam.
Gina schüttelt den Kopf und schließt die Tür. Sie ist viel zu müde. Doch ihre Eltern meinen es gut, wobei ihre Mutter wohl die treibende Kraft für diesen Besuch ist.
„Alles frische Sachen. Du brauchst Gemüse, Vitamine, Kind. Nicht immer nur dieses Fast-Food-Gedöns für zwischendurch."
„Ich esse nicht immer nur Fast-Food, Mum", verteidigt Gina sich.
„Seit dem du befördert wurdest, hast du kaum noch Zeit zum Leben. Isst nicht, schläfst nicht. Denkst immer nur an Arbeit. Kein Wunder, dass du noch keinen Mann hast."
Sie hört sich das liebevolle Geschimpfe ihrer Mutter an, die fleißig die Tüten auspackt und sich bestens in ihrer schmalen Küche zurecht findet. Ihr Vater steht etwas hilflos im Wohnzimmer.
Irgendwie ist ihr das alles zu viel. Sie hat schon einen stressigen Job, da braucht sie nicht noch eine stressige Familie. So gut sie es auch meinen, Gina komplimentiert ihre Eltern relativ bald wieder zur Tür hinaus mit der Ausrede müde zu sein.
Natürlich kassiert sie auch dafür einen Spruch von ihrer stets unzufriedenen Mutter.
„Sieh zu, dass du nicht nur schläfst, sondern was isst, Kind. Kein Mann will so einen Hungerhaken."
Gina fühlt sich nicht wie ein Hungerhaken. Sie ist weder zu dick noch zu dünn. Sie ist sogar ausreichend trainiert.
„Ich werde morgen einen aufgeblasenen Affen zum Frühstück verspeisen", murmelt Gina zu sich selbst.
„Bitte was?"
„Ach nichts, Mum, ist nicht so wichtig."
Sie lächelt abtuend und winkt zum Abschied, als sie ihren Vater zärtlich auf den Flur drängt.
„Kommt gut nach Hause", sagt sie als letztes, bevor sie die Tür schließt. Danach entschlüpft ihr ein lautes Schnaufen und sie geht ins Bad, um sich Bettfertig zu machen.
Am nächsten Tag, kommt sie ins Revier, hat kaum ihren PC gestartet, da kommt schon ein ernst drein schauender Detektiv Jackson an ihrem Platz vorbei gerauscht. Er ignoriert sie vollkommen und stolziert schnurstracks in die Forensische Abteilung. Es poltert und für einen Moment macht sich Gina Sorgen um Jodie. Nach fünf Minuten kommt Jackson wieder hinaus und stapft genau zu ihr herüber.
„Ist das Ihr Ernst, Detektive?"
Völlig ahnungslos zuckt Gina mit den Schultern. Sie ist sein Temperament bereits gewöhnt und zeigt sich diesmal unbeeindruckt. Er ist nur ein aufgeblasener, überheblicher Affe mit einem Emotionsproblem.
„Sie haben noch nicht einmal herausgefunden, wo die Tatwaffe herkommt?"
Das ist mehr eine Feststellung als eine Frage.
Vorsichtig schüttelt sie den Kopf.
„Das ist doch das erste, was man prüfen sollte."
„Jetzt kommen Sie mal runter, Jackson", sagt Gina ruhig und erhebt sich von ihrem Drehstuhl. „Wir haben versucht die Tatwaffe zurück zu verfolgen. Wir haben den Hersteller kontaktiert, wir haben herausgefunden wie viele Käufer in den letzten Monaten so ein Messer gekauft haben und wie, ob im Internet oder in einem lokalen Shop. Darunter waren etwa zehntausend Kunden. Von denen wir noch nicht wissen, wie im einzelnen sie das Messer gekauft haben. Wir wissen auch nicht wie lange der Täter die Waffe bereits im Besitz hatte. Vielleicht hat er mehrere bestellt."
Er hebt die Hand und stoppt ihren Redefluss.
„Kann er sie gefälscht haben?"
Sie schüttelt wieder den Kopf.
„Es hing an allen drei Tatwaffen eine Seriennummer, die uns zum Hersteller geführt hat. Er hat sie definitiv erworben und nicht nachgemacht. Trotzdem ist es schwer unter zehntausend Leuten, die nur in dieser Stadt leben, einen Verdächtigen zu finden."
„Machen Sie es über die ID. Jeder Onlinekäufer hat eine ID über den PC laufen."
„Und was ist mit den Inshopkäufen?"
Das ist für David Jackson so klar wie nichts auf der Welt. Er verlangt jeden einzelnen Shop abzuklappern und nach den Seriennummern auf den Waffen zu fragen. Daran lässt sich herausfinden, ob eine der Waffen im Shop gekauft wurde, sowie das Wo und das Wann. Vielleicht könnte man daran auch herausfinden wer sie gekauft hat und diese Person würde höchstwahrscheinlich der Mörder sein oder in sehr engem Kontakt zu diesem stehen.
Eine ganz einfache Schlussfolgerung.
„Und wer soll das alles nachforschen? Wir haben nicht genug Mitarbeiter."
„Ich kümmere mich darum. Sie überprüfen die IDs im Netz. Wenn Sie auch nur irgendetwas auffälliges finden, dann sagen Sie es mir."
„Ach jetzt auf einmal wollen Sie eine Zusammenarbeit, wenn Sie mich herumkommandieren und benutzen wollen. Woher weiß ich denn, dass Sie Ihre Erkenntnisse ebenso teilen?"
Er richtet sich auf, verengt die eh schon ernsten Augen und starrt sie warnend nieder.
„Reizen Sie mich nicht, Detektive."
„Sonst was?", fragt sie gefasst und hält seinem Blick stand.
„Wenn wir auch nur den geringsten Fortschritt in dem Fall erreichen wollen, bin ich darauf angewiesen Erkenntnisse auszutauschen, obwohl Sie mir nicht wirklich eine Hilfe sind."
„Sie mir auch nicht. Alles was Sie können ist mich anzufauchen."
Er zuckt nur mit der Augenbraue. Es kratzt ihn gar nicht.
„An die Arbeit, Baley."
Mit diesen Worten rauscht er davon. Gina schnaubt abermals über sein Verhalten und lässt sich missmutig an ihrem PC nieder. Er ist nicht ihr Chef. Trotzdem verhält er sich wie dieser.
Sie schluckt ihren Frust herunter und schreibt Brian über ein privates Chatfenster an.
Hast du irgendetwas nützliches für mich, bevor ich mich ans Werk schmeiße?
- Es haben etwa 10.000 Käufer dieses Messer gekauft. Eine Seriennummer stimmt mit einem Produkt im Onlinekauf überein. Der selbe Käufer hat zwei Messer bestellt.
Zwei? Warum zwei? Könnte das der Mörder sein?
- Nicht zu hoch pokern, Detektive. Es kann auch Zufall sein.
Kannst du die ID herausfinden und eine Adresse?
Zehn Minuten später meldet sich Brian erneut mit einem Anhang:
- Dort führt die ID hin. Sieht nicht sehr verdächtig aus.
Gina starrt auf das mitgeschickte Bild von Google, auf dem ein kleines Einfamilienhaus zu sehen ist. Davor steht nur ein altes Auto und ein kleiner gepflegter Vorgarten weist auf die idyllische Vorstadt hin, wo man noch Wettbewerbe für den schönsten Garten abhält.
Doch nur weil das Haus nicht verdächtig aussieht und die Bewohner auch nicht, heißt das nicht, dass sie unschuldig sind. Man schaut den Leuten in der Regel nur vor den Kopf.
Gina schreibt Brian nur eine kurze Antwort und macht sich dann auf den Weg zum Ausgangspunkt der ID. Sie will sich die Gegend mal genauer ansehen.
Leider sitzt sie zwei Stunden später in ihrem schwarzen Acura und gähnt herzhaft. Sie hat sich die sehr ruhige und unauffällige Nachbarschaft angesehen und nichts gefunden, was irgendwie auf einen Serienmörder hinweisen könnte. Nun observiert sie freiwillig das Haus und zählt ihre Überstunden.
Mittlerweile hat sie herausgefunden wer dort lebt. Ein einfacher Geschäftann, ein Buchalter, mit seiner Frau und seinen beiden Kindern. Sie sind sechs und elf. Die Frau arbeitet nicht und kümmert sich nur um den Haushalt. Leider hat Gina keine Genehmigung weiter vorzugehen. Denn aufgrund eines Verdachts, bekommt sie kein Durchsuchungsbefehl.
Es ist schon für Brian aufwendig genug gewesen die Genehmigung der Staatsanwaltschaft zu bekommen, um die ID des Käufers weiter zu verfolgen. Das ist so ziemlich die einzige Spur, die sie haben. Es sei denn Detektiv Arsch würde mit neuen Erkenntnissen aufschlagen. Gina hat seit dem kurzen Treffen im Revier nichts mehr von ihm gehört. Langsam wird sie ungehalten darüber. Was macht der Typ eigentlich die ganze Zeit?
Sie schaltet gelangweilt durch die wenigen Radiosender und zieht sich die Jacke zusammen. Es ist kalt im Wagen, doch ist ihr Motor zu laut, um ihn laufen zu lassen.
Plötzlich klingelt ihr Handy.
„Hauptkommissar? Was verschafft mir die Ehre?"
„Detektive Baley, es gibt einen weiteren Mord."
„WAS?", schreit Gina schon fast in ihr Telefon und ihre Hand wandert automatisch an den Autoschlüssel, der noch in der Zündung steckt.
„Kommen Sie sofort! Ich schicke Ihnen die Adresse."
Natürlich folgt sie sofort der Anweisung. Nervös kämmt sie sich mit einer einzigen Handbewegung die schwarzen kinnlangen Haare zurück.
„Das darf doch wohl nicht wahr sein", flucht sie zu sich selbst.
Der Motor startet und sie gibt Gas. In Windeseile schießt der dunkle Wagen über die hell beleuchteten Straßen der Stadt.
Alles was sie bisher getan hat, ist Zeitverschwendung. Derweil hat der Mörder ein viertes Opfer gefordert.
Die Familie kommt dafür nicht in Frage, oder? Hätte der Mann es tun können, bevor er nach Hause gekommen ist?
Ihre Anspannung lässt sie ihren Fuß noch fester aufs Gaspedal treten.
Eine Viertelstunde später biegt sie in die Zielstraße ein und tritt spontan auf die Bremse, weil ihr mehrere Streifenwagen unter Blaulicht den Weg versperrten. Sie steigt hastig aus und läuft eilig an den Kollegen vorbei, die soeben den Ort mit Absperrband präparieren wollen.
Sie hält kurz ihren Ausweis hoch und geht an ihnen vorbei. Ihre Augen starren an den vielen Menschen vorbei, einige davon sind in Uniform.
Doch als sie endlich den blutüberströmten Körper am Boden sieht, wird ihr anders zumute. Nicht wegen der aufgeschlitzten Leiche, sondern eher wegen ihres blutigen Kollegen im hellbraunen Mantel.
Detektiv Jackson kniet neben dem toten Mann, der ziemlich schräg den Hals verdreht hat. Diesmal liegt die Leiche nicht graziös am Boden, wie eine Wachsfigur. Gina wünscht sich wirklich es wäre nur Wachs, was da vor Jackson am Boden liegt.
Seine Hände sind kaum noch zu erkennen vor Blut und seine Locken stehen ihm von allen Seiten vom Kopf ab. Er hebt flüchtig den Kopf. Gina rechnet mit Schock oder Entsetzen - irgendeine Reaktion in seinen Augen. Nichts, da ist nichts. Das ist wohl mit das Erschreckendste für sie: Die unberührten Augen dieses seltsamen Mannes.
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