(31) Die Frage nach dem Grund

„Zunächst erstmal möchte ich Ihnen gratulieren zum erreichen Ihrer letzten Zugfahrt im Leben. Sie haben beide hervorragende Arbeit geleistet. Allerdings..."
Gina wurde schon beim ersten Satz von ihm übel.
„...war ich Ihnen immer einen Schritt voraus. Sie haben meine kleine Schnitzeljagd durch die Stadt verstanden, aber Sie haben mich niemals vollkommen verstanden und somit auch nicht aufhalten können."

Der Wagen ruckelt ganz schön. Er fährt mittlerweile richtig schnell und Gina stützt sich mit der Hand auf die Lehne eines Stuhls. David hat weniger Probleme das Gleichgewicht zu halten. Er sieht komischer Weise entspannt aus. Zwar ernst aber keines Wegs beunruhigt.

„Ich kenne Ihre Motive, Sir. Ich kenne nur nicht die Hintergründe."
„Wollen Sie das wirklich wissen? Gewiss Sie wollen die Wahrheit, bevor Sie abtreten. Verständlich", sagt er und nickt abwesend.
„Sie haben meine Eltern umgebracht",  beschuldigt David ihn direkt und der Mann streitet es nicht einmal ab.

„Ich finde es höchst interessant, dass Sie gleich in die Vollen gehen, Detektive. Wer ich bin und woher ich Sie kenne scheint Sie gar nicht zu interessieren."
Das stimmt nicht ganz. David kennt bereits seine Identität. Trotzdem schweigt er noch und tut so als wüsste er es nicht.

„Oh Sie sollten wissen wer ich bin, denn ich bin der Grund warum Sie überhaupt Polizist geworden sind. Der Mord an ihren Eltern ist bis heute nicht aufgeklärt, weil niemand Ihnen zuhören wollte. Sie waren ein verstörtes und krankes Kind. Warum sollte man Ihnen auch glauben?"

Gina tritt einen Schritt vor.
„Weil er dabei war. Er kann sich erinnern."
„Das hat die Ermittler damals nicht wirklich interessiert", argumentiert er dagegen und David zieht Gina ganz vorsichtig zurück.
„Also geben Sie es zu?", fragt David immer noch gelassen. Gina versteht nicht, wie er so ruhig bleiben kann.

Der Mann lächelt und lehnt sich in den Sitz zurück, dabei faltet er seine großen rauen Hände vor dem Bauch. Er ist mächtig begabt und intelligent noch dazu.

Seine Hände sind ganz sauber, fast schon klinisch rein. Das bestätigt die Annahme, dass er im Krankenhaus arbeitet. Allerdings sind diese Hände auch abgenutzt, was für ein Handwerk spricht. Er könnte Techniker sein. Auf jeden Fall ist er es gewohnt am Computer zu arbeiten. David hat seine linke Hand genauer betrachten können, solange sie noch auf der Lehne geruht hatte.

Mittelfinger, Zeigefinger und Ringfinger sehen deutlich schmieriger aus. An der Tastatur kommt man oft ins Schwitzen, dann bildet sich ein leichter Film an den Fingerkuppen.
Also hat er alleine gearbeitet. Es gibt keinen Komplizen, was beruhigend ist.

Als der Zug um eine Kurve fährt, muss auch David sich kurz festhalten.
„Wieso setzen Sie sich nicht? Ich finde es unhöflich sich im Stehen zu unterhalten."
Gina ist ganz und gar nicht nach Plaudern. Jedes Mal wenn der Zug eine Haltestelle passiert oder eine Kreuzung, ist sie froh keinen Crash ausgelöst zu haben. Immer wieder wandert ihr nervöser Blick aus dem Fenster. Die Fahrt geht immer schneller.

Widerwillig nehmen David und Gina ihm gegenüber Platz.
Es juckt ihnen in den Fingern den Mann einfach festzunehmen und abzuführen. David weiß genau, dass er nur darauf wartet. Er muss noch ein Aß im Ärmel haben, sonst würde er nicht so gelassen vor ihnen sitzen. Auch Gina scheint das zu denken, denn sie bleibet ebenfalls sitzen. Zwar gefällt ihr die Situation auch nicht, aber sie beherrscht sich.

„Also", beginnt David wieder, um keine kostbare Zeit zu verschwenden. Je schneller sie diese Farce hinter sich bringen, desto besser.
„Warum Sie mich umbringen wollen, ist mir bereits klar. Doch weiß ich immer noch nicht, warum sie damals meine Eltern töten mussten."

„Sagen wir...sie waren einfach zur falschen Zeit am falschen Ort."
„Schwachsinn!", streitet David ab. „Der Unfall war vorbereitet. Das Auto war präpariert. Sie haben es aus der Ferne auf die Schienen gesteuert. Sie haben an der Elektronik herumgebastelt, damit der Wagen zum richtigen Zeitpunkt auf die Schienen rollt und nur von Ihnen gesteuert werden kann."

„Ich bin immer wieder sprachlos, Jackson. Daran können Sie sich auch noch erinnern? Ihr Verstand ist echt gefährlich."
„Damals konnte ich es nicht einordnen, aber heute bin ich definitiv schlauer. Doch reden wir nicht ums Wesentliche herum. Kommen sie zum Punkt, Mister."
„Haben Sie meinen Namen schon erraten, Jackson? Ich kann nichts sagen, bevor Sie dieses kleine Detail herausgefunden haben."

Gina ist empört.
„Wie soll er das denn wissen? Er ist Ihnen niemals begegnet."
„Das stimmt nicht", korrigiert der Bastard. „Ich bin sogar damals bei seiner Familie im Haus gewesen."
Davids Kopf arbeitet auf Hochtouren. So langsam kommen die Erinnerungen zurück.
„Er war noch so jung und unschuldig. Aber ich bin nicht gekränkt, wenn Sie sich nicht mehr erinnern."

„Neil...", spuckt David plötzlich aus und bekommt einen irritierten Seitenblick von seiner Kollegin.
„Doctor Neil Campbell."
Sein Nicken bestätigt David.
„Sie sind wirklich gut, Detektive. Ich hätte nicht gedacht, dass mein Name bei Ihnen hängen geblieben ist."

„Ist er nicht", meint David plump. Als ob er diesem Affen jemals so viel Bedeutung schenken würde. „Dass Sie einen Doctor-Titel haben, ist nicht schwer zu erraten. Darüber hinaus gehörte das Lagerhaus der Campbell Corporation. Die Firma Ihres Vaters nehme ich an."

Wieder ein Nicken und ein immer verstörender Blick von Gina.
„Sie haben die Firma geerbt, aber nie weiter geführt und Insolvenz gehen lassen, weil Sie sich auf anderen Gebieten gebildet haben. Sie haben Ihren Informatiker gemacht und den Mediziner ebenfalls."

„Woher wissen Sie das?", will Gina nun überrascht wissen. Liest er es ihm vom Gesicht ab?
„Es gab mal großes Aufsehen um die Firma. Auch Doctor Campbell war mal berühmt für seine medizinische Forschung. Genau dafür hat er nämlich die Lagerhäuser gebraucht. Allerdings hat es großes Theater darum gegeben. Es hieß vor ein paar Jahren, dass seine Forschungen unmoralisch und unsicher wären."

„Sie haben wirklich ein phantastisches Gedächtnis, Jackson. Reden Sie ruhig weiter. Ich will wissen woran Sie sich noch erinnern."
David schenkt ihm einen düsteren Blick, redet aber gehorsam weiter.
„Man hat Ihre Forschung nicht länger unterstützt und nach kurzer Zeit wurde der Laden dicht gemacht. Sie haben Ihre Lizenz als Arzt verloren und haben keinen Job im medizinischen Bereich mehr bekommen. Die Medien haben das ziemlich heiß berichtet. Es war ein Skandal."

Gina wendet sich nachdenklich ab und starrt ihr gegenüber an.
„Nun kommen wir zum wichtigsten Teil der Geschichte. Darf ich bitten, Jackson. Sie können sich Ihre Frage nach dem Grund vielleicht selbst erklären."

David weiß es seit dem Moment, als er zum Lagerhaus kam. Zunächst hat er dem Namen der Firma keine Bedeutung zugewiesen. Doch konnte es kein Zufall sein, dass der Psycho ihn ausgerechnet dorthin geführt hat.

Nachdem David die Antwort versäumt hat, fängt Campbell wieder an zu erzählen:
„Damals hatte ich Ihren Vater um eine Partnerschaft gebeten. Wir wollten das Projekt zusammen begleiten. Er war Journalist und wollte meine Forschung an die Öffentlichkeit bringen, damit sie Erfolg haben konnte. Als er herausfand, was eigentlich dahinter steckte, hat er einen Rückzieher gemacht und mich und meine Arbeit in Verruf gebracht. Der Traum von Unabhängigkeit und Fortschritt war verloren."

Gina schluckt angespannt. Sie kann sich schon denken was als Nächstes kommt.
„Auf einmal haben die Medien nur noch negatives über mich berichtet. Ich hatte keine Wahl als von der Bildfläche zu verschwinden. Das hat Ihren Vater nie gestört. Er hat mit der Sache abgeschlossen und sein Leben erfolgreich weiter gelebt. Doch ich war ruiniert und hatte nichts mehr. Meine Zukunft war dahin."

Ein kläglicher Ausdruck bildet sich auf seinem blassen Gesicht. Trotz der harten Umstände hat er es wieder auf die Beine geschafft. Er hat sich in anderen Bereichen weiter entwickelt, nur leider im negativen Sinne.
„Es hat mich Jahre gekostet einen neuen Job in einer ganz anderen Branche zu finden. Ich habe mich durch gekämpft. Doch blieben die Vorurteile und der Hass der Menschen. An allem war ihr Vater schuld, Jackson."

„Sie waren selbst an Ihrem Untergang schuld, Campbell. Sie haben nicht nach den Regeln gespielt und gegen Gesetze verstoßen."
„Das mag sein. Trotzdem ist Robert Jackson zu weit gegangen. Hätte er sich still zurück gezogen, wäre nichts passiert. Wir hätten einfach auseinander gehen können, doch er hat mein Leben zerstört."

Nach wie vor weigert sich David seinem Vater die Schuld zu geben, der bloß seine Pflicht getan hat, indem er ihn gemeldet hat.
„Ich konnte diese Fratze von ihm  jeden Tag in der Zeitung sehen. Er war mir zu wieder. Also habe ich ihm kurzer Hand aus dem Leben geräumt."

Gina verzeiht angewidert das Gesicht. Er scheint auch noch stolz darauf zu sein.
„Und was hat David damit zu tun? Er war noch ein Kind als all das geschah."
„Mag sein. Doch hat er den Unfall leider überlebt. Er konnte sich erinnern und mir war klar, dass er es eines Tages aufdecken würde. Dafür ist er zu intelligent und vor allem zu ehrgeizig."

Er steht auf und zieht die Stirn wütend zusammen.
„Wenn er Lehrer geworden wäre oder einen anderen unbedeutenden Beruf ausüben würde, wäre mir das gleich, aber er ist ausgerechnet Polizist geworden."
„Also wollen Sie Ihn nur umbringen, weil er den Mord von damals bezeugen kann?"
„Er ist noch nicht verjährt, Gina", erklärt David immer noch vollkommen entspannt. Sie bewundert seine Selbstbeherrschung.
„Noch kann er dafür verknackt werden. Doch sind zusätzlich zu damals noch weitere Morde auf sein Konto gekommen."

„Und das verstehe ich nicht. Wozu mussten all die anderen Menschen sterben?"
„Sagen Sie es ihr, Detektive", fordert Campbell und geht im Gang auf und ab. Seine neue Unruhe gefällt David gar nicht.
Er seufzt leise und sieht wieder zu Gina.

„Er wollte einfach nur Aufmerksamkeit."
„Nein, nicht nur das", korrigiert Campbell laut. „Ich wollte der ganzen Welt Ihren Namen aufdrucken. Ihren Namen in den Schmutz ziehen. Den Namen der Familie Jackson. Ich wollte beweisen, dass Sie als Ermittler nicht so makellos und perfekt sind. Ich wollte allen dort draußen zeigen, dass der berühmte David Jackson nichts machen kann. Er kann mich nicht aufhalten. Dann soll er verschwinden und die Welt wird sich immer fragen, was aus ihm gewogen ist. Ist er vielleicht dem Wahnsinn erlegen? Soll ja bekanntlich allen Genies irgendwann passieren."

„Ich bin kein Genie", wirft David dazwischen. „Ich bin auch schon gar nicht perfekt und fehlerlos. Ich habe nur dank meiner Behinderung gelernt alle Dinge in meiner Umgebung zu beachten. Genauso wie ich jetzt bemerke, dass Sie unruhig werden und auf den Ausgang zugehen."
Campbells Miene verdunkelt sich.
„Sie gehen mir richtig auf die Nerven, Detektive Jackson. Doch wollen wir mal sehen wohin uns unsere Reise noch führt. Sind sie wirklich in der Lage mich aufzuhalten?"

David fixiert ihn wie ein Raubtier. Er ist ebenfalls aufgestanden und wartet darauf jede Sekunde loszulaufen.
Gina steht neben ihm auf dem Gang und macht sich ebenfalls bereit.
Es folgt ein hämisches Grinsen von Campbell und in der nächsten Sekunde stürmt er aus dem Abteil nach draußen. David sieht gerade noch, wie er an der Leiter hinauf aufs Dach klettert.

Gina setzt sich als erstes in Bewegung, um ihn zu verfolgen, doch David hält sie auf.
„Warten Sie, Gina."
„Warum? Wir müssen ihn einholen."
„Keine Panik, wir machen locker siebzig bis hundert Meilen pro Stunde. Das ist ein Zug, er kann gar nicht auf Dauer entkommen, es sei denn er springt in den Tod."
Davids Worte überzeugen sie zum Glück. Doch plagt die Ungeduld seine Kollegin.

Auf einmal spürt er einen fetten Kloß im Hals. Er drängt sie zurück zu einem der Stühle und drückt sie sachte nach unten.
Irritiert starrt sie ihn an.
„Bevor wir weiter machen, muss ich Ihnen etwas sagen", meint David und kniet sich halb vor sie hin. Dabei hält er immer noch ihr Handgelenk fest.
Gina ist so verwirrt, dass sie nicht auf seine Hand achtet.

„Sie haben mich doch gefragt, ob ich Ihnen vertraue, richtig?"
Sie nickt zögerlich.
„Bevor alles hier endet, schulde ich Ihnen noch die Antwort...."
Sie hängt wie gebannt an seinen Lippen. David hält ihrem flimmernden Blick stand und sagt so ehrlich er nur kann: „Ich vertraue Ihnen, Gina und..."
Sie wartet angespannt.
„...es tut mir wirklich leid."

Die Reue in seinen Augen ist absolut irritierend und Gina versteht es nicht.
„Was?"
Im nächsten Moment ertönt ein metallisches Klicken. Sie blickt auf ihre plötzlich gefesselte Hand. David hat ihre Handschellen dazu genutzt sie an den Sitz zu ketten.
„Was machen Sie da? Was soll das?", fragt sie panisch. Eigentlich weiß sie es doch.
David erhebt sich und geht rückwärts zur Tür.
„David, machen Sie mich los! Das können Sie nicht machen!", schreit sie hilflos und zerrt an den Fesseln.

Sein Gesicht spricht Bände. Er tritt hinaus und dreht sich noch einmal zu Gina um, die immer noch zeternd auf dem Stuhl sitzt.
„David, tun Sie das nicht. Ich bitte Sie!"
Keine Chance. Er hört nicht auf sie. Sie fleht ihn an und rüttelt immer wider an dem Stuhl.
„DAVID!", schreit sie laut und hofft irgendwas damit erreichen zu können.

David ist fest entschlossen sie dort im Abteil zurück zu lassen. Er weiß genau, dass Campbell auf den anderen Wagen aufgesprungen ist. Also sollte Gina dort in Sicherheit sein.
Er hört sie noch immer fluchen und nach ihm rufen, als er manuell die Verankerung löst und den Wagen abtrennt. Er wird sofort langsamer und irgendwann wird er ausrollen und zum Stehen kommen.

Er sieht ein letztes Mal durch das ovale Fenster in den langsamer werdenden Wagen. Er sieht ihren verzweifelten und gleichzeitig wütenden Blick. Es ist keine Frage des Vertrauens. Er denkt nur an Ginas Zukunft. Mehr als sie selbst im Augenblick. Er denkt an das kleine Ding in ihrem Körper, das unbedingt eine Zukunft braucht. Wenn Campbell es schafft heute ein Leben zu zerstören, wird es garantiert nicht ihres sein. Dafür nimmt er sogar ihren Hass in Kauf.

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