(30) Das Spiel beginnt

Der Wagen rutscht über den feuchten Asphalt und dreht ein paar mal in den Kurven durch. Zu allem Überfluss hat es angefangen zu regnen. Nein, es ist eher ein Schneeregen. Sie hat gar nicht bemerkt wie kalt es geworden ist.

Gina ruft besorgt ihre Kollegen um Hilfe. Sie dürfen nicht alleine an so einen Ort gehen.
Leider hat David das missachtet. Er hat sie mit Absicht zurück gelassen. Sie kann es immer noch nicht glauben.

Sie ist so wütend auf ihn. Gleichzeitig macht sie sich wahnsinnige Sorgen. Markus zu verlieren reicht ihr schon. Sie darf nicht auch noch erleben wie David etwas zustößt.
Verzweifelt versucht sie ihn immer wieder anzurufen, doch er hat sein Handy abgeschaltet.

Immer wieder stößt Gina einen halb erstickten Fluch aus und ignoriert die hupenden Autofahrer. Sie macht nur in einer schnellen Reaktion die mobile Sirene an und das Blaulicht hinter der Windschutzscheibe. Zumindest kommt sie jetzt besser durch den Abendverkehr.

Trotzdem dauert es viel zu lange, bis sie ihr Ziel erreicht. Mit quietschenden Reifen hält sie das Auto an und steigt aus. Sofort klatscht ihr der Regen ins Gesicht es ist ekelhaft kalt und unangenehm.
Obwohl sie innerhalb von Sekunden komplett nass ist, bleibt sie mitten im Regen vor dem Lagerhaus stehen und sieht sich um. Etwas passt nicht in das Bild. Ihr Auto ist nicht da. Wo ist der blaue Mercedes? Sie ist sich sicher, dass David damit gefahren ist.

Sie geht ins Lagerhaus und wird vom vollkommener Dunkelheit empfangen. Ein kalter Schauer begleitet sie und das Wasser tropft auf den grauen Boden. Sie will hier nicht sein. Ihre innere Alarmglocke schreit ununterbrochen. Sie kann das gesamte Grundstück auf den Kopf stellen, ihr Bauch sagt ihr, dass David nicht hier ist.

Sie schreckt zusammen, als ihr Handy bimmelt. Auf dem Display steht der Name ihres vermissten Partners.
„David, wo sind Sie?", fragt sie sofort aufgewühlt.
„Detektive Baley..."
Diese Stimme! Sofort bleibt sie stehen. Es ist klar wer dran ist. Gina spürt eine Gänsehaut. Er hat Davids Telefon - kein gutes Zeichen.
„Wer sind Sie?"
Natürlich bekommt sie keine Antwort auf die Frage.
„Beeilen Sie sich, Detektive, sonst werden Sie Ihren Partner nie wieder sehen!"

Sie dreht sich auf dem Absatz um und eilt wieder hinaus an die frische Luft: sie nimmt es lieber mit dem kalten Regen auf, als noch eine Minute länger in dem unheimlichen Lagerhaus zu bleiben.
„Was haben sie mit ihm gemacht? Wo ist er?"
„Sie wissen wo", antwortet die verzerrte Stimme. Dann ist der Anruf plötzlich beendet und Gina starrt aufs Display. Durchsichtige Tropfen machen den Bildschirm unscharf und verzerren die Konturen ihres Hintergrundbildes.

Dann erhält sie eine Nachricht. Gina tippt angespannt darauf und hält die Luft an.
Was sie sieht versetzt sie in Panik. Das Wasser macht das Foto undeutlich, also wischt sie es mit dem Ärmel weg. Es hilft nicht, der Regen ist zu stark. Schnell huscht Gina ins Auto zurück und starrt erneut aufs Handy. Sie kann nicht glauben was sie da sieht.

Sie sieht Schienen. Derjenige, der das Foto gemacht hat, steht auf den Schienen. Vor ihm, unter einem hellen Lichtkegel der ringsum stehenden  Laternen, steht ihr Auto. Der blaue Mercedes steht quer über den Schienen.

Ohne groß nachdenken zu müssen, weiß sie wo das ist. Sie kennt den nördlichen Bahnhof nicht so gut, aber sie ist sich ganz sicher, dass der Mistkerl David dorthin gebracht hat. Er wird die gleiche gruselige Nummer abziehen, wie damals bei seinen Eltern.

Gina startet den Motor und schaltet den Funk ein.
„Hier spricht Detektive Gina Baley, ich fahre zum Nordbahnhof und fordere dringend Verstärkung an. Ein Polizist wurde entführt und schwebt in Lebensgefahr. Ich wiederhole ein Polizist wurde entführt."

Dann tritt sie aufs Gas. Damit wissen ihre Kollegen wo sie hin müssen.
Der schwarze Van der Sondereinheit kommt ihr auf der schmalen Straße im Industriegebiet entgegen. Sie machen eine schnelle Wendung und folgen Gina direkt.

Sie jagen durch die Stadt als wäre ihnen der Teufel auf den Versen.  Nur zehn Minuten später erreichen sie den Bahnhof und verteilen sich übers Gelände. Gina nimmt jemanden mit und sucht die Schienen ab. Wo ist die Stelle mit dem Bahnübergang.

Zum Glück weiß es der andere Polizist und führt sie vom Bahnhof weg. Nur ein paar hundert Meter vor den überdachten Haltestellen finden sie den Übergang und Ginas Auto. Sie eilt darauf zu.
„Vorsicht, Detektive!", warnt ihr Begleiter in voller Montur und hält sie zurück. Gina lässt sich nur ungern bremsen, denn da gibt es etwas, was sie in Panik versetzt.

In der Ferne nähern sich Scheinwerfer eines Zuges. Sie hat keine Zeit für Vorsicht. Also lässt sie den Kollegen hinter sich und rennt zum Mercedes.
Die Scheiben sind beschlagen. Sie kann außer einer dunklen Silhouette auf dem Rücksitz nichts erkennen. Sie rüttelt an der Tür. Abgeschlossen.
„David?", ruft sie in der Hoffnung er würde antworten.
Es bleibt still.

Nur der Zug kommt gefährlich schnell näher. Es ertönt ein lautes Hupen von der Lock. Jeden Moment trifft sie das Auto.
„Machen Sie es auf!", befiehlt sie dem Kollegen in Montur aufgelöst. Er tut alles um das Auto aufzubrechen. Er schlägt die Scheiben vorne ein und entriegelt hastig die Türen.

Sofort macht Gina die hintere Tür auf. Völlig perplex bleibt sie stehen. Das ist nicht David auf dem Rücksitz.
Eine schön drapierte Strohpuppe sitzt dort und scheint sie anzugrinsen.
Wieder hupt der Zug.
„Wir müssen weg!", sagt der Kollege unruhig.
Gina sieht den Zug. Sie hat keine Zeit mehr. Gerade als sie sich abwenden will, entdeckt sie etwas in den behandschuhten Strohhänden der Puppe.

„Detektive!", drängelt der Typ hinter ihr und will sie wegziehen. Gina ist schneller und weicht ihm aus. In Windeseile schnappt sie sich das Foto von der Puppe und lässt das Auto hinter sich. Beide laufen so schnell sie können von den Schienen runter. Es ist haarscharf. Im nächsten Moment kracht der gigantische Zug in das schöne Auto und schiebt es einige Meter weit nach vorne über die Schienen. Funken sprühen. Dann kippt der Wagen zur Seite weg und rutscht in den Graben.

Gina schlottern die Knie. Sie atmet kurz durch und dankt dem Kollegen für seine Hilfe. Dann sieht sie sich das Foto an.
Sofort wird ihr ganz anders. Der Regen läuft ihr am warmen Rücken hinunter und gibt ihr schon zum zweiten Mal einen kalten Schauer.

Es ist ein Bild von David. Er liegt regungslos am Boden, die Augen geschlossen. Doch wo ist er nur? Gina betrachtet die Umrisse seiner Umgebung.
Es ist relativ hell. Die Wände sind beige oder grau, so genau erkennt sie es nicht. Der Boden scheint aus einem rauen Vinyl zu bestehen und da sind metallische Stangen rechts und links von ihm.

„Was zur Hölle..."
Sie streift sich die nassen Haare zurück und sieht sich um. Ganz klar will der Psycho mit ihr spielen. Es ist wie eine kleine Schnitzeljagd.
Wenn er David etwas angetan hat, dann kann er was erleben.
Oh warum musste er nur alleine gehen? Er hätte es doch besser wissen müssen.

„Wissen Sie wo das sein könnte?", fragt sie den Kollegen.
Er beugt sich kurz über das Foto.
„Sieht aus wie ein Zug. Mit den Stangen und so. Sie könnten die Füße von den Sitzen sein."
Ja genau! Es ist ein Zug. Nur welcher?

Sie bittet die Unterstützungseinheit alle Züge in der Umgebung zu kontrollieren.
Er ist ganz in der Nähe, Gina weiß es.
Sie klettert auf den nächstbesten Zug und stellt erstaunt fest, wie einfach sie hinein kommt. Alle Türen sind offen. Also läuft sie eilig durch die Wagen. Doch zu ihrem Bedauern ist David nicht hier.

Immer wieder sieht sie aufs Foto und vergleicht die Inneneinrichtung damit.
Wenn nur ein winziges Detail nicht stimmt, geht sie sofort weiter zum nächsten Wagen.
Der dritte Zug steht auf der anderen Seite des Bahnhofs. Er ist einfach so abgestellt und wartet geradezu auf Gina.

Wahrscheinlich beobachtet der Mistkerl jeden ihrer Schritte. Er muss das alles schon sehr lange geplant haben. Wie lange hat er wohl im Lagerhaus auf David gewartet?
Wieder flucht sie laut und steigt in den Zug. Drinnen ist es taghell. Die Deckenlampen sind an.
Kaum hat Gina den hintersten Wagen betreten, atmet sie hörbar auf.
„David!"

Er liegt kaum zehn Meter vor ihr am Boden. Sofort ist sie bei ihm. Er rührt sich nicht.
Gina überprüft seine Atmung. Er atmet normal und ist auch nicht verletzt, wo wie es aussieht.
„David, hören Sie mich?"
Sie rüttelt an ihm. So lange bis er langsam das Gesicht verzieht und die Augen öffnet.

Gina ist ziemlich erleichtert.
„Sind Sie okay?"
Er sieht sie an wie ein Alien.
„Was machen Sie denn hier?"
Sie kann es kaum glauben.
„Ich rette Ihren Hintern!"
„Sie sollten nicht herkommen, Gina."
„Ich bin aber hier", protestiert sie. „Seien Sie besser froh darüber."
Er richtet sich stöhnend auf und reibt sich die Stirn.

„Was ist passiert?"
„Jemand hat mich überwältigt."
Gina glaubt es kaum. Ausgerechnet ihn? Sie schluckt den Spott hinunter angesichts seines blassen Gesichts. Er ist immerhin ein Denker und kein Kämpfer.
„Ist wirklich alles in Ordnung?"
Er nickt und hebt sich auf die Beine. Gleich darauf taumelt er zur Seite und Gina schnellt nach vorne, um ihn zu stützen.
„Was auch immer er mir verabreicht hat war übel."
Nun fasst er sich an den Nacken.
„Haben Sie etwas gesehen?"
„Nein. Es ging alles so schnell", sagt er frustriert.

Gina bläst laut die Luft aus.
„Das ist seltsam. Warum leben Sie noch?"
Er sieht sie schief von der Seite an.
„Na vielen Dank."
David sollte sie eigentlich besser kennen.
„Ich bin froh, dass Sie noch atmen, Detektive, aber wieso hat er Sie nicht gleich umgebracht?"
Er versteht sie und ist ebenfalls verwundert darüber.

„Er ist noch nicht fertig mit uns. Ich bin sicher er hat nur auf Sie gewartet, Baley."
„Ich habe Fotos von ihm erhalten, damit ich Sie schneller finden konnte."
Gina zeigt ihm die Bilder.
„Und er hat mich angerufen."
Nun sieht ihr Partner sie seltsam an.
„Seine Stimme war verzehrt. Ich kann nichts zu seiner Person sagen. Trotzdem hat er mich hier her gelockt. Es muss einen Grund dafür geben."

David weiß den Grund. Er will es Gina nur nicht sagen. Dass sie ihn gefunden hat ist zwar für den Moment gut, aber er will sie nicht hier haben.
Während seine Kollegin noch ihren Grips anstrengt und irgendwas vor sich hin plappert, sieht David aus dem Fenster. Er sieht die Taschenlampen von den anderen Polizisten. Suchen sie noch nach ihm? Es wird ihnen nichts nützen, denn die Falle hat zugeschnappt. Er hat noch geglaubt Gina daraus halten zu können, aber er hat sich geirrt. Das Spiel beginnt in diesem Augenblick.

„Gina...", unterbricht er ihr nachdenkliches Gemurmel mit einem angespannten Unterton.
„Was?"
„Der Zug fährt."
Mehr braucht er nicht sagen. Sie hat es gar nicht mitbekommen, dass der Zug langsam angefahren ist. Nun schaut sie verblüfft aus dem Fenster und sieht wie sich der Bahnhof immer weiter entfernt.
Sie stehen in einem leeren Abteil. Außer leeren Sitzen ist hier nichts.

Aus der Ferne hört man einen Glockenturm schlagen. David sieht auf seine Uhr. Punkt sieben Uhr abends. Das ist kein Personenzug. Das ist ihr persönlicher Zug auf direktem Weg in die Hölle.
„Und was jetzt?", fragt sie und kennt die Antwort schon längst.
„Suchen wir den Zugfahrer", erklärt David wie selbstverständlich.

Sie gehen durch die nächste Tür. Sie kommen in ein angrenzendes Abteil. Niemand hier. Auch im nächsten und übernachten nicht. Ab und zu müssen sie einen anderen Wagen über die äußere Verbindungsbrücke betreten. Es ist ein alter Zug. Auch die Stühle sind schon reichlich abgenutzt und vor allem nicht mehr alle ganz fest gemacht. Manche stehen mitten im Abteil und geben ein monotones Klappern von sich.

„Er hat sich den schönsten von allen Zügen ausgesucht", meckert David und geht voraus.
„Das nächste Mal nehme ich einen Luxuszug", antwortet eine rauchige Stimme hinter ihnen.
Gina und David drehen sich um und starren auf den zerzausten Mann, der plötzlich im Gang hinter ihnen steht. Er ist um die fünfzig Jahre alt. Seiner Hautfarbe und seiner Aussprache nach zu urteilen ist er Amerikaner.

Er hat leichte Fältchen um seine Augen und sein Blick strahlt eine gewisse Kälte aus, gleichzeitig ist er scharf und wachsam. Die hellen Pupillen fixieren die beiden Ermittler.
Gina ist drauf und dran ihre Waffe zu zücken, aber der Typ ist die Ruhe selbst.

„Denken Sie gar nicht dran, Detektive Baley. Wir sollten uns ehrlich mal ein bisschen unterhalten."
„Oh ja, das sollten wir", geht sie voll drauf ein. „Zum Beispiel können Sie uns ein richtig schönes Geständnis erzählen. Ich bin auch ganz Ohr."

Ein schelmisches Lächeln umspielt seine rauen Lippen. Für ihn ist Ginas hitziges Blut eher lächerlich.
David hingegen bleibt cool. Was auch immer der Mann vor hat, er wird definitiv nicht freiwillig in Handschellen aussteigen.
„Ich nehme mal an der Zug hat keinen Führer?"
Er nickt. David bemerkt die kontinuierlich steigende Geschwindigkeit.

„Der Zug wird immer weiter fahren. Ganz gleich wohin oder wie lange. Wir haben also genug Zeit uns zu unterhalten."
Er setzt sich auf einen der vielen staubigen Sitze und schlägt seine kurzen Beine übereinander. David erinnert sich an seine rauchige Stimme, doch ist es ungewohnt dieses blasse Gesicht dazu zu sehen.

Er hat einen karierten Pulli an und eine alte Kordhose aus dem letzten Jahrhundert. Seine Schuhe dagegen sehen neu aus, oder nur gut gepflegt - braune Lederschuhe. Unter dem Pulli lugt ein heller Hemdkragen hervor, der ganz ordentlich über den Ausschnitt gefaltet ist. Seine grauen Haare sind zwar wirr, aber nicht übermäßig lang. Er geht also regelmäßig zum Friseur. Auf den ersten Blick wirkt er wie ein gewöhnlicher Bürger.

Mag seinen, dass David schon mehrmals an ihm vorbei gelaufen ist, ohne ihn zu bemerken, weil er einfach so unscheinbar wirkt.
„Verstehe ich das richtig: Wir fahren bis uns etwas aufhält einfach geradeaus, ohne den Fahrplan zu berücksichtigen?"
„So ist es", bestätigt der Typ gelassen.

Gina fasst automatisch in die Manteltasche und fühlt ihr Handy.
„Machen Sie ruhig. Mal sehen wie gut die Behörden organisiert sind."
Sie zückt das Telefon und ruft auf dem Revier an.
„Wir sind in einem Zug unterwegs...Richtung Norden, schätze ich. Außerhalb der regulären Fahrpläne. Der Zug darf auf gar keinen Fall gestoppt werden, es könnten Katastrophen geschehen. Sorgt dafür, dass die Strecke geräumt wird", gibt sie energisch durch.

„Ich hoffe ihre Kollegen können Ihnen angemessen Zeit verschaffen."
„Bei einer Kollision sind Sie auch in Gefahr", bemerkt David nüchtern.
„Ich habe nichts zu verlieren. Wie sieht's mit euch aus? Hängt ihr an eurem Leben?"

Wie beantwortet man einem Psychopathen so eine Frage?

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