(3) Nachtschicht

David verlässt wütend das Revier und geht zielsicher über den Parkplatz. Er bleibt erst an der Bushalte stehen und wirft einen flüchtigen Blick auf den Fahrplan. Er hat noch ein paar Minuten bis der nächste Bus kommt.
Derweil kann er sich abreagieren. Er weiß gar nicht, warum er sich so über Detektive Baley aufregt. Vielleicht weil sie die offensichtlichen Dinge übersieht?

Der Plan am Whiteboard war zwar nicht schlecht, aber daraus konnte David auch gut ablesen, dass sie alle die wichtigsten Dinge übersehen haben. Zum Beispiel, dass alle Opfer an einsamen dunklen Orten gestorben sind, wo es keine Kameras und kaum eine Menschenseele gibt.
Außerdem hat sich wohl keiner mal die Mühe gemacht und sich die Tatorte auf einer Stadtkarte angesehen.

Diese Orte haben absolut nichts mit dem normalen Leben der Opfer zu tun. Also was hat drei unterschiedliche Menschen dazu bewegt an für sie völlig abwegige Orte zu gehen?
Bei Opfer Nummer Zwei könnte man vielleicht noch einen Hintergrund erkennen, aber auch er war noch nie zuvor an diesem Ort. Warum sieht denn keiner wie merkwürdig das ist? Warum sieht niemand was wirklich dahinter steckt?

Nachdem ihm dies klar geworden war, war ihm sämtliche Lust vergangen mit Detektive Baley zusammen zu arbeiten. Er kennt sie zwar nicht und kann ihre Fähigkeiten nur geringfügig einschätzen, aber ein Blick auf sie, als sie am Tatort gewesen war, hatte ihm genügt. David ist überzeugt davon, dass Baley ihm in Zukunft keine große Hilfe sein wird.
Also arbeitet er lieber alleine.

Er nimmt den Bus und fährt eine Weile durch die Stadt. Er weiß genau wo er hin muss. Auch wenn es schon spät ist und er sein Vorhaben lieber auf den nächsten Tag verschieben sollte, nimmt er sich vor der Familie des dritten Opfers einen Besuch abzustatten.
Kurz nach elf klingelt er an der verzierten Tür eines gepflegten Vorstadthauses. Drinnen geht Licht an und jemand kommt.

Kurz darauf öffnet ihm eine dunkelhaarige Frau die Tür. Sie sieht müde aus und ihre Augen zeigen deutlich, dass sie vor kurzem geweint hat. Sie macht große Augen, als sie David sieht. Sie erkennt ihn. Gott, wie lästig das ist. Trotzdem kann er auf einen gewissen Ruhm nicht verzichten, um ungeklärte Mysterien aufzudecken. Davon gibt es wahrlich genug auf der Welt...und Ungerechtigkeiten.

Sie schnieft und zwingt sich zu einem höflichen Lächeln.
„Sie...sind..."
„Detektiv Jackson, sehr erfreut, Madame."
Sie bittet ihn herein. Schon jetzt fühlt er sich unwohl.
„Verzeihen Sie die späte Störung."
„Ach was, ich war eh noch wach. Kann ich Ihnen etwas anbieten?"
Er lehnt dankend ab.

„Ich werde wohl nicht lange bleiben, Mrs. Hamington. Leider komme ich nicht mit froher Kunde."
Ihr entgleiten sämtliche Gesichtszüge.
„Bitte nicht..."
Ihr steigen erneut die Tränen in die Augen. David hasst das. Doch er muss es ihr sagen, damit er weiter ermitteln kann.

„Ihr Mann ist leider heute Nacht verstorben. Er wurde ermordet", sagt er ohne Umschweife und nicht gerade sehr mitfühlend. Er kann einfach kein Mitgefühl zeigen. Es ist, als hätte ihm jemand einen Emotionsblocker eingesetzt. Das war früher mal anders.

„Das...kann nicht sein...", schluchzt sie verzweifelt.
„Wir sind dem Mörder auf der Spur. Daher muss ich um Ihre Kooperation bitten, auch wenn es schwer ist."
Mrs. Hamington braucht einen Moment für sich. David versucht sich in Geduld zu üben und wartet. Er bleibt mit vor der Brust verschränkten Armen im Flur stehen und sieht sich die Familiengalerie an den Wänden an. Anscheinend hat der Mann Kinder. Ob sie schon schlafen?

Mrs. Hamington bittet ihn Platz zu nehmen, doch David bleibt stehen, bis sie nach fünf Minuten zu ihm zurück kommt und sich ein Taschentuch unter die Augen hält. Eigentlich hätte sich spätestens jetzt sein Gewissen melden sollen, doch im Augenblick weiß David einfach keine Empathie zu zeigen.

Es ist etwas anderes fremden Menschen so eine Nachricht zu überbringen, wenn man weiß, dass man nicht ganz unschuldig an der Situation ist.

„Entschuldigen Sie, Detektive."
Warum entschuldigt sie sich? Ihre Gefühle sind wohl mehr als verständlich, wenn sie ihren Mann wirklich geliebt hat. Anscheinend hat sie das.

„Sie haben Fragen, richtig", stellt sie schluchzend fest.
„Ich kann auch ein anderes Mal wieder kommen."
Sie schüttelt stark den gelockten Kopf und presst kurz ihre schmalen Lippen aufeinander.
Dann steckt sie das Taschentuch in die Aussentasche ihrer blauen Jeans und sieht ihn leidend an.
Sie war es nicht. Er weiß es.
„Ich will wissen wer das getan hat und warum."

„Hatte Ihr Mann vielleicht Feinde?"
Normalerweise kam die übliche Frage nach ihrem Alibi, doch David ist sich ziemlich sicher, dass sie nichts mit dem Mord an ihrem Mann zu tun hat. Er folgt mehr seinen Instinkten als den Vorschriften. Er hat sich auch noch nie getäuscht.

„Nicht dass ich wüsste. Er war ehrlich und arbeitseifrig. Wenn er Probleme hatte, dann hat er es mir nicht gesagt."
„Hatten Sie denn eine offenen Beziehung? Konnten Sie mit George über alles reden?"
Sie nickt wie selbstverständlich.
„Wir sind seit zehn Jahren verheiratet und davor waren wir schon lange ein Paar. Wenn man so lange zusammen ist, kennt man seinen Partner."

David nickt nachdenklich. Dann holt er einen kleinen Stadtplan aus der Innentasche seines Mantels und entfaltet ihn.
„Zeigen Sie mir bitte wo er arbeitet."
Mrs. Hamington beugt sich etwas vor und betrachtet die entfaltete kleine Karte.
„Das war seine Firma. Er hat dort im Lager gearbeitet und letztens hat man ihn sogar befördert."

Darin sieht David schon wieder ein Motiv. Vielleicht hat jemand einen Groll gegen ihn gehegt. Nur hat das leider überhaupt nichts mit den anderen Opfern zu tun. Vielleicht wählt der Mörder doch willkürlich aus. Trotzdem sollte er der Firma mal einen Besuch abstatten.

Er stellt Mrs. Hemington noch ein paar weitere Fragen und lässt sie dann um halb Zwölf wieder alleine. Doch bleibt er nachdenklich. Es passt alles nicht ganz zusammen. Drei Opfer, alle an einsamen Orten gestorben. So weit er weiß hat keines der Opfer jemals einen Fuß an den Ort des Todes gesetzt, weil es viel zu weit von ihren eigentlichen Leben entfernt ist.

Mr. Hemington hat seine Frau kontaktiert, kurz bevor er von der Arbeit nach Hause gefahren ist. Er fährt jeden Tag mit der U-Bahn und steigt jedes Mal bei der selben Haltestelle aus. Doch warum ist er nach der halben Strecke ausgestiegen?
Was ist von der Heimfahrt bis zu seinem Tod passiert?

Genauso ist es mit dem Mädchen gewesen. Sie war erst sechzehn gewesen, ging noch zur Schule. Bei sich hatte sie lediglich ihre Schultasche und ihr Handy. Sie ist jeden Tag mit dem Bus nach Hause gefahren. Ohne Umsteigen und ohne Zwischenstopps. Sie ist nie ausgestiegen. Wenn sie sich mit Freunden getroffen hat, hat sie es ihrer Mutter immer gesagt. Doch an dem Tage ihres Todes war es nicht geplant gewesen länger weg zu bleiben.

Trotzdem hatte man ihre Leiche am ganz anderen Ende der Stadt gefunden. In einem schwach beleuchteten Park, wo abends nur wenige Leute unterwegs sind.

David glaubt, dass der Park nicht der Ort war, an dem der Mörder sie umgebracht hatte. Dort war kein Blut. Sie hatte so graziös wie eine Puppe im feuchten Gras gelegen. Ihre Kleidung war am Rücken durchnässt, aber der Rest war trocken. Wenn der Mörder sie dort getötet hätte, müsste sie eigentlich in einer Blutlache gelegen haben. Man hatte nur etwas Blut an ihrem Kragen gesehen und auf ihrer Bluse, dort wo das Messer in ihrem Herzen steckte.

Noch etwas fällt David auf. Bei allen dreien, hatte der Mörder genau ins Herz gezielt. Nicht einen Millimeter daneben. Also kennt er sich gut mit der Anatomie eines Menschen aus. Ist er vielleicht Arzt? Oder ist es mal gewesen?

Er schiebt so viele Fragen in seinem Kopf hin und her.
Als er laut die Luft ausatmet, steigt leichter Dunst auf. Ein Zeichen dafür, dass es sehr kalt ist. Ihm ist das gleich. Er spürt weder Kälte noch Wärme. Ihm ist nie kalt oder zu warm.

Daher merkt er auch nicht, dass seine Kleidung noch immer kalt und feucht vom Regen ist. Mittlerweile ist sie etwas angetrocknet. Vielleicht wird es doch mal Zeit sich etwas frisches anzuziehen.
Also macht er sich langsam auf den Heimweg.

Als er in der stillen und fast leeren Bahn sitzt, wandern seine Gedanken immer wieder zu dem Fall. Er denkt immer zu viel nach, findet niemals Ruhe und kann nicht abschalten.
Er bekommt Kopfschmerzen und reibt sich mit der kühlen Hand über die Stirn. Sein Kopf arbeitet so lange bis die Schmerzen unausstehlich werden. Es ist der einzige Schmerz, den er noch fühlen kann. So als ob er jene Nacht immer wieder durchleben müsste.

Am Bahnhof ist es ebenso leer und einsam, wie in seiner Seele. Es ist nicht so, dass er etwas vermissen würde. David hat bloß keine Interessen und Wünsche mehr. Er lebt nur noch für seine Arbeit und weiß selbst zuhause nichts mit sich anzufangen.

Also lässt er sich in seiner modernen Achzig-Quadratmeter-Wohnung auf dem schwarzen Ledersofa nieder und starrt den schwarzen Fernseher an. Er schaltet die Nachrichten ein und erinnert sich, dass er sich eigentlich umziehen wollte. Also geht er ins Schlafzimmer und holt sich bequemere Sachen aus dem Schrank.

Nachdem er sich erfrischt hat, geht er ins Wohnzimmer zurück. Er hört dem Reporter im Fernsehen gar nicht zu.
Sein knurrender Magen erinnert ihn daran etwas zu essen. Dabei hat er schon lange keinen Appetit mehr. So ist das immer, wenn er an einem Fall dran ist.

So endet er nach einer Weile doch wieder am Schreibtisch und beugt sich abermals über einen Stadtplan. Nur diesmal einen größeren.
Er arbeitet so lange, bis ihm mitten in der Nacht die Augen zufallen und sein Geist endlich durch Erschöpfung die benötigte Ruhe findet.

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