(28) Schatten der Vergangenheit
David wartet im Auto auf die Verstärkung und Gina telefoniert draußen mit Mason und gibt ihm einen längeren Bericht. Als die Kollegen endlich eintreffen und den Gefangenen in einem richtigen Polizeiwagen mitnehmen können, steigt Gina wieder auf der Fahrerseite in den Mercedes und seufzt angespannt.
„Gut dass sie ihn mitgenommen haben. Mir wäre unwohl dabei gewesen ihn so abzuführen. Ich habe zum Glück keine Bomben mehr bei ihm gefunden, aber man weiß ja nie. Solche kranken Menschen sind wie Mac Gyver. Sie bauen aus allem eine Bombe."
Sie seufzt erneut und sieht dann zu ihrem Partner herüber.
„Er hat Sie wirklich nicht verletzt?"
David schüttelt abermals den Kopf.
„Wissen Sie dass Sie unheimlich cool ausgesehen haben vorhin? Wie Superman. Er hat immer wieder zugeschlagen und Sie haben nicht einmal gezuckt. Also manchmal sind Sie echt unheimlich und beeindruckend zugleich."
Gina bemerkt seine angeschlagene Stimmung.
„Sie sehen nicht gerade so aus, als freuen Sie sich über die Festnahme."
„Nun ja...ich werde das Gefühl nicht los, dass er das wollte."
„Wie bitte?"
Gina dreht sich auf dem Sitz in seine Richtung.
„Es ging alles viel zu einfach. Er hat es so aussehen lassen, als wolle er mich in eine Falle locken. Vielleicht war dem auch so. Trotzdem denke ich, er hat auf uns gewartet. Er hat uns erkannt und ist gleich aus dem Fenster gesprungen."
Noch kann Gina ihm nicht folgen und legt die Stirn in Falten.
„Was meinen Sie, David. Sollte er uns in diese Halle locken?"
„Vielleicht. Auf jeden Fall hat er gewusst, dass wir kommen. Er hat zu viele Fehler gemacht. Er war alleine und hat sich überhaupt kein bisschen geschützt. Die Wohnung sah auch nicht gerade nach seinem Zuhause aus."
Bei genauerer Betrachtung gibt sie ihm recht. Die Wohnung ist ein einziges Chaos gewesen, so als würde sie gelegentlich von Bettlern benutzt, aber nicht von einem Bombenbauer. David meint das Video wäre eine Falle für ihn gewesen.
„Wir können uns die Wohnung ja nochmal ansehen."
„Das müssen wir. Ich will wissen wer er ist."
Gesagt, getan. Sie gehen zurück ins Haus und sehen sich genauer um. Auch dann bekommen die Ermittler eher den Eindruck ein Set zu untersuchen als eine Wohnung. Reisepass, Ausweis und Bankkarten liegen einfach so auf dem Tisch und warten nur auf sie. Es sind kaum Kleider im Schrank, als hätte der Verdächtige sich nur vorübergehend dort aufgehalten. Ganz zufällig liegt noch ein qualmender Zigarettenstummel im Ascher. Eine perfekte Gelegenheit für Fingerabdrücke.
„Was zur Hölle wird hier bitte gespielt?", fragt sich Gina als sie alles fotografiert und eingesammelt haben.
David sparrt sich die Antwort und sieht aus dem offenen Fenster. Gina schaut auf den halb blinden Spiegel in der Ecke, der nur lieblos an der Wand lehnt und bestätigt das Bild auf die Stadt. Nur dass dort nun Tag ist und David vor dem Fenster steht. Er hat sogar den Winkel eines schief stehenden Spiegels berechnet. Wie begabt ist der Mann eigentlich. Abermals schenkt sie ihm einen nachdenklichen und ehrfürchtigen Blick.
„Wissen Sie, David, eine Sache geistert mir die ganze Zeit im Kopf herum. Es graut mir richtig Sie darauf anzusprechen, aber ich glaube es könnte wichtig für den Fall sein."
Er dreht sich zu ihr um.
„Fragen Sie, Baley."
Nanu, so offen auf einmal?
„Unser Mörder scheint mit uns zu spielen. Er gibt uns kleine Hinweise, um uns das Gefühl zu geben an ihm dran zu bleiben. Gleichzeitig ist er uns zehn Schritte voraus. Er ist hinter Ihnen her, aber warum? Gleichzeitig spielt er mit uns und bringt es nicht zu Ende. Was will er von Ihnen? Ich denke es hat mit dem Tod Ihrer Eltern zu tun."
Auf einmal verändert sich der Ausdruck auf Davids Gesicht. Auch er hat schon darüber nachgedacht.
„Er fordert Sie heraus und lockt sie ausgerechnet zu dem Ort, an dem Ihre Familie umkam. Er erwähnt es sogar extra noch einmal in dem Brief. Also denke ich läuft alles auf dieses Ereignis hinaus. Geben Sie mir da recht?"
David sieht sie lange an. Er überlegt sich genau was er ihr jetzt sagen wird.
„Es hat mir besser gefallen, als sie noch nicht so viel nachgedacht haben, Gina."
„Warum? Weil Sie sich Sorgen machen?"
„Nein, weil es mir unangenehm ist. Ich rede nicht gerne über die Vergangenheit."
Wow! Das wahr ehrlich.
Er kommt zu ihr und bleibt dicht vor ihr stehen.
„Sie haben recht. Er will mich demütigen. Er will meinen Ruf in den Schmutz ziehen und auf meinen Gefühlen herum trampeln."
„Warum? Wer ist der Kerl?"
„Der gleiche Psychopath, der meine Eltern auf dem Gewissen hat."
Gina starrt ihn entsetzt an. Wie lange weiß er das schon?
„Sagen Sie es mir, David. Ich muss mehr darüber erfahren, um den Fall zu lösen."
David nimmt erneut Abstand und rauft sich die Haare.
„Ich kann nicht, Gina."
„Bitte!", fleht sie eindringlich.
„Ich will nicht darüber nachdenken."
„Sie müssen aber! Sie vertrauen mir doch, oder nicht?"
Sie hegt die Hoffnung irgendwann eine Antwort auf diese Frage zu bekommen, aber wieder bleibt er stumm.
Davids Gesicht ist auf einmal voller Schmerz. Er setzt sich aufs zerrissene Sofa und versteckt sein Gesicht. So eine verletzliche Seite hat Gina an ihm noch nie gesehen.
Sie wartet einen Moment und setzt sich dann neben ihn. Ohne darüber nachzudenken legt sie die Hand auf seinen Arm. Er sieht es mehr, als dass er es wahrnimmt.
„Ich weiß es ist schwer, aber wir müssen darüber sprechen. Nur so kann ich sie vollkommen verstehen und auch den Mörder. Ich will wissen warum er so handelt."
„Das weiß nicht einmal ich. Zumindest nicht alles."
„Das ist nicht wichtig. Wir werden alles heraus finden, aber nur wenn wir ehrlich miteinander sind."
Er hat keinen Grund ihr entgegen zu kommen und sich ihr zu öffnen. Auch wenn er beschlossen hat nun mit ihr zusammen zu arbeiten und doch weit mehr in dem Mann steckt als ein Eisklotz.
Wenn David über seine Vergangenheit mit ihr sprechen kann, bedeutet das einen großen Fortschritt in ihrer Partnerschaft. Doch warum sollte er sich ihr öffnen. Sie hat nicht seine tollen Fähigkeiten. Sie hat noch viel zu lernen und anscheinend vertraut er ihr immer noch nicht vollkommen.
Sie sitzen eine Weile in der kühlen Wohnung. Draußen schwindet das Tageslicht immer mehr.
Sie weiß nicht wie lange sie dort sitzen und sich einfach nur anschweigen.
Irgendwann findet David seine Sprache wieder.
„Wir saßen im Auto", beginnt er langsam. Gina lehnt sich zurück und schenkt ihm Freiraum.
„Ich weiß nicht wo wir gewesen sind. Wir waren gut drauf und fuhren nach Hause. Es war dunkel draußen. Ich saß auf der Rückbank."
Gina sieht wie schwer es ihm fällt sich zu öffnen und ihr von der Vergangenheit zu erzählen.
Sie hat nicht einmal erwartet, dass er ihr den Unfall im Detail erzählen würde. Deshalb wagt sie kaum zu atmen und lauscht aufmerksam seinen Worten.
„Es gibt am nördlichen Bahnhof eine Straße, kurz vor den Haltestellen. Sie überquert die Schienen und wird nur von Schranken unterbrochen. Dort hielt der Wagen. Ich hörte das Leuten der Schranken und sehe die Lichter blinken. Meine Eltern haben sich unterhalten. Ich weiß nicht mehr worüber. Meine Mutter hat immer gelächelt. Wir warteten einfach nur auf den Zug, als sich der Wagen plötzlich in Bewegung setzte. Meine Eltern waren schockiert, weil er sich beschleunigte und die Schranken durchbrach. Meine Mutter schrie panisch und mein Vater versuchte alles um den Wagen zu kontrollieren. Auf den Schienen blieb er plötzlich stehen. Jeden Moment kam der Zug."
Davids Blick sieht in die Ferne, als würde er einen Film beschreiben, den Gina nicht sehen kann. Alles scheint sich vor seinen Augen noch einmal abzuspielen.
„Der Wagen rührte sich nicht. Als mein Vater erkannte, dass er machtlos war und die Scheinwerfer der Zuges schon zu sehen waren, rüttelte er an der Tür. Wir wollten aussteigen. Die Türen waren verriegelt. Selbst mit dem Schlüssel konnten sie nicht mehr geöffnet werden. Es war gespenstisch. Der Zug hupte laut. Ich hörte meine Mutter immer lauter schreien. Auch mein Vater wandte sich panisch hin und her. Das letzte woran ich mich erinnere, sind ihre schockierten Gesichter, als etwas das Auto erfasste und wegschleuderte."
Bei der Erzählung wird Gina ganz anders zumute. Etwas sich vorzustellen ist eine Sache, aber David hat es live erlebt.
„Meine nächste Erinnerung beginnt im Krankenhaus. Umgeben von mehreren Ärzten, die mich besorgt anschauen. Sie wissen was mit mir nicht stimmt. Im nächsten Moment weiß ich es auch. Ich fühle nichts. Kein Schmerz, keine Kälte, gar nichts. Das ist für mich erschreckender als die Information, dass meine Eltern tot sind."
Gina fühlt sich zerrissen. Was für ein Grauen. Das reicht noch nicht aus, um den Fall zu verstehen. Sie braucht mehr, obwohl sie eigentlich nicht mehr zuhören will.
„Verwandte hatte ich nicht, also steckte man mich in ein Waisenhaus. Alle gratulierten mir und waren froh, dass ich überlebt hatte. Die Erwachsenen bedauerten meinen Verlust und zeigten Mitleid. Mir war das egal. Ich spürte nichts. Man könnte sagen ich stand unter Schock. Doch man sah das nicht. Ich wurde als Monster abgestempelt und die Hassreden begannen. Die Kinder hatten Angst vor mir und die Erwachsenen hielten mich für ein Monster. Als mir eines Tages jemand sagte, dass ich doch nicht hätte gerettet werden dürfen, sondern meine Eltern, war es mir zu fiel und ich verlor den Halt. Mit nicht mal sechzehn Jahren schlug ich auf einen Erwachsenen, der überhaupt keine Ahnung von mir und meinem Leben hatte."
Gina hielt sich die Hand vor den Mund. Das war grauenvoll.
„Ich wurde dafür in ein anderes Haus gesteckt. Niemand wollte mich lange bei sich haben. Einfach jeder hielt mich für sonderbar. Das war ich ja auch."
„Wer hat sie gerettet?", fragt Gina vorsichtig.
„Der Zug hat kurz nach dem Crash angehalten. Sie haben die Notbremse gezogen und die Leute sind ausgestiegen. Zuerst haben sie mich hinaus gezerrt. Ich weiß das gar nicht mehr. Man hat es mir nur so erzählt. Sie haben auch versucht meine Eltern aus dem Auto zu ziehen. Leider haben sie es nicht mehr geschafft, denn der Wagen fing Feuer. Später hieß es, dass mein Vater betrunken gewesen ist. Sie haben ihm die Schuld an dem Unglück gegeben und die Akten geschlossen."
„Das deckt sich aber nicht mit Ihrer Erinnerung."
David schüttelt den Kopf.
„Ich wollte allen die Wahrheit sagen, aber wer glaubt schon einem emotionslosen Kind mit einer Nervenstörung? Also habe ich beschlossen wichtig zu werden. Ich benahm mich in den Waisenhäusern, bis ich zu alt wurde und sie mich hinaus schmissen. Danach beendete ich die Schule, ging studieren und wurde Polizist. Ich wollte Anerkennung erlangen, damit man mir eines Tages glauben würde. Dann würde ich den Fall meiner Eltern erneut aufnehmen."
Er hat sein Ziel erreicht. Er ist ein anerkannter und berühmter Ermittler geworden. Doch eines haben die Leute nie kapiert: Er hat zwar eine körperliche Beeinträchtigung, aber er ist nicht emotionslos. Damals hat er unter Schock gestanden.
„Der einzige Mensch, der mir sofort geglaubt hat, ist Loreen gewesen. Ihr hat meine Krankheit nie etwa ausgemacht. Sie hat mich wie ein Mensch behandelt und nicht wie ein kaltes Monster."
Gina bedauert seinen Verlust. Er muss so viel durchgemacht haben. Wie kann man dabei nur so einen Verstand entwickeln? Er hat nie aufgegeben. Selbst nach dem Verlust seiner Partnerin nicht. Er ist immer stark geblieben und hat sich nichts nachsagen lassen. Gina kennt keinen stärkeren Menschen.
„Wir werden die Wahrheit aufdecken."
Er schaut sie plötzlich an. Der Schmerz aus seinen Augen verschwindet.
„Wir?"
„Ja richtig. Wir! Ich helfe Ihnen dabei den Mord an Ihren Eltern aufzudecken."
Auf einmal steht leichte Belustigung in seinen Augen.
„Ist das eine Drohung oder ein Versprechen?"
Gina lässt sich nicht provozieren.
„Beides."
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