(26) Links oder rechts?
Die Szene zeigt deutlich wie sich das Fenster im Hintergrund spiegelt. Die Silhouette der Stadt ist bei nächtlichem Hintergrund zu erkennen. Gina sieht überhaupt nichts darauf. Vielleicht erkennt sie ein oder zwei Gebäude, doch was David als Nächstes tut, ist wirklich außergewöhnlich.
„Das ist der östliche Bezirk. Das bedeutet er ist entweder im Zentrum oder mehr Richtung Westen. Der Fernsehturm ist im Hintergrund als zentraler Punkt zu nehmen. In der Mitte erkennt man den Bahnhof und rechts daneben stehen die Gebäude der Zentralbank und der Firma Echo."
Das sind zufällig die höchsten Gebäude der Stadt, die kann man nicht übersehen. Auch Gina hat die Gebäude erkannt. Doch das ist noch nicht alles.
Davids Kopf ist ein Wunder. Er kennt die Stadt fast wie seine Westentasche und kann sofort sagen, in welchem Stadtteil sich das Gebäude aus dem Video befindet.
„Bildet man sich ein Linie vom Fenster zum Tower, führt sie rechts an den Hochhäusern vorbei über den Bahnhof hinweg."
„Links", wirft Gina ein. „Vergessen Sie nicht es ist spiegelverkehrt."
„Plus die Linse der Kamera", korrigiert David sicher.
Gina bleibt still, denn er hat mal wieder recht. Er achtet auch auf alles. Selbst auf dieses kleine Detail, dass die Kameralinsen ebenfalls verkehrt herum sind.
„Also steht das Gebäude rechts von den Hochhäusern. Es gibt nicht viele Möglichkeiten, wenn man den Abstand zum Tower und den Winkel zu den Gebäuden berücksichtigt. Doch von hier kann ich das nicht genau bestimmen."
Er sieht Gina auf einmal entschlossen an.
„Kommen Sie!"
Sie hat keine Zeit zu antworten oder noch weitere Fragen zu stellen, da stürmt er schon zum Ausgang. Sie lässt ihre verdutzten Kollegen zurück und folgt ihrem Partner.
„Jackson, warten Sie."
Er steht schon am Aufzug.
„Vielleicht nehmen wir diesmal wieder das Auto?"
Sie hält ihm die Schlüssel des neuen Wagens entgegen.
„Natürlich. Ich hatte nicht vor zu laufen und mit der Bahn dauert es zu lange."
Auf dem Hof erwartet sie ein dunkelblauer Mercedes der C-Klasse aus dem Baujahr 2014. Gina staunt nicht schlecht. Zwar hat sie gewusst, dass sie ein neues Auto bekommt, aber diesen tollen Wagen hat sie nicht erwartet.
„Das ist wie Weihnachten", jubelt sie etwas zu enthusiastisch.
„Ihr Frauen seid doch alle gleich. Ihr könnt nur langweilige und sichere Autos fahren, dann seid ihr begeistert. Nur Charakter hat es nicht."
Sie fühlt sich aufgrund des Kommentars leicht angegriffen. Nachdem sie im Auto sitzen und Gina den Duft des neuwertigen Leders in sich aufgenommen hat, fragt sie:
„Also gut, Detektive, was würden Sie für ein Auto fahren?"
„Ich fahre nicht."
„Ich meine wenn Sie fahren würden. Ich weiß sie können es, also haben Sie einen Führerschein."
„Ich brauche einen Führerschein für den Job, aber mehr auch nicht."
„Kommen Sie schon. Wenn Sie solche Aussagen machen, dann können sie nicht erwarten, dass ich nicht darauf eingehe."
Er schenkt ihr einen seltsamen Blick von der Seite. Anstelle verletzt zu sein, grinst sie nur frech und startet den Motor.
Der Wagen schnurrt leise vor sich hin und rollt fast von selbst vom Parkplatz. Sie hat ziemlich viel Spaß dabei.
„Ich mag Autos nicht, Gina. Das sagte ich bereits. Also erübrigt sich Ihre Frage. Ich stellte nur fest, das die meisten weiblichen Ermittler eher auf Sicherheit und Komfort gepolt sind. Deshalb meine Aussage. Ich wollte Sie nicht persönlich angreifen."
„Selbst wenn, seit wann rechtfertigen Sie sich dafür?"
Eine interessante Frage. Er scheint an diesem Tag ziemlich umgänglich zu sein. Hat er beschlossen sanfter mit ihr umzugehen, nun da er weiß dass sie schwanger ist?
Seine Antwort bleibt aus, also beschließt Gina das Thema zu wechseln, während er ihr zwischendurch Anweisungen gibt wo sie hin fahren soll.
„Haben Sie schon herausgefunden, was der Psycho Ihnen mit dem Brief sagen will? Er erwähnt explizit den Tod Ihrer Eltern, also möchte er uns doch etwas damit sagen."
„Nein", antwortet er nur knapp und sieht aus dem Fenster.
„Was sagt die Forensik?"
„Keine Spuren."
„Also tappen wir damit noch im Dunkeln. Wir haben noch drei Tage, bis wir am Bahnhof sein müssen. Ich hoffe bis dahin mehr herauszufinden."
Plötzlich spürt sie seinen Blick auf sich und sieht flüchtig zu ihm herüber.
„Wir?", hakt er nach.
„Dachten Sie ich lasse Sie dort alleine hingehen?"
„Sie sollten nicht mitkommen, Gina."
„Wir sind immer noch ein Team. Also passen wir auf einander auf. Wenn Sie sich in meiner Wohnung einquartieren können, dann kann ich Sie auch begleiten. Er wird definitiv wieder versuchen Sie umzubringen."
Gina erschrickt leicht und muss das Lenkrad krampfhaft festhalten, als er einen Laut von sich gibt, den Gina noch nie zuvor von ihm gehört hat. David lacht so laut, dass es ihr eine Gänsehaut verpasst. Das ist kein ironisches oder kaltes Lachen. Nein er lacht ehrlich amüsiert.
„Sind Sie wirklich davon überzeugt mich beschützen zu können, Baley?"
Sie nickt, ist aber von ihm verunsichert. Wieso ist das so witzig?
„Hey, wenn ich am Hafen nicht gewesen wäre, dann wären Sie ertrunken. Ich bin nicht vollkommen nutzlos, Detektive."
Zumindest in dem Punkt widerspricht er ihr nicht.
Er sagt nichts weiter dazu und verbirgt seine restlichen Gedanken vor ihr. Gina hat das Gefühl von ihm wieder einmal nicht ernst genommen zu werden.
Trotzdem überrascht es sie wohin er sie führt. Sie fahren die umliegenden Bergstraßen hinauf zu einem Aussichtspunkt. Oben angekommen stellt Gina den Motor ab und David steigt aus. Er geht zum Zaun und sieht den Hügel hinunter auf die Stadt.
Gina ahnt was er macht. Er sucht aus der Entfernung nach dem Gebäude aus dem Video.
Für sie erscheint es fast unmöglich das herauszufinden.
Als sie langsam aussteigt und zu ihm hinüber geht, hört sie ihn leise etwas murmeln. Er rechnet laut vor sich hin und deutet dabei mit den Fingern auf die Stadt, als würde er verschiedene Gleichungen und Linien an eine Tafel malen. Fasziniert sieht sie ihm ein paar Minuten dabei zu und versucht seinen Gedanken zu folgen.
„Dreizehn Meter nördlich...sechs östlich...Abstand zehn...zwölf, achtzehn und dreißig Meter...gleicher Winkel...passt nicht..."
Irgendwann hört er auf zu murmeln und legt wie ein verwirrter Pudel den Kopf schief.
„Das Haus", sagt er überzeugt und deutet auf ein mehrstöckiges Gebäude am Fuße des Berges. Es liegt genau im richtigen Winkel zu den anderen Hochhäusern und dem Fernsehturm. Noch beeindruckter ist Gina, als er sagt, dass der Typ aus dem Video sich im fünften Stock befinden muss.
Ihr bleibt der Mund offen stehen. Er muss sich das Bild aus dem Video genauestens gemerkt und in seinem Kopf wie eine Schablone über seinen momentanen Ausblick gelegt haben, um alles ganz genau ausrechnen zu können. Das geht nur mit einem fotographischen Gedächtnis. Noch dazu ist zu beachten, dass es bloß ein schräger Winkel im Spiegel war in einem spiegelverkehrten Video.
„Das haben Sie mal eben im Kopf berechnet?"
Er nickt wie selbstverständlich und steigt wieder ins Auto.
Gina folgt ihm erneut und ist abermals schwer begeistert von seinem Verstand.
„Fahren Sie dorthin, ich rufe Verstärkung."
„Glauben Sie er ist noch dort?"
„Es ist ein normales Wohnhaus, also gehe ich davon aus", erklärt er und holt sein Handy aus der Tasche.
Eine Viertelstunde später halten sie erneut den Wagen an. Vor ihnen befindet sich ein sehr herunter gekommenes altes Wohnhaus mit etwa fünfzehn Stockwerken.
„Na dann hoffe ich mal, dass Sie sich nicht verrechnet haben", scherzt Gina und überprüft ihre Ausrüstung. Die Waffe ist geladen, die Taschenlampe auch. Sie Handschellen hat sie griffbereit.
„Wieso ist er so unvorsichtig sein eigenes Zuhause ins Internet zu stellen?", fragt sie als David noch das Haus anstarrt.
„Er rechnet nicht damit, das ihm jemand auf die Schliche kommt. Immerhin denkt er alles richtig gemacht zu haben."
„Ist er unser Mörder, Jackson?"
Er schüttelt nur unmerklich den Kopf.
„Dafür ist er nicht gewieft genug. Unser Mörder begeht keine Flüchtigkeitsfehler."
„Aber er hat Markus umgebracht, weil er ihm zu nahe gekommen ist", meint Gina mit einer Spur Wehmut in der Stimme.
„Ich denke wir sind auf der richtigen Spur. Er muss gewusst haben, dass wir dem Bombenbauer auf die Spur kommen würden und hat deshalb versucht seine Spuren zu beseitigen."
Wieder schüttelt David den Kopf.
„Er hat uns diese Spur mit Absicht hinterlassen."
„Wie kommen Sie darauf?"
„Jemand, der sonst keinerlei Spuren hinterlässt und absolut unsichtbar ist, macht nicht den Fehler unsere Aufmerksamkeit zu wecken. Wenn er Markus nicht beseitigt hätte, dann wären wir dieser Spur nicht so schnell gefolgt."
„Unsinn. Jeder hätte das heraus finden können. Auch Sie, Detektive. Vielleicht wussten Sie es schon vor Markus."
„Vielleicht", sagt er nur. Keine Chance mal etwas mehr von ihm zu bekommen.
„Wir hätten es heraus gefunden, so wie Markus", fährt er fort. „Vielleicht hat er den Mord auch nur dazu benutzt den Brief zu mir zu bringen. Vergessen Sie nicht, er ist ein Psychopath, Baley. Er will unter allen Umständen Aufmerksamkeit haben. Darum hat er sich uns auch am Hafen gezeigt und bei Ihnen in der Kanalisation. Er spielt nach wie vor mit uns."
„Heißt das er will uns bis Samstag nur beschäftigen?"
David zuckt mit den Schultern.
„Ich habe den Bahnhof überwachen lassen", gesteht sie am Rande.
„Das nützt nichts, Baley."
„Ich fühle mich sicherer dabei."
„Solch einen Feind kann man nicht auf die Art besiegen. Entweder man ist besser als er, das bedeutet ihm voraus zu handeln, oder man erwischt ihn auf frischer Tat. Was glauben Sie wohl wird in diesem Fall eher funktionieren?"
„Um ihn auf frischer Tat zu erwischen muss man ihm voraus handeln", stellt sie fest.
„Sie haben es kapiert. Wenn wir nicht dazu in der Lage sind, wird er uns beide töten."
Er sagt das so einfach, als wäre das ein Videospiel. Gina läuft es kalt den Rücken hinunter.
„Und mit diesen Gedanken fällt es Ihnen nicht schwer sich in die Falle zu begeben?"
„Das ist mein Job. Wenn es Ihnen etwas ausmacht, sollten Sie besser zurück bleiben."
Oh nein! Nun versteht sie, was er beabsichtigt.
„Wollen Sie mir Angst machen, Detektive, weil es Ihnen lieber wäre wenn ich zurück bleibe?"
Er sieht sie wieder an und schenkt ihr ein reumütiges schwaches Lächeln.
„Das funktioniert nicht mit mir."
„Ich sage nur die Wahrheit", rechtfertigt er sich.
„Trotzdem ist es doch so."
„Gina, auf diesem Weg kann man nicht nach links oder nach rechts schauen. Es gibt nur geradeaus oder zurück und man muss sich vollkommen sicher sein. Sie sollten auf jeden Fall berücksichtigen, dass Sie nicht mehr alleine sind."
„Tun Sie mir einen Gefallen, David, sprechen sie nicht darüber. Ich will darüber nicht nachdenken."
„Da sollten Sie aber!", schreit er plötzlich erzürnt und Gina zuckt zusammen.
„Seien Sie doch froh zwischen all dem Tod etwas Leben zu erschaffen. Egal ob Sie es wollen oder nicht, Sie werden Mutter. Sie haben die Chance ein gesundes und gutes Leben zu erschaffen. Warum...?"
Er spricht nicht weiter, sondern sieht nur wütend aus dem Fenster.
Gina versteht nicht warum er sich so aufregt...doch eigentlich weiß sie es.
„Sie hätten gerne eine Familie, nicht wahr?"
Er gibt nur ein ironisches Lachen von sich und verbirgt sein Gesicht unter der Hand. Sie hat definitiv ins Schwarze getroffen. Er glaubt wohl mit seiner Krankheit niemals in der Lage zu sein ein Familie zu haben.
Es muss furchtbar für ihn sein. Er hat nicht nur seine Familie auf tragische Weise verloren. Er wird auch sehr wahrscheinlich niemals eine eigene gründen können. Er wollte bloß das Kind in ihr beschützen, weil er sie darum beneidet. Sie war taktlos. Das versteht sie jetzt.
„Es...tut mir leid, David", entschuldigt sie sich leise.
Für einen Moment herrscht Stille im Wagen und Gina gibt ihm diesen langen Moment, um sich zu sammeln.
Dann steigt er plötzlich aus.
„Wollen Sie nicht auf die Verstärkung warten? Wir wissen nicht, was uns dort drin erwartet."
„Ich gehe jetzt rein. Möglich dass ich hier heute sterben werde, aber ich kann nicht länger herum sitzen."
Auch Gina steigt aus. Nach einem flehenden Blick von ihm und einem leichten Kopfschütteln von ihr, ist alles gesagt und sie gehen ins Gebäude.
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