(22) Die Ruhe vor dem Sturm
Es ist nicht so, dass Jackson nervös wäre. Er ist bloß ziemlich beunruhigt aufgrund Ginas wahnsinniger Ideen. Noch immer hat er Bauchschmerzen dabei und sie wachsen jeden Abend zwischen halb zehn und zehn ins Unermessliche.
Tagsüber lässt er Gina arbeiten. Es ist unwahrscheinlich, dass man sie im Büro angreifen wird. Nicht ausgeschlossen, nur sehr unwahrscheinlich. Sie musste ihm auch versprechen ihn zu informieren, sobald sie das Haus verlässt.
Doch für drei Tage begnügt sich seine Partnerin damit am Schreibtisch zu arbeiten. So viel Ruhe und Geduld hätte er ihr gar nicht zugetraut. Manchmal bemerkt er ihre argwöhnischen Blicke zu ihm herüber und fragt sich was in dem Moment in ihrem kleinen Kopf vor sich geht.
Sie scheint über irgendwas nachzudenken, traut sich aber nicht ihn darauf anzusprechen. Also wartet David, bis sie von alleine den Mut findet. Bis dahin tut es ihr ganz gut nichts aufregendes zu machen. Die letzten Tage waren der Horror für sie.
Als David ihr als einen Vorwand einen Kaffee auf den Tisch stellt, ist sie so sehr beschäftigt, dass sie sich darüber gar nicht wundert. Abermals sieht sie sich die Baupläne der Kanalisation an. Sie forscht in ihren Erinnerungen nach irgend einem Hinweis. Irgendwas sollte den Mörder doch verraten können. David hält das für Zeitverschwendung, lässt sie aber machen, weil es sie ablenkt und am Schreibtisch behält.
Brian reicht ihm einige Unterlagen über die bisherigen Mordwaffen und sieht bedauernd zu Gina hinüber, die überhaupt keine Notiz von ihren Kollegen nimmt.
„Wird sie in Ordnung sein?"
Jeder auf dem Revier macht sich sorgen. Auch der Chief. Am liebsten würde er Gina Baley suspendieren. Doch das bringt auch nichts, hatte David ihm versichert.
Sie ist schon zur Zielscheibe geworden. David hofft nur sie beschützen zu können. Er will nicht noch einmal so etwas wie bei Loreen erleben. Es würde ihm den Verstand rauben.
„Was machen Sie?", fragt sie plötzlich ohne ihn anzusehen.
„Wieso?", fragt er und richtet sich auf.
„Sie stehen schon seit einiger Zeit neben mir und starren mich an. Das ist irritierend, Jackson."
Also hat sie ihn doch wahrgenommen.
„Ich..."
Was sollte er ihr sagen? Dass er sich zu große Sorgen macht? Das klingt lächerlich.
Zum Glück kommt er um die Antwort herum, denn Markus kommt zu ihnen. David fühlt sich überflüssig und verschwindet im Konferenzraum.
Das Whiteboard wird immer voller und doch kommen sie in dem Fall nicht weiter. David weiß wer das nächste Opfer wird, er weiß auch wann und er ahnt das wo. Ihm ist nicht wohl dabei seine Kollegin als Lockvogel für den Mörder zu benutzen, auch wenn es ihre Idee war. Seine Hände fühlen die kleinen Fläschchen in seiner Manteltasche. Er hat sie jeden Tag dabei.
Das beunruhigende ist, dass jede Spur in einer Sackgasse zu enden scheint. Es dreht sich alles nur um ihn. Sein Leben ist der Mittelpunkt dieses Falls. Doch gehen dem Mörder die Ereignisse aus. Die Begegnung mit Gina ist das letzte wichtige Ereignis. Was wird er danach tun? Wird er neue Ereignisse erschaffen oder so lange warten bis etwas sich in Jacksons Leben verändert?
Letzteres ist eher ausgeschlossen.
Er schaut auf die Bilder der Opfer und rauft sich die Haare. Was würde er nur tun, wenn auf einmal Ginas Bild dort hängt?
Er darf sich das nicht vorstellen. Es dürfen keine Menschen mehr sterben.
Als sein Blick nach draußen abschweift, sieht er wie dunkel es auf einmal geworden ist.
Noch ist die Sonne nicht unter gegangen, also warum wird es so dunkel? Er geht näher ans Fenster heran und bleibt ganz nahe vor der kalten Scheibe stehen. Dann sieht er sie. Die glitzernden weißen Pünktchen in der Luft. Es schneit! Viel zu früh, findet er. Das Wetter ist seltsam und spiegelt seine Gefühle zu dem Fall wieder.
Als er den Raum verlässt und zu Gina hinüber sieht, ist Markus immer noch bei ihr. Er sieht aus wie ein getretener Hundewelpe. Als er Jackson sieht, macht er sich vom Acker.
Verwirrt schaut er ihm noch einen Moment nach und ist noch verwirrter, als Gina ihn bittet sie nach Hause zu begleiten.
„Es ist früh, Detektive", stellt er fest und versucht noch die Situation zu verstehen.
„Ich weiß, aber ich halte es hier gerade nicht aus. Ich habe das Gefühl jeden Moment den Verstand zu verlieren. Der Mistkerl wird mich so oder so angreifen. Darauf warten kann ich auch zu Hause. Die Arbeit hier bringt mich nicht weiter."
„Nicht?"
Sie schüttelt den Kopf.
„Sie wissen es doch bereits. Die Parallelen zwischen den Opfern wurden gefunden. Mich will er allein aus Rache. Ich bin nervös und kann mich eh nicht konzentrieren. Also können wir auch gehen."
Es ist schwierig zu wissen, dass man in Gefahr ist und nur darauf wartet, dass die eine Schachfigur seinen nächsten Zug macht.
Es fehlen noch zwei Buchstaben in Jacksons Namen. Gina wird Opfer Nummer sechs sein und dann fehlen noch zwei weitere. Doch gibt es keine wichtigen Ereignisse mehr in seinem Leben. Also kann er nicht einmal mehr voraus arbeiten. Allein diese Erkenntnis ist erschreckend.
„Was ist mit ihm?"
David deutet hinter sich in Markus Richtung. Er fühlt, dass etwas nicht normal ist.
„Ach gar nichts. Er macht sich bloß Sorgen."
„Sie sollten das klären. Was auch immer zwischen Ihnen steht."
„Da steht nichts zwischen uns", streitet sie ab.
David zuckt nur skeptisch mit der Augenbraue.
„Es ist nicht der richtige Zeitpunkt. Gehen wir."
Sie steht auf, packt ihre Sachen und will los.
Er nickt und begleitet sie nach Hause. Wobei sie diesmal die Bahn nach Hause nehmen. Noch so einen Unfall muss man ja nicht provozieren.
In ihrer Wohnung pflanzt sich David einfach auf ihre Couch und behält seine Kollegin im Auge. Sie ist angespannt. Wo ist der Mut von gestern hin? Will sie nun doch einen Rückzieher machen?
Sie wuselt eine Weile herum, putzt die Wohnung und räumt die Küche auf. Was gar nicht nötig ist. Es ist ruhig und genau das macht ihr zu schaffen. Sie will es hinter sich bringen. Dieses warten ist die Hölle.
David wird das Gefühl nicht los, dass sie was auf dem Herzen hat. Schon den ganzen Tag, aber sie spricht es nicht aus.
Als ihre Eltern auf dem Festnetz anrufen, redet Gina nur unmotiviert mit ihnen, bittet sie für eine Weile Urlaub zu machen und weg zu fahren. Sie beendet relativ schnell das Gespräch und bleibt ihm gegenüber auf dem kleinen Sofa sitzen. Nachdenklich starrt sie auf den Boden.
„Wenn das so weiter geht, werden Sie nachlässig, Baley. Reden sie darüber, egal mit wem, nur schweigen Sie nicht."
Sie blickt zu ihm auf. Ihr Blick zeigt, dass sie ihn fast komplett vergessen hat.
„Ich komme mir albern vor", sagt sie nach einer Weile.
„Warum?"
„Weil Sie auf mich aufpassen müssen wie auf ein kleines Kind. Dabei sind Sie selbst in Gefahr und müssen sich ihre kostbare Zeit hier bei mir um die Ohren schlagen."
„Ja wie schrecklich", entgegnet er nur schmunzelnd. Macht ihr das etwa zu schaffen?
„Es ist nicht so, dass ich auf sie aufpassen muss. Wir geben auf einander acht. So wie zuvor. Wir haben uns gegenseitig das Leben gerettet und bewiesen, dass wir ein gewisses Basisvertrauen haben."
Sie wird auf einmal hellhörig. Bedeutet es ihr so viel, wenn er von Vertrauen spricht?
~
Dieser intensive aber gleichzeitig amüsierte Blick von ihm ist gruselig. Er geht Gina richtig unter die Haut. Wieder hat sie das Gefühl von ihm gelesen zu werden. Also lässt sie unsicher den Blick sinken. Er bleibt an seinem Bauch hängen. Auch wenn man ihn nicht sieht, muss er noch immer den Verband am Bauch tragen.
Plötzlich erhebt er sich und legt den Mantel ab. Dann zieht er sich den Pulli aus und Gina staunt nicht schlecht. Was um alles in der Welt soll das werden?
„Holen Sie schon ihren Verbandskasten. Das wollten Sie doch, oder nicht?"
Gina fühlt sich ertappt, gehorcht aber. Seit wann ist Jackson so umgänglich?
Wenig später kniet sie vor der Couch - wo er sich lang gemacht hat - und schiebt sein Hemd bis zur Brust hoch.
Sie wechselt vorsichtig den Verband und schaut sich die gut heilende Wunde an seinem schlanken Oberkörper an. Sie reinigt sie Haut drum herum und klebt ein neues Pflaster darauf. Unsicher schaut sie immer wieder zu ihm hoch. Egal was sie macht, er liegt ganz entspannt da und scheint gar nichts zu merken. Manchmal ist seine Krankheit ein Segen.
Sie würde einfach nur jammern mit so einer Wunde. Er rennt fröhlich damit durch die Gegend.
„Merken Sie wirklich gar nichts?"
Er brummt nur verneinend und dreht den Kopf in ihre Richtung.
Trotz der Bestätigung fährt Gina unheimlich sachte mit den Fingerkuppen über seinen gleichmäßig bebenden Bauch. So als ob er alles dreimal so intensiv spüren würde.
Irgendwann wird es ihm unangenehm und er richtet sich auf.
Wieso hat sie das gemacht? Gina starrt auf ihre Hand, als hätte diese eigenmächtig gehandelt.
„Haben Sie Gemüse da?", fragt er plötzlich unerwartet und zieht sich das Hemd glatt.
Sie nickt verwirrt.
„Dann mache ich uns was zu essen. Danke für die Erste-Hilfe!"
Gina hat das Gefühl etwas Falsches getan zu haben. Dabei hat sie ihn nur verarztet.
Doch angesichts seiner guten Kochkünste ist alles sofort vergessen. Gina assistiert ihm und reicht ihm die Zutaten und Materialien. Später schlürft sie die fantastische Gemüsesuppe und macht ein Kompliment nach dem anderen für seine Talente. Es ist angenehm ihn mal normal zu sehen. Weder angespannt noch wütend. Es scheint so als würde er sich absichtlich Mühe geben wie ein normaler Mensch zu wirken.
Während sie ihm bei Essen zuschaut, überlegt sie wie lange er gebraucht haben muss, um seine Motorik anzupassen. Er kann überhaupt nicht einschätzen wie leicht oder stark er etwas anfassen muss. Trotzdem wirkt alles so einfach und absolut normal bei ihm. Gerade diese ruhige und kontrollierte Ausstrahlung von ihm, kommt positiv bei ihr an.
Zum ersten Mal fühlt sich Gina in Davids Nähe nicht unwohl.
Nach dem Essen verschwindet er im Badezimmer und macht sich frisch, während sie die Küche aufräumt. Sie ist so gut gelaunt, dass sie sogar anfängt zu summen. Solange bis es an der Tür klingelt.
Ein Blick auf die Uhr verrät wie spät es ist. Schon kurz nach Neun. Wie schnell ist denn die Zeit verflogen.
Unsicher geht sie zur Tür und schaut durch den Spion. Nichts zu sehen. Das ist noch seltsamer und Ginas Unruhe kommt zurück.
Plötzlich steht David hinter ihr. Er streckt die Hand aus und legt sie an die Klinke.
„Nicht aufmachen", sagt er leise. Seine Haare sind nass. Kleine Tropfen fallen auf seinem hellen Hemdkragen und formen an seinem Nacken einen dunklen Fleck. Auch sein Verhalten trägt nicht gerade zur Entspannung bei.
Ginas Blick wandert an seinem linken Arm hinunter und bemerkt zu ihrem Entsetzen die schwarze Pistole.
„Nur zur Sicherheit", erklärt er schnell.
„Sie machen mich nervös."
„Wenn's Ihr Leben rettet ist mir das egal."
Er wartet noch einen Augenblick ab und tritt dann von der Tür zurück. Jeder normale Mensch hätte noch einmal geklingelt. Ginas Gedanken gehen kreuz und quer. David setzt sich wieder auf das Sofa, wobei er die Waffe ganz in Reichweite auf den Couchtisch legt.
Derweil steht Gina immer noch im Flur. Es vergehen einige Minuten, da klingelt es noch einmal.
Als Jackson den Blick hebt sind seine Augen absolut kalt und wissend. Gina sieht ihn mit wachsender Unruhe an. Daher nimmt er sich erneut die Waffe und schlendert zur Tür zurück. Er schaut durch den Spion und sieht abermals nur leere.
Dann sieht er auf die Uhr. Bald halb zehn.
Er lässt die Tür abgeschlossen und geht durch die Wohnung. Er sieht sich um. Gina fragt gar nicht erst wonach er sucht. Stattdessen holt sie ihre eigene Waffe. Vielleicht sollte sie Unterstützung rufen, aber das würde ihren Plan zunichte machen. Sie wollte doch, dass er kommt. Nun ist er da. Ganz sicher ist das ihre Zielperson.
Nur wie will er sie hier in ihrer Wohnung umbringen? Jackson ist ja auch noch da.
Gina überlegt wie das Protokoll für solche Fälle lautet. Doch gibt es keines. Sie sitzen in der Falle. Rausgehen sollten sie nicht und drinnen bleiben scheint ihr genauso wenig gut zu sein.
Erneut ein Klingeln an der Tür.
Diesmal entsichert Jackson die Waffe und stapft geradewegs hinaus auf den Flur. Doch erwartet ihn dort nichts außer Dunkelheit. Die Bewegungsmelder sind aus. Niemand ist zu sehen.
„Er hat sich ins Sicherheitssystem gehackt", sagt Gina als sie auf die Anlage schaut. Nicht allzu verwunderlich nach den letzten Showeinlagen ihres gesuchten Mörders. Er ist ein Psychopath und liebt es Spielchen mit ihnen zu spielen. Doch was ist sein Ziel?
Als Jackson sich erneut zur Tür umdreht, bemerkt er etwas neben der Klingel. Er reißt einen kleinen Zettel von der Wand und geht wieder in die Wohnung.
„Tick-Tack. Die Zeit läuft euch davon! Bald wird es enden!", ließt er laut vor.
„Das ist von ihm. Er war dort vor der Tür."
Jackson nickt nur nachdenklich.
„Ich gebe Jodie Bescheid, sie soll das noch heute im Labor untersuchen."
Gina zückt schon das Telefon und will gerade anrufen, als dieses plötzlich ebenfalls klingelt. Ein kalter Schauer läuft ihr über den Rücken. Trotzdem nimmt sie das Gespräch an.
„Chief Mason hier", meldet sich ihr Boss am anderen Ende der Leitung. Fast hätte sie hörbar laut aufgeatmet. Erst jetzt merkt sie wie angespannt sie gewesen ist.
„Wir haben eine Leiche."
„Was?"
Nicht schon wieder, denkt sie sich.
„Wer? Wo?"
Mason druckst herum. Es fällt ihm schwer etwas zu sagen.
„Bitte, Chief, sagen Sie doch was!"
„Ihr Kollege Markus ist tot."
Gina lässt das Telefon fallen. David ist schnell genug es aufzufangen und das Gespräch weiter zu führen.
„Wann?", fragt er nur.
„Wir haben ihn vor einer halben Stunde im Büro gefunden. Das heißt er hat sich mit dem Bürostuhl aus dem Fenster gestürzt."
Gina bekommt alles mit. Was soll das für ein schlechter Scherz sein?
Mit zitternden Beinen lässt sie sich auf dem Sofa nieder.
„Er hatte ein Messer in der Brust. Anscheinend war das die Todesursache und das mit dem Stuhl war nur für die Aufmerksamkeit.
Es gibt keine Spuren, zumindest bis jetzt."
„Todeszeitpunkt?", fragt Jackson mit monotoner Stimme. Er wagt einen flüchtigen Blick zu Gina.
„Etwa zwanzig Uhr", erklärt der Chief aufgelöst."
„Das passt nicht", flüstert Jackson als Antwort. Er hatte angenommen, das Gina das nächste Opfer wird und das gegen halb zehn. Es ist halb zehn. Zumindest hat dann das Klingeln begonnen. Mittlerweile ist es fast viertel vor.
Doch Markus, der arme Markus. Er war Polizist. So jemand wird nicht einfach so umgebracht und noch dazu auf der Wache. Ginas Atmung beschleunigt sich und ihr kommen die Tränen hoch. Wenn der Mistkerl zu sowas fähig ist, dann wird sie in ihren eigenen vier Wänden auch nicht mehr länger sicher sein.
Selbst David sieht etwas ratlos aus. Diese Facette kennt sie noch gar nicht an ihm.
„Wir kommen sofort."
„Vielleicht besser nicht. Ich weiß wie nahe Gina ihm stand. Sie sollte nicht..."
„Ich werde mir das ansehen", sagt sie entschlossen und steht plötzlich neben Jackson.
Dieser mustert sie in einer Mischung aus Skepsis und Irritation.
„Ich muss es sehen, sonst glaube ich es nicht."
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