(21) Lockvogel

Natürlich hat Gina Verständnis für seine Lage. Sie ist der emotionalste und mitfühlendste Mensch, den David kennt. Doch sucht er nicht nach ihrem Mitgefühl und ihr Verständnis ist nur für den Augenblick. Sobald der Fall vorbei ist, wird sie sich wieder anderen Dingen widmen. Vorausgesetzt sie ist dann noch am Leben.

Jackson stützt sich im Badezimmer am Waschbecken ab und sieht auf sein Spiegelbild im Schrank darüber.
Er ist ein guter Mensch, sonst wäre er gar nicht hier. Allerdings zweifelt er daran immer das Richtige zu tun. Heute konnte er Gina retten, aber wegen seiner Unaufmerksamkeit ist Sandra doch noch gestorben. Obwohl sie in Schutzhaft gewesen ist. Also wieviel bringt es Gina zu beschützen, wenn sie beschließt wegzulaufen? Der Mistkerl braucht nur ein weiteres Foto von ihren Eltern zu senden und schon stürmt sie los.

Es müssen noch nicht einmal ihre Eltern sein. Es würde auch ein Bild von Markus reichen. Ihn scheint sie sehr zu mögen. Wenn der Mörder das ausnutzt, wird Gina den Verstand verlieren. David kennt das Gefühl. Er hat es schon einmal erlebt und er hasst es. Niemand soll solche Ängste erleben müssen.

Es wird abends geschehen. Irgendwann zwischen halb Zehn und Zehn Uhr abends. Vielleicht wird es regnen, vielleicht wird ein Fluss oder Ähnliches in der Nähe sein. Bisher war immer Wasser im Spiel. Ob Regen, ein Teich oder die Kanalisation. Es wird auch beim nächsten mal Wasser im Spiel sein.
Das macht es David einfacher auf Gina aufzupassen. So lange sie sich von Wasser fern hält, kann ihr nichts geschehen.
Er richtet sich auf und wirft einen Blick hinter sich.

Sofort hat er wieder Zweifel. Wenn es allein darum geht, würde Ginas Badewanne schon ausreichen. Er will sich nicht vorstellen, wie sie tot in einer überlaufenden Badewanne liegt. Kalt und blass, wie ein Gespenst. Er schüttelt den Gedanken ab und wäscht sich das Gesicht mit eiskaltem Wasser.

„Jackson?"
Gina klopft von außen an die Tür.
Er trocknet sein Gesicht mit irgendeinem Handtuch und öffnet die Tür.
„Ich weiß was zu tun ist", sagt sie auf einmal geschäftig. Sie sieht absolut ernst aus, also beschließt David ihren Gedanken eine Chance zu geben.

„Wenn der Mörder Sie als Vorwand und als Mittel nimmt, dann sollten wir uns das zu Nutze machen. Er kennt Ihren Lebenslauf besser als wir. Und wenn er ihn bis zur letzten Sekunde geplant hat, dann schreibt er ihn neu. So wie es ihm gefällt. Doch wenn wir plötzlich aufhören so zu handeln, wie er es vermutet, dann können wir ihn überraschen."
David hebt interessiert die Augenbraue und nimmt eine entspanntere Haltung ein.
„Vielleicht sollte ich den Lockvogel spielen."
Das ist auf keinen Fall eine gute Idee.

Dieses leichte Schmunzeln in ihrem Mundwinkel lässt auf mehr vermuten und bringt David dazu ihren Vorschlag nicht sofort abzulehnen. Er folgt ihr zurück ins Wohnzimmer und beide lassen sich auf der Couch nieder.

Gina fängt an ihre Ideen zu erzählen und David macht es sich irgendwie bequem. Es ist nicht so, dass er höhere Wohnstandarts hätte, es ist nur unbehaglich für ihn in einer fremden Wohnung zu sitzen, wo er sich doch mal eben selbst eingeladen hat.

Er hätte auch mit mehr Protest von seitens Gina gerechnet, aber so langsam stellt er Seiten an seiner Kollegin fest, die gar nicht langweilig und stumpf und gar oberflächlich sind, wie es anfangs den Anschein hatte.

So schlicht sie sich gibt, so bunt und voll gestopft ist ihre Wohnung. Sie ist ordentlich, aber an jeder Ecke steht eine Kleinigkeit, was zwar Leben in die Wohnung bringt, aber auch eine gewisse Unruhe. Sie passt zu seiner Kollegin.

Gina zeigt viel Ausdruck in ihrer Art, obwohl sie immer unscheinbar gekleidet ist. Nur ist sich David nicht sicher, ob sie privat auch so bider und schmucklos ist. Er sieht unauffällig auf ihren türkisblauen Hausanzug, die weißen Schlappen mit bunten Muster darauf und das gestreifte Shirt, welches unter der Jacke hervor lugt.
So hat David sie noch nie gesehen.

„Was ist, habe ich einen Fleck irgendwo?"
Er schüttelt leicht ertappt den Kopf und beendet seine Musterung.
„Sie können mir Ihre Gedanken ruhig mitteilen."
Das war definitiv eine Aufforderung.
„Ich versuchte gerade Sie zu verstehen."
Nun schaut sie irritiert und zuckt zurück.
„Ich dachte das tun Sie bereits."
Wieder ein sanftes Kopfschütteln von ihm.
„Sie sind in dieser gewohnten Umgebung vollkommen anders. Ich versuche das gerade mit ihrer ausdruckslosen Erscheinung im Dienst zu vergleichen."

Sie schaut verdutzt und lacht ironisch.
„Wenn man Sie nicht besser kennen würde, Detektive, könnte man Sie auch für einen Obdachlosen halten, so wie sie manchmal herumlaufen", kontert sie anstelle beleidigt zu sein.
Es bringt ihn sogar etwas zum Lachen. Darüber ist er selbst so verdutzt, dass er aufhört zu lachen und verwirrt die Stirn runzelt.

„Sie haben mir wohl nicht zugehört, oder?", fragt sie vorsichtig.
„Doch das habe ich. Allerdings hielt ich ihre Ausschmückungen für so unmöglich, dass ich ihnen nicht weiter Bedeutung schenken wollte. Mal im Ernst, Gina, das kann unmöglich funktionieren. Haben Sie mal darüber nachgedacht, was dabei alles schief gehen kann?"

„Und ob ich das habe. Es ist riskant und gefährlich, aber nicht mehr als von einem Serienmörder bedroht zu werden."
Das kann David nicht abstreiten. Er seufzt leise und denkt nach. Es fällt ihm schwer zuzugeben, dass ihre absolut verrückte Idee funktionieren könnte. Doch bevor er in ihren Plan einwilligt muss er mit Jodie sprechen.
„Mal etwas anderes, Baley", beginnt er und lehnt sich vor.
„Nehmen wir mal an das funktioniert und wir schaffen es tatsächlich ihn zu täuschen. Was bringt Sie bitte dazu mir so bedingungslos zu vertrauen?"

Eine ehrliche Frage und vor allem eine wichtige. Wenn der Plan von Gina funktionieren soll, dann müssen sich beide zu hundert Prozent vertrauen.
„Ich...", fängt sie schwach an und legt sich die richtigen Worte zurecht, „...ich weiß, dass ich Ihnen vertrauen kann."
„Woher?"
Sie sieht ihn lange an und hält seinem forschenden Blick stand.

„Sie haben bewiesen, dass sie nicht bloß arrogant sind, sondern absolut in diesem Beruf hinein geboren. Sie sind nicht allein intelligent, sondern auch verlässlich. Ich gebe zu, dass ich mittlerweile große Bewunderung für Sie empfinde und den Wunsch habe Ihnen nachzueifern. Auch wenn ich niemals mit ihrem Verstand mithalten kann, so will ich doch von Ihnen lernen, Jackson. Diese Gelegenheit bietet sich mir nicht wieder."

Er ist verblüfft, absolut verblüfft. Gina Baley bewundert ihn. Nicht nur das, sie will ihm nacheifern. David fühlt sich geschmeichelt, obwohl ihm das eigentlich egal sein kann.
„Also...was denken Sie...können Sie mir vertrauen?"
Sie wartet lange auf die Antwort. Ihre Augen stehen voller Hoffnung und eine unausgesprochene Bitte spricht daraus hervor. Nur kann David ihr zu diesem Zeitpunkt noch keine Antwort geben.

„Sie wollen wirklich Ihr Leben für mich riskieren, Gina?", stellt er ihr unerwartet eine Gegenfrage.
„Sie sind mein Partner. Natürlich würde ich das für meinen Partner tun und das habe ich bereits."
„Das war etwas anderes. Die Chancen zu überleben standen weitaus höher."
„David, ich würde das nicht vorschlagen, wenn ich nicht bereit dazu wäre."

Er rauft sich die Haare und schaut weg. Er hasst den Gedanken sie weiter in Gefahr zu bringen. Mal abgesehen von ihren Fähigkeiten als Ermittlerin, ist Gina ein echt gutherziger Mensch.
„Bringen wir diesen Mistkerl ins Gefängnis!", sagt sie entschlossen.
„Eines muss ich Ihnen lassen, Baley, sie haben Mut."
Sie grinst und weiß das seltene Kompliment zu schätzen.

Zum ersten Mal hat sie das Gefühl Verständnis von ihm zu bekommen. Nicht nur das, vielleicht können sie ja doch als Team zusammen arbeiten und großartiges vollbringen. Sie hofft es so sehr.

Für den Abend soll das nicht mehr ihre Sorge sein. Jackson richtet sich halbwegs gemütlich auf ihrer Couch ein und Gina zieht sich kurz darauf ins Schlafzimmer zurück. Nur kann sie schwer einschlafen mit dem Wissen, dass er direkt im Nebenraum ist.
Warum macht sie das so nervös? Markus schläft doch auch regelmäßig bei ihr? Sogar im selben Bett.

Der Wecker reißt sie sehr unsanft und viel zu früh aus ihrem unruhigen Schlaf. Trotz ihrer inneren Unruhe ist sie irgendwann eingeschlafen. Sie hat sich einfach sicher gefühlt. Ein Wunder nach allem was geschehen ist. Auf jeden Fall lässt Jackson sie nicht mehr einen Schritt alleine machen.
Darum folgt er ihr auch, als sie ihre verrückten Ideen Jodie vorträgt.

„Das funktioniert nicht!, sagt die Medizinerin bestimmt. Sie rauft sich die Haare und geht im Raum auf und ab. Es ist riskant sie einzuweihen, aber irgendjemandem müssen sie vertrauen.

„Sag mir einfach, ob es möglich ist", bittet Gina und redet weiter auf ihre Kollegin und Freundin ein.
„Ich mache das nicht. Dafür könnte ich gehörigen Ärger bekommen und ihr beide auch."
Sie deutet auf Jackson und Gina, die beide unsichere Blicke tauschen.

„Du spielst mit deinem Leben, Gina."
Jackson lacht halb enttäuscht und halb spöttisch.
„Ich sagte ja, sie wird sich freuen."
„Jodie, ich könnte auch jemand anders fragen und irgendwann jemand finden, der mir hilft. Allerdings vertraue ich dir und möchte, dass du mir hilfst. Du bist Medizinerin und..."
„...das gibt mir nicht das Recht dich umzubringen", unterbricht Jodie aufgebracht.

„Du bringst mich nicht um."
„Doch, wenn es schief geht schon. Die Erfolgschancen sind einfach zu gering."
Sieh sieht auf Jackson.
„Jetzt sagen Sie doch auch mal was. Sie können das unmöglich gut heißen."

Jackson holt tief Luft und tritt einen Schritt vor. Seine Schuhe machen laute Geräusche auf den weißen Fliesen. Um sie herum ist alles so hell und eintönig. Er fühlt sich nicht wohl an diesem Ort. Aber wie soll man sich auch in einer Leichenhalle wohl fühlen? Nur ist das der einzige Ort, an dem man solche ungestörten Gespräche führen kann. Solange die Toten nicht zuhören.

„Ich heiße es nicht gut. Ich halte diese Idee für ziemlichen Schwachsinn, um ehrlich zu sein. Wenn Sie sagen, dass es wahrscheinlich nicht funktioniert, dann lassen wir es."
„David!"
Gina ist empört.
„Ich will Sie beschützen, Baley, nicht der Grund für ihren Tod sein."
„Sie retten mir damit das Leben."
Er schnaubt verächtlich.
„Ganz Ehrlich Gina, du hast den Verstand verloren. Du hattest schon einige verrückte Ideen, aber diese sprengt den Rahmen."
Jodies Worte dringen nicht zu Gina durch, die fest entschlossen ist.

„Ich übernehme die Verantwortung, wenn etwas schief geht."
„Wenn etwas schief geht, sind Sie tot", sagt Jackson laut.
„Dann müsst ihr beide eben schnell sein, dann geht auch nichts schief."
„Gina, gibt es keinen anderen Weg? Glaubst du wirklich so den Mörder täuschen zu können?"

„Er wird so oder so versuchen mich umzubringen und nicht einmal Jackson kann seine Augen vierundzwanzig Stunden auf mir lassen. Das funktioniert nicht."
Gina wendet sich ihrem zweifelnden Partner ganz zu.
„Ich vertraue Ihnen gut genug, um Ihnen mein Leben anzuvertrauen. Also vertrauen Sie auch mir. Mehr will ich nicht."
Er sieht sie wieder skeptisch an und für eine lange Weile herrscht Schweigen zwischen den dreien.

„Ich...vertraue niemandem, Baley."
Ihre Enttäuschung ist groß, als er das sagt.
Dennoch sieht Jackson auf Jodie und hält die Hand auf.
„Geben Sie es mir. Ich werde nicht versprechen es anzuwenden, aber ich will es für den Notfall bei mir haben."
Jodie geht zu einem Schrank, an dem mehrere Schlösser hängen, schließt diese alle nacheinander auf und holt zwei winzige Phiolen hervor.
„Eines behalte ich", sagt sie und gibt Jackson das andere Fläschchen.
„Nur unter Bauchschmerzen. Ich will dafür nicht belangt werden."
„Ist klar. Wenn jemand fragt, habe ich die Schlüssel gestohlen."

Gina hat ein leicht schlechtes Gewissen die beiden für sie lügen zu lassen. Allerdings muss man manchmal die Regeln brechen, um andere Regelbrecher zur Strecke zu bringen.
„Und ich dachte Sie halten sich immer an die Regeln", sagt sie verblüfft über Jacksons Antwort.
„Manchmal erfordern die Umstände härtere Maßnahmen."
„Schön gesagt. Na los, gehen wir."

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