(20) Überraschungsgast

Zuhause nimmt Gina eine heisse Dusche und wickelt sich in einen kuscheligen Hausanzug ein. Eine Tasse frischer Pfefferminztee wartet dampfend im Wohnzimmer auf sie. Leider hat Gina im Wasser ihr Telefon und ihre Waffe verloren. Sie wird diese Sachen bald schon ersetzt bekommen, aber für den Abend fühlt sie sich etwas unsicher.

Natürlich hat sie von Markus Handy noch mit ihren Eltern telefoniert, um sich etwas zu beruhigen, aber Details hat sie natürlich weggelassen. Wenn sie ihrer Mutter ständig erzählen würde, was Gina alles durchmachen muss, wäre ihre Herzschwache Mutter schon längst vor Sorge gestorben.

Ihr Vater ist auch nicht besser. Obwohl er wenig redet und dadurch immer kühl und reserviert wirkt, ist er im Grunde bloß ein sehr weicher und liebenswürdiger Mann.
Dadurch lässt er sich oft genug von Ginas Mutter unterbuttern, die wohl eher die Hosen an hat in der Familie.

Ihre Tante sieht Gina äußerst selten. Sie telefoniert manchmal mit Ginas Eltern, interessiert sich aber eher wenig für die Ermittlerin. Gina stellt auch fest, dass sie gar nicht viele Freunde hat. Der Beruf lässt ihr nicht viel Möglichkeiten Bekanntschaften zu machen. Also sind wohl ihre Kollegen sowas wie Freunde.

Dann ist da noch Markus.
Wie besorgt er ausgesehen hat, als er sie aus dem Wasser gefischt hat. Er mag Gina wohl sehr. Sie fühlt sich geschmeichelt, aber mehr auch nicht.
Markus ist niemand, mit dem sie auf Dauer glücklich werden könnte. Er ist viel zu gesetzt und langweilig. Außer im Bett vielleicht, aber das alleine zählt nicht. Trotzdem ist sie verwundert. Er war derjenige, der von Anfang an nichts festes haben und absolut keine Gefühle mit ins Spiel bringen wollte.

Die junge Frau setzt sich auf die Couch und legt die kleinen Füße auf den niedrigen Kaffeetisch. Das tut gut. Tee schlürfen und herunter kommen. Wenn sie doch nur mehr vom Angreifer gesehen hätte. Das heute war bloß der Anfang. Er wird wieder versuchen sie umzubringen, ebenso wie Jackson.

Es klingelt an der Haustür und Gina hätte sich beinahe vor Schreck am heißen Tee verbrannt.

Sie schnellt hoch und läuft zur Tür, schaut aber vorsichtig durch den Türspion. Sie sieht ein bekanntes, blasses Gesicht und braune Locken.
Schnell schließt sie auf.
„Was tun Sie denn hier?"
David geht wortlos an ihr vorbei in die Wohnung und zieht einen kleinen Rollkoffer hinter sich her.
„Einziehen", antwortet er knapp, als er schon drin ist.
„Bitte was?"
Sie bleibt irritiert in der Tür stehen und dreht sich zu ihm um.
„Ich sagte doch, sie sollten nicht mehr alleine bleiben."

Das hat er zwar gesagt, aber Gina hätte nicht damit gerechnet, dass er gleich bei ihr einziehen möchte.
„Nur vorübergehend", sagt er beruhigend. „Glauben Sie mir, ich möchte auch lieber wo anders sein, aber ich will ein weiteres Opfer verhindern."
Er stellt den Koffer mitten im Wohnzimmer ab und erklärt die Couch als seinen neuen Schlafplatz.
„Ich werde mich so wenig wie möglich in Ihr Leben einmischen. Ignorieren Sie mich einfach, Baley."

Das wird wohl unmöglich. Jemand wie ihn, kann man gar nicht ignorieren. Dafür ist er eine zu interessante Persönlichkeit.
Doch Jackson meint das vollkommen ernst. Er packt einen kleinen Laptop aus und stellt ihn auf dem Couchtisch ab. Er hat kaum Jacke und Schuhe aus, da fängt er schon an zu arbeiten - an was auch immer.

Gina interessiert ihn nicht weiter. Eigentlich sollte es sie nicht wundern. Er ist immer schon so gewesen. Er tut was er will, ohne große Erklärungen abzugeben.

Gina kann entweder dort stehen bleiben und ihn weiter desorientiert anstarren, oder die Tür schließen und es einfach hin nehmen. Jedem anderen und vor allem in einer anderen Situation hätte sie was erzählt, aber ihr Kollege hat nicht ganz unrecht. Sie wäre heute beinahe ertrunken. Nur seiner schnellen Reaktion und seinem Verstand hat sie es zu verdanken noch am Leben zu sein.

Der Mörder hat sie nun beide in der Hand und er kann jeder Zeit sein Vorgehen ändern und zuschlagen. Darum wäre es besser nicht alleine zu sein.

Gina entscheidet sich dafür die Tür zu schließen und sich mit großem Abstand neben Jackson auf die Couch zu setzen. Sie beobachtet ihn eine Weile, während er auf die Tastatur seines Laptops eintippt und sie völlig auszublenden vermag.

„I-ich...", beginnt sie unsicher und wartet bis er den Kopf anhebt, „...bin froh, dass Sie mein Partner sind."
Das meint sie absolut ehrlich. Sie ist ihm unheimlich dankbar.
„Ich wünschte dass könnte ich Ihnen auch sagen, aber ich lüge nicht."
Oh man, der Typ kann auch nie etwas nettes sagen. Gina lässt die Schultern sinken, doch Jackson ist noch nicht fertig.

„Aber...ich kann mittlerweile sagen, was sie zu einer...", er macht eine kurze Pause und sucht nach den richtigen Worten, „...zu einer hilfreichen Kollegin macht."
Gina wird hellhörig.
„Ich kann zwar grundsätzlich keine Menschen ausstehen, die nicht so denken wie ich, aber Sie haben dafür etwas, das mir wiederum fehlt. Wenn ich meinen Kopf einschalte, dann denke ich absolut rational. Mir fällt es schwer mich auf andere Personen einzustellen und rein aus emotionalen Gründen zu handeln. So wie Sie das heute getan haben."

Heißt das etwa er findet ihre Spontanität und ihre Empathie gut?
„Im Grunde ist es doch das, was uns ergänzt. Ich muss einfach nicht so viel von Ihnen erwarten und hin und wieder Ihre Menschlichkeit beachten, dann können wir ganz anständig zusammen arbeiten."
Zack, da kommt der nächste Dämpfer. Er versucht etwas positives zu sagen, haut aber immer wieder eine Spitze raus.

Sie hat diese noch nicht ganz verdaut, als es erneut an der Tür klingelt. Jemand drückt mehrmals ziemlich ungeduldig auf den Knopf und hämmert gleichzeitig an die Tür.
Gina steht erneut auf und schlurft in ihren Pantoffeln zur Tür.

Sie ist reichlich überrascht diesmal ihre Eltern davor zu sehen.
„Hallo, Liebes, wir wollten uns persönlich davon überzeugen, dass es dir gut geht", sagt ihre kleine Mutter und geht schon ohne eine Einladung in die Wohnung. Ginas Vater folgt auf dem Fuße. Auch er sieht besorgt aus, überlässt das Reden aber wie immer seiner Frau.
„Warum gehst du nicht ans Telefon?"
Gina hatte keinen Anruf mehr erwartet, nachdem sie vorhin noch mit ihren Eltern telefoniert hat.

„Ich habe mein Handy verloren", gesteht Gina ehrlich. Genau wie den Wagen und ihre Waffe, aber für alles wird sie bald Ersatz bekommen.
„Du hättest mich zuhause anrufen können."
„Dein Anschluss ist gestört."
Nun wird sogar Jackson hellhörig und schaut von seinem Laptop auf. Diese winzige Reaktion erhascht Ginas Mutter aus dem Augenwinkel und starrt den Mann wie ein Alien an.

Gina beobachtet genau wie ihre dunklen mandelförmigen Augen noch schmaler werden und ihre Gesichtsfarbe in ein leichtes hellrosa übergeht.
Sie räuspert sich und wechselt unsichere Blicke mit Ginas Vater. Dann sieht sie wieder auf Gina.
„D-Du hast mir gar nichts von deinem Freund erzählt", sagt Ginas Mutter und wird immer bleicher.

„Oh nein, Mama, er ist nicht...wir sind nicht...wir sind bloß Kollegen. Wir arbeiten zusammen an einem Fall", erklärt Gina schnell um das absolut abwegige Missverständnis aus der Welt zu schaffen.

„Ah...ja", antwortet ihre Mutter langsam und starrt Jackson immer noch wie etwas Seltenes an.
Ginas Vater beugt sich zu seiner Frau herunter, weil er einige Zentimeter über sie hinaus ragt, und flüstert ihr für alle anderen hörbar ins Ohr: „Ich kenne den da."
So wie er das gesagt hat, klingt er wie Jar Jar Bings.

„Das ist doch der Schnüffler. Der, der immer im Fernsehen ist."
Gina würde jetzt gerne im Boden versinken.
Naja, zumindest lassen ihre Eltern dafür von ihr ab.
„Du hast recht", meint die kleine Frau mit dem Knoten in den schwarzen Haaren.

„Ich bin Ginas Mutter. Hoch erfreut Sie kennen zu lernen", schleimt Ginas Mutter sogleich und stürmt mit ausgestreckter Hand nach vorne. Jackson hat wohl keine andere Wahl als den Gruß zu erwidern.
Gina fürchtet ihr Vater würde im nächsten Augenblick das gleiche tun und so ist es auch. Nur kennt Gina ihren Vater. Er ist dafür bekannt jedem gleich die Hand zu zerquetschen, so feste drückt er zu.

Nur verzieht Jackson keine Miene. Er spürt ja sowas nicht. Sichtlich irritiert lässt Ginas Vater die Hand sinken, während ihre Mutter nach irgendetwas sucht, wo Jackson ihr ein Autogramm drauf schreiben könnte.
Nun hat Gina genug von den Peinlichkeiten und schiebt ihre Eltern zur Seite.

„Ich bin so froh, dass es euch gut geht. Ihr wisst ja nun, dass es mir auch gut geht, aber könnt ihr das wann anders nachholen? Ich verspreche euch ein Autogramm zu besorgen, aber bitte geht für heute. Es war ein langer und anstrengender Tag."

„Gina du kannst uns doch nicht solche Neuigkeiten vorenthalten", schimpft ihre Mutter wieder. Warum muss sie immer mit ihr schimpfen? Wenn sie nur wüsste, was Gina ihretwegen heute durchgemacht hat. Sagen kann sie es ihr nicht, sonst würde sie vermutlich in Ohnmacht fallen.
„Er wird nicht gleich morgen die Stadt verlassen."

„Er sollte deine Wohnung noch heute verlassen", meint ihr Vater nüchtern und wirft einen warnenden Blick auf den jungen Mann, der wie bestellt und nicht abgeholt in ihrem Wohnzimmer steht und unbeeindruckt auf die Szene starrt.

Gina schafft es ihre Eltern mit beruhigenden Worten aus der Wohnung zu drängen und seufzt erleichtert, als die Tür ins Schloss fällt und endlich wieder Ruhe einkehrt. Es ist kurz vor zehn Uhr abends. Wo ist nur die Zeit geblieben?
„Tut mir leid für das Chaos. Sie sind immer so aufdringlich."
Es kommt nur ein leises Brummen von Jackson, der sich langsam wieder auf dem dunklen Sofa nieder lässt.

„Sie meinten es doch nur gut", sagt er einen Moment später, als hätte sein Kopf ihre Worte erst nach einer Minute verarbeitet.
„Sie sind sehr fürsorglich, aber manchmal nervt es."
„Seien Sie froh noch mit ihnen streiten und diskutieren zu können. Hätte der Mörder sie heute wirklich bedroht, dann hätte es schlimmer ausgehen können."

Sofort schlägt die Stimmung um und es wird ernst. Gina empfindet Mitleid mit dem Mann, der so früh seine Familie verloren hat.
„Außerdem hätten Sie auch alles stehen und liegen gelassen, um sie zu beschützen. In der Hinsicht kommen Sie wohl genau nach ihnen", bemerkt Jackson und klappt seinen Laptop zusammen.

Sie spürt sein Unbehagen und ein leicht bedrückender Unterton schwingt mit seinen Worten mit.
Er steht auf und fragt nach dem Badezimmer.
Gina deutet auf eine Tür.
Als er an ihr vorbei geht findet sie den Mut ihm eine Frage zu stellen. Eine Frage, die sie schon eine Weile beschäftigt und deren Antwort eigentlich schon klar ist.
„Jackson..."
Er bleibt stehen und dreht sich zu ihr um.

„...sind Sie manchmal einsam?"
Er sieht so aus, als habe er diese Frage nicht erwartet.
„Nun, das ist wohl anzunehmen. Ich habe keine Familie, Freunde kann ich mir wegen meines Jobs und der ständigen Reisen kaum leisten und meine Behinderung macht es mir nicht gerade einfach Menschen an mich heran zu lassen. Also was glauben Sie wohl?"

Er wartet einen Moment und Gina lässt etwas beschämt den Kopf sinken.
„Ich stecke all meine Kraft in meinen Job. Ich lebe meinen Job. Aber ich bin kein Roboter, Baley. Ich habe Gefühle, auch wenn ich sie oft nicht zeige, also ja...manchmal bin ich wohl einsam. Allerdings kann man sich auch an eine gewisse Einsamkeit gewöhnen."

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