(19) Der wahre Held

Wenig später sitzt Gina am offenen Heck des immer noch blinkenden Krankenwagens, hat eine Wärmedecke umgelegt und sieht völlig erschöpft und niedergeschlagen auf die vielen herumlaufenden Leute. Sie macht sich heftige Vorwürfe wegen Sandra.
Zum Glück lässt man sie für den Augenblick in Ruhe, so dass sie ihren Schock verarbeiten kann. Erst als man die Leiche der jungen Frau geborgen hat, kommt Markus zu ihr.

„Hey! Wie geht's dir?"
Gina zuckt mit den Schultern und schaut auf den Leichensack, der auf einer Bare an ihr vorbei geschoben wird.
„Man hat sie genauso wie dich mit einer Drohung hier her gelockt. Es war definitiv eine Falle, aber sie hat ähnlich wie du gedacht und wollte bloß helfen. Sie war schon halb tot, als du eingetroffen bist."
„Er ist ein kranker Penner", schimpft Gina leise und wischt sich zum wiederholten Male ein paar Wassertropfen aus dem Gesicht. Erstaunlich, wie oft sie nass wird in letzter Zeit.

„Er hat auf mich gewartet. Ich sollte es sehen. Er wusste, dass ich vielleicht überleben würde und hat trotzdem versucht mich zu töten. Dabei war es ihm nur wichtig einen Zuschauer für seine Tat zu haben."
Markus nickt schwach. Er zeigt Verständnis und Sorge. Er selbst wirkt wie ein kleines Häufchen Elend. Auch seine Klamotten sind nass, doch es stört ihn nicht. Selbst wenn ihm kalt ist, zeigt er es nicht.

„Du hast alles versucht. Mach dir bitte keine Vorwürfe..."
„...mach ich aber", unterbricht sie ihn stürmisch und erhebt sich von der Stoßstange des Wagens. „Ich hätte es besser wissen müssen. Ich hätte Verstärkung rufen sollen."
„Er hat dir verboten es zu tun. Was wenn wirklich deine Eltern in Gefahr gewesen wären oder jemand anders? Du konntest das nicht riskieren."

Der maskierte Mann hatte ihr zuvor viele Nachrichten geschickt. Unter anderem ein Bild von ihren Eltern, wie sie zusammen in der Stadt einkaufen gehen. Das Foto wurde versteckt aus der Ferne gemacht. Vermutlich waren sie niemals wirklich in Gefahr, aber es hätte auch sein können, dass der Mörder sich an ihnen vergriffen hätte.

Mittlerweile hat Markus das klargestellt und dafür gesorgt, das eine mobile Polizeieinheit sich in der Nähe von Ginas Eltern aufhält. Sonst würde sie auch längst nicht mehr so ruhig hier sitzen.
Natürlich hatte sie irgendwie keine Wahl, als überstürzt zu handeln und das zu tun, was der Mörder ihr geraten hat. Allerdings ist es auch ganz schön dumm gewesen.

Nun ärgert sich Gina und fühlt sich dumm und unreif. Sie hat völlig emotional gehandelt, aber nicht wie eine kluge Polizistin. Vielleicht ist sie doch nicht für diesen Job geeignet.
„Ein Glück, dass du mich so schnell gefunden hast", meint Gina nach einer längeren Pause zu ihrem Kollegen.

Markus weicht ihrem Blick aus und macht ein unsicheres Gesicht.
„Was?"
„Eigentlich habe ich dich nicht gefunden, Gin", sagt er liebevoll ihren Spitznamen.
Sie runzelt die Stirn.
„Es war Jackson", erklärt Markus leicht unbehaglich. Er will das eigentlich nicht gerne zugeben.

Gina macht große Augen und folgt Markus Deutung in eine bestimmte Richtung. David Jackson lehnt gemütlich an einem Streifenwagen, hat die Arme vor der Brust überkreuzt und beobachtet die Leute. Er wirkt so fehl am Platz wie eine Tulpe im Schnee.

„Wäre er nicht verletzt, hätte er dich selbst aus dem Wasser gezogen, aber wir konnten ihn gerade noch davon abhalten."
Bevor Markus weiter sprechen kann, geht Gina zu Jackson hin. Langsam und ziemlich gebückt. Sie fühlt sich sehr klein neben ihm.

Er bemerkt sie recht schnell und lässt seine warmen und wie immer recht undurchdringlichen Augen auf ihr ruhen. Er weiß, warum sie zu ihm gekommen ist.

„Ich weiß, ich bin die schlechteste und dümmste Polizistin der Welt. Das war total unreif und ich darf mir später jeden Vorwurf dazu anhören. Sie werden mich vermutlich wieder ausschimpfen", sagt sie in einem unsicheren Redefluss. Das bringt sein Gesicht auch nicht dazu mehr Ausdruck zu zeigen.
Allerdings richtet er sich plötzlich gerade auf und lässt die Arme sinken. Gina rechnet damit, dass er sie anschnauzt und wütend wird.

„Ich habe absolut kein Recht Sie zu verurteilen, Detektive. Ja, das war dumm und ziemlich unreif. Sie könnten tot sein. Jedoch steht es mir nicht zu dies zu sagen."
Sie ist verblüfft und legt irritiert die Stirn in Falten.
„Ich bin nicht ohne Fehl und Tadel, Gina. Hätte ich Sie vorher nicht vom Fall abgezogen, hätten Sie mich vielleicht noch ins Vertrauen gezogen, aber so hatten Sie keine Wahl. Ich kann Ihren Mut nur bewundern. Nicht jeder Mensch hätte sein eigenes Leben für einen anderen riskiert, ohne auch nur mit der Wimper zu zucken."

Sie glaubt mit einem Zwilling zu sprechen. Das ist doch nicht der echte Jackson da vor ihr. Seit wann denkt er so positiv von ihr?
Obwohl ihr kalt ist, lässt sie die Decke fallen und starrt ihren Kollegen wortlos an.

„Ich nahm an Sie vom Fall auszuschließen würde Sie weniger in Gefahr bringen, doch ich habe mich geirrt. Sie sind nach wie vor ein Ziel für den Mörder und sollten daher nicht mehr alleine sein."
„Heißt das...heißt das ich bin wieder dabei?", fragt Gina vorsichtig.
Jackson nickt unscheinbar. Sie kann nicht sagen, ob ihm das missfällt, oder nicht.

Er will sich schon an ihr vorbei stehlen, als sie ihn am Arm festhält.
„Sagen Sie es mir, Detektive, wie haben Sie mich gefunden?"
Gina muss das unbedingt wissen. Ohne Stöhnen und ohne herablassenden Kommentar, aber mit einem unterschwelligen Schmunzeln beginnt Jackson ihr seine Gedanken zu offenbaren.

„Der Lebensgefährte von Sandra hat ganz aufgewühlt bei uns angerufen und erzählt, dass sie verschwunden sei. Alles deutete darauf hin, dass sie absichtlich den schützenden Polizisten weggelaufen ist, nachdem sie einen komischen Anruf von ihrem Handy bekommen hatte. Ich erinnerte mich an Ihren seltsamen Gesichtsausdruck, als auch Sie zuvor auf ihr ständig piepsendes Handy geschaut haben und wusste sofort, dass etwas nicht stimmt. Als ich Sie nicht erreicht habe, habe ich Ihr Handy geortet und den Ort festgehalten, an dem es zuletzt ein Signal abgegeben hat."

Er rattert alles einfach hinunter. Kurz aber ausführlich erklärt er sich mit einem halb genervten Unterton, als wären seine Worte absolut unnötig, weil sich jeder kluge Geist doch denken kann, wie er sie gefunden hat.

„Ich bin mit dem Auto zu diesem Standort gefahren und habe dort ihren leeren Wagen gefunden, was mir sagte, dass Sie zu Fuß weiter sind. Ich rechnete mir aus wie weit sie vom Zeitpunkt des letzten Handysignals bis hin zu meinem Eintreffen gelaufen sein könnten. Das war etwas mehr als dreißig Minuten. In einer halben Stunde kann ein normaler Mensch ein bis zwei Kilometer zurück legen. Doch sind sie sicherlich vorsichtig gelaufen und daher nicht so schnell, also eher ein bis eineinhalb Kilometer in Ihrem Fall."

Ginas Augen werden immer größer und ihr Respekt ebenfalls.
„Woher wussten Sie, dass ich in der Kanalisation war?"
„Es war offensichtlich, da ihr Handy kein Signal mehr von sich gab und ihr Auto vor einem Zugang zur U-Bahn stand. Von dort aus kenne ich den Eingang in den Untergrund."

„Ich hätte auch mit der Bahn fahren können."
Jackson schüttet mit dem Kopf.
„Es sollte so aussehen, weil der Mörder schon zuvor einige seiner Opfer mit der Bahn hat fahren lassen."
„Und woher wussten Sie es dann?"
„Ich kannte ihr Ziel", antwortet er sofort wie selbstverständlich.

„Es fuhr um die Zeit keine Bahn, das habe ich mit einem kurzen Blick auf den Fahrplan gesehen. Also war ich mir sicher, dass Sie zu Fuß unterwegs waren. In einem eineinhalb Kilometer- Radius befindet sich nur ein möglicher Ort an dem Sie sein konnten. Einen Ort den ich zu früh als Tatort ausgeschlossen habe, weil er eigentlich zu belebt ist. Allerdings habe ich nicht an den Untergrund gedacht."

Als Gina ihn noch verständnisloser ansieht, als zuvor, dreht er sie um und deutet vor sie auf ein hohes Gebäude.
„Wissen Sie was das für eine Kirche ist?"
Sie schüttelt unwissend den Kopf. Gina ist unfähig etwas zu sagen.

„Das ist die St. Mary's Church."
Wenn ihr nicht ohnehin schon kalt wäre, würde sie spätestens jetzt aufgrund ihres kalten Schauers auf dem Rücken erstarren vor Kälte.
„Es ist ein öffentlicher und belebter Ort. Selbst bei Nacht sind ihr immer Menschen und viel Verkehr. Wie soll man da einen Mord durchführen?", stellt Jackson eine rhetorische Frage.

Es klingt tatsächlich so, als hätte Jackson den gesamten Stadtplan in seinem Kopf und Gina ist vor lauter Bewunderung sprachlos. Das alles hat er mal eben so ausgeklügelt, während er nach ihr gesucht hat. Sobald ihm klar war, wo sie ungefähr sein könnte, hat er die restliche Strecke mit dem Auto zurück gelegt - Gina hat nicht einmal geahnt, dass er überhaupt fahren kann, weil er Autos nicht mag und sich immer fahren lässt.

Selbst den zweiten Eingang über einen etwas versteckt liegenden kleinen Bunker kennt Jackson. Von dort ist er mit Markus Hilfe zu ihr geklettert, den er schon von unterwegs angerufen und um Verstärkung gebeten hat. Markus ist direkt zur St. Mary's Church geeilt und konnte an Jacksons Stelle ins Wasser springen.
Er hat sie gerettet, doch Gina sieht in Jackson den wahren Helden. Er hat schnell reagiert und mal wieder seine Intelligenz bewiesen.

Allein diese Art zu denken zieht sie an. Dieser Mann ist unglaublich. Abermals korrigiert sie ihre Haltung über Jackson und starrt ihn respektvoll und eingeschüchtert an.
„Ich verdanke Ihnen mein Leben, David."
„Ich würde ja eher sagen, dass wir quitt sind, Gina", erwidert er schmunzelnd und zieht sich höflich zurück.

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