(17) Eine Leiche zu wenig

Zwei Wochen später...

Gina ist am Ende mit ihren Ideen. Sie hat Jacksons gesamtes Leben auf den Kopf gestellt. Von vorn bis hinten. Natürlich gibt es viele Menschen, die er eingesperrt hat oder die seinetwegen umgekommen sind. Er hat dabei niemals das Gesetz gebrochen und dennoch kommen viele Leute in Frage, die ihm etwas Böses wollen.

Er selbst ist der Meinung, dass der Mörder ein krankes Arschloch ist, das sich bloß beweisen will. Mag sein, aber trotzdem würde Gina gerne wissen wer es ist. Wer ist so knallhart es mit dem besten Detektiv Amerikas aufzunehmen? Und Jackson ist nicht allein in den USA bekannt. Auch in Europa hat er schon so einige Fälle gelöst.

Es ist merkwürdig wieder alleine zu arbeiten, wenn man sich vorher zu hundert Prozent auf seinen Partner verlassen konnte. Doch ist dieser noch krank geschrieben.
Also hat Gina den Pier am Hafen alleine untersucht und behält mit ihren Kollegen zusammen das St. Marys Denkmal im Auge. Doch bisher hat sich der Mörder nicht wieder aktiv gezeigt. In den letzen Wochen war er aber auch ungewöhnlich aktiv gewesen. Dafür ist er jetzt umso stiller. Nur ist das die bekannte Ruhe vor dem Sturm.

Irgendwann wird er wieder zuschlagen. Genau dann, wenn niemand damit rechnet. Nur stellt sich ihr die Frage, ob er noch sein fünftes Opfer braucht oder ob er gleich mit dem sechsten weiter macht.

Sandra ist mit ihrer Familie in Sicherheit gebracht worden. Es könnte also jemand anders das nächste Ziel werden. Bloß wer? Und wann wird der Mörder zuschlagen? Sie kann es auf den Wochentag und die Uhrzeit eingrenzen. Allerdings nur bis zu Jacksons letztem Ereignis, der Preisverleihung in Japan.

Er ist fest davon überzeugt, dass Gina zum sechsten Opfer wird und er glaubt, dass der Mörder den Ort von Ginas und Jacksons erster Begegnung auswählt: Der dritte Tatort, wo George Hamington gestorben ist. Oder er wählt einen völlig neuen Schauplatz mit dem Buchstaben „O". Vorausgesetzt er bleibt nicht bei dem „S" hängen.

Ganz gleich welchen Ort er wählt, wie sollte der Mörder sie dort hin bekommen? Gina ist vorsichtig, sagt immer wo sie hin geht und ist so gut wie nie alleine.

Sie sitzt wie üblich vor ihrem PC und trägt die meisten Erkenntnisse in einem kurzen Bericht zusammen. Der Chief möchte über jedes Detail informiert werden. Deshalb hat er auch später eine kurze Besprechung einberufen. Leider muss sie dann auch erzählen, dass sie womöglich zum Ziel für den Täter werden könnte. Bisher weiß nur Markus etwas davon, der sie auch kaum noch aus den Augen lässt. Es ist schon ein bisschen lästig, was er anstellt, um auf sie aufzupassen. Zum Glück waren die letzten Wochen etwas ruhiger.

Gina hatte Hover erneut vorgeladen, um etwas über seine Verbindung zum Mörder herauszufinden. Doch aus ihm wurde sie auch nicht schlauer. Er wusste nicht warum er hinter Jackson her war. Er wollte bloß seine Kunden beschützen, falls er wieder aus dem Knast entlassen werden würde. Er hat zwar Strafmilderung erhalten, aber er muss dennoch eine Strafe für den Drogenhandel absitzen. Vor allem für den Handel mit Minderjährigen muss er büßen.

Wahrscheinlich waren die Drogen der Grund dafür, dass die sechzehnjährige Schülerin ausgerastet ist und auf ihre Kameradin eingeschlagen hat. Vielleicht war es auch der Grund für den Sportler mit Betrug anzufangen. Wer weiß?
Jackson hätte bestimmt auf alles eine Antwort. Nur bleibt zweifelhaft, ob er es ihr auch sagen würde.

Gina schaut verwundert auf, als genau dieser grade schwungvoll wie eh und je den Flur entlang kommt. Von Verletzungen an Arm und Bein ist nichts zu sehen, geschweige denn eine Stichwunde zu erahnen.
Sofort ist sie auf den Beinen und geht ihm entgegen.

„Was wollen Sie denn hier?", fragt sie vorwurfsvoll.
„Arbeiten", antwortet er nur knapp und geht an ihr vorbei durch den Flur. Sein Mantel schwingt lässig hinter ihm her.
„Sie sind krank geschrieben."
„Ach ja? Ich fühle mich nicht krank."
Gina rollt mit den Augen und folgt ihm.
„Im Ernst, Jackson, ruhen Sie sich aus."
„Ich habe mich zwei Wochen ausgeruht. Ich kann jetzt nicht mehr", sagt er energisch und dreht sich zu ihr um.

Gina versteht nicht wie man so achtlos mit seiner Gesundheit umgehen kann. Nur weil er keine Schmerzen fühlt, heißt das nicht er ist gesund.
„Sie verstehen wohl den Ernst der Lage nicht, Detektive Baley. Sie sind in Gefahr."
„Und Sie wollen mich beschützen?", hakt sie skeptisch nach.
Er schaut, als ob das selbstverständlich wäre.
Für einen kurzen Augenblick weiß Gina nicht, wie sie darauf reagieren soll. Bisher hat er sich abweisend und kühl gezeigt.

Chief Mason unterbricht den Wortwechsel zwischen den beiden, indem er sie mit ernstem Unterton zu sich in den Konferenzraum zitiert. Dort haben sich alle anderen, die für den Fall verantwortlich sind, schon eingefunden.

Er stellt sich mit dem Rücken vor das White Board und starrt angespannt in die Gesichter seiner Kollegen. Jackson bleibt wie immer am Rande und verschränkt lässig die Arme vor der Brust. Er ist blass und ganz sicher noch nicht vollständig arbeitsfähig.
Trotzdem hat er sich die Haare gekämmt und rasiert. Nun sieht er nicht mehr ganz so verwegen aus.

Gina zweifelt jedoch an seiner Arbeitsfähigkeit. Noch dazu sollte er sich um seine eigene Sicherheit Gedanken machen. Der Psychopath ist auch hinter ihm her. Darum bittet sie Mason ihn nach Hause zu schicken.

Sie sieht irritiert zu ihrem Chef, der sich die Hand in die Seite stemmt und ihrem Blick ausweicht.
„Ich habe bereits mit ihrem Partner darüber gesprochen und Jackson hat mir versichert sich zu schonen und zurück zu halten, wenn ihm seine Verletzung Probleme bereitet."
„Und das kaufen Sie ihm ab?"
„Gina!", sagt Jackson warnend ihren Namen und schenkt ihr einen einschüchternden Blick.
„Ich will mit Markus zusammen arbeiten. Er ist topfit und hat keinen Hang zur Selbstüberschätzung."

„Er wird wo anders gebraucht", erklärt Mason so ruhig wie möglich. Gina glaubt nicht, dass er die Situation vollkommen versteht. Umso enttäuschter ist sie von den anderen, dass sie keine Einwände zeigen.
Offensichtlich wagt es niemand in diesem Büro etwas gegen Jackson zu sagen. Nur weil er so viele Erfolge auf dem Konto hat. Doch hier geht es um sein Leben.
„Es geht hier auch um Ihres, Baley", wirft er nüchtern ein. „Warum sollten Sie sich nicht zurückhalten, wenn doch der Mörder auch hinter Ihnen her ist?"

Leises Getuschel verbreitet sich unter den Kollegen und Markus wirft ihr einen solch besorgten Gesichtsausdruck entgegen, dass Gina schlucken muss und zu Boden sieht. Er hat auf jeden Fall recht.
Mason richtet sich auf und schaut die beiden jetzt sehr ernst und autoritär an. Augenblicklich halten sie den Mund. Unbehagen kriecht in Gina hoch. Sie ahnt schon was als Nächstes kommt.

„Ich hätte gute Lust Sie beide von dem Fall abzuziehen. Die Gründe dafür muss ich nicht groß erklären."
Eine Sekunde später tut er es aber doch.
„Sie haben von Anfang an nicht gut zusammen gearbeitet. Anstelle sich zu unterstützen stehen Sie einander im Weg. Das ist keine gute Teamarbeit. Jetzt werden Sie beide auch noch zur Zielscheibe...das kann so nicht weitergehen."

Gina presst ihre schmalen Lippen aufeinander und hofft innerlich, dass ihr Chef nicht das ausspricht, was sie befürchtet.
Dieser macht eine kurze Pause, um intensiv Luft zu holen und redet dann ruhiger weiter.
„Ich kann nur leider nichts tun, weil Sie beide meine besten Mitarbeiter sind. Auch wenn Detektive Baley noch nicht so lange im Dienst ist, wie Jackson, hat sie durchaus viel gelernt. Im Augenblick steht ihr euch nur selber im Weg. Seht ihr denn nicht wie gut ihr sein könntet?"

Er sieht auf Jackson.
„Sie haben unglaubliches Denkvermögen und Erfahrung."
Dann dreht er sich zu Gina, die immer noch am weitesten von Mason entfernt steht.
„Und Sie sind unglaublich begabt in ihrer traditionellen Kampfkunst und Sie können sich unglaublich gut in Menschen hinein versetzen, was anderen Kollegen fehlt."

Mason macht eine weitere Pause, in der niemand wagt etwas zu sagen.
„Ich will Fakten, Leute. Niemand soll mehr sterben. Haltet diesen Mistkerl auf. Und zwar alle hier versammelten Ermittler. Muss ich denn erst eine Ansprache halten, damit ihr zusammen arbeitet?"

Gina fühlt sich klein. Was sie bisher getan haben, war einfach nur herumeiern. Jackson zeigt wenigstens den nötigen Kampfgeist, trotz seiner Verletzung. Sie sollte ihn dafür nicht auch noch verurteilen. Der Mann wird sich wohl gut genug einschätzen können. Warum kümmert es sie überhaupt, wie es ihm geht? Hauptsache er hält sich nicht länger für den Überflieger. Auch er ist nicht unverwundbar.

Die Stimmung ist weiterhin angespannt, aber Chief Mason erspart ihnen weitere Worte. Stattdessen widmet man sich wieder dem Fall. Gina hört Markus zu, als er noch einmal die in Frage kommenden Tatorte beschreibt und seine Überzeugung kund tut, dass Opfer Nummer fünf noch nicht abgehakt ist.

Auch wenn Sandra in Schutzhaft ist, hält das den Freak nicht davon ab sich ein anderes Opfer zu suchen. Die Tatorte haben sich jedoch nicht geändert. Es kommen weiterhin nur der Hafen und das St. Mary's Denkmal in Frage.
Beide Orte werden von zwei mobilen Teams rund um die Uhr überwacht. Also wird der Mörder es schwerer haben. Oder doch nicht?

Gina wagt einen Blick auf Jackson, der seltsam zerknirscht drein schaut. Das liegt aber nicht an der vorherigen Ansage von Mason. Es ist etwas anderes und Gina wird neugierig. Wenn er so schaut, dann hat er in seinem außergewöhnlichem Hirn wieder einen Denkprozess in Gang gesetzt. Irgendwas stimmt nicht.

„Haben Sie noch etwas hinzuzufügen, Detektive Jackson?", fragt Mason den stillen Mann am Rande, der abwesend auf die große Stadtkarte starrt.
„Jackson?"
„Bitte...", beginnt Ginas Partner immer noch halb bei seinen Gedanken, „...ziehen Sie Detektive Baley von dem Fall ab."

Alle, einschließlich Mason, waren wegen dieser Bitte sprachlos.
Masons Ansprache hat bei ihm gar nichts gebracht. Nach wie vor ist er nicht kooperativ und von Teamgeist ist gar nicht zu sprechen.

„Ich sage Ihnen auch warum."
Er bewegt sich das erste mal von der Wand fort und läuft ein paar Schritte vor den anderen auf und ab.
„Es hat nichts mit der Tatsache zu tun, dass wir offensichtlich inkompatibel sind oder sie immer einen Schritt hinter mir ist..."
Gina ist schon nach diesen ersten paar Worten sauer.
„...Wir haben eine Leiche zu wenig. Das ist ihr zu verdanken. Deshalb wird der Mörder sich an ihr rächen wollen. Von daher ist es sicherer für sie den Fall nicht länger zu bearbeiten."

„Moment mal, ja...", wirft sie dazwischen, „...wer rettet Ihnen den Arsch in Zukunft? Sie sind  genauso bedroht, Jackson. Wollen Sie den Fall auch abgeben?"
Ganz langsam schüttelt er den Kopf.
„Ich bin wohl der einzige, der ihn lösen kann."
Diese Selbstsicherheit und Arroganz ist ihr echt zu viel. Er mag intelligent sein. Er mag vorausschauend handeln und er mag hart ihm Nehmen sein, doch langsam platzt ihr der Kragen.

„Sie sind zu emotional, zu weich, Gina Baley", erklärt er ganz ruhig weiter, obwohl sie bereits mit den Zähnen knirscht. „Dieser Fall wird sie brechen."
„Woher wollen Sie das wissen?"
„Weil das erst der Anfang war. Es bleiben noch drei Opfer aus und eines davon werde höchst wahrscheinlich ich sein. Zumindest in den Augen des Täters. Ich werde nicht zulassen, dass Sie zu einem von diesen dreien gehören werden."

Gina glaubt langsam den Grund für sein Verhalten zu erahnen. Sie hat Verständnis für ihn. Trotzdem kann er das nicht alleine schaffen.
Plötzlich wendet sich Jackson an den Chief.
„Mason, ich werde nicht länger mit Detektive Baley zusammen arbeiten. Geben Sie ihr nicht die Schuld, es liegt an mir."
„Ist das Ihr letztes Wort, Jackson?", fragt Mason mit wenig Hoffnung noch einmal nach.

Was soll das? Machen jetzt plötzlich alle was David Jackson sagt? Fragt sich Gina empört.

„Es reicht, wenn sich einer von uns in Gefahr begibt und Gina Baley ist eine gute Polizistin sowie ein besonders guter Mensch. Sie hat es nicht verdient in meine Probleme verstrickt zu werden."

Er hat es besonders positiv herüber gebracht, sodass man ihm eigentlich gar nicht mehr böse sein könnte. Alle sind ganz angetan von seiner Rücksichtnahme und dieser hinterlistigen freundlichen Fassade. Nur Gina zieht eine Flunsch. Niemand kann es ihr verübeln. Indirekt möchte er doch nur sagen, wie inkompetent sie ist und sich nicht ausreichend genug selbst schützen kann. Er will nicht länger den Babysitter für sie spielen.

Mason willigt überhaupt nicht begeistert ein und entlässt die Kollegen aus dem Raum.
Er selbst geht in sein Büro zurück. Nur Markus bleibt noch bei Gina, die absolut vor den Kopf gestoßen wurde. Sie hätte sowas von Jackson nicht erwartet und noch weniger, dass Mason zustimmt. Sie ist den Fall los geworden. Sie ist sogar von ihm beurlaubt worden, um auf keinen Fall in die Schusslinie zu geraten. Mit gemischten Gefühlen starrt sie vor sich ins Leere und sieht Markus erst an, als er ihr seine große Hand auf den Rücken legt.

„Tut mir leid, Gina, aber ich bin froh, dass Mason dich abgezogen hat. Ich will nicht, dass du übermütig wirst oder verletzt wirst. Bei dem Unfall habe ich mir schon Sorgen gemacht, aber nach der Bombe am Hafen wurde ich krank vor Sorge."

Er meint es sicherlich nur gut, aber das ist das letzte, was Gina im Moment hören möchte. Sie hat so eine Wut auf Jackson, dass sie jegliches Verständnis und Mitgefühl für ihn vergisst.
„Hör mal, ich kann ihn auch nicht besonders leiden, aber ihm Augenblick bin ich ihm sehr dankbar."

Gina weiß wie Markus das meint. Es ist ihr sehr wohl bewusst. Trotzdem ist es neu für sie, dass er so offen im Büro darüber spricht. Bisher haben sie ihrer kleine Affäre nicht viel Bedeutung gegeben, aber auf einmal zeigt Markus eine gewisse Ernsthaftigkeit, die Gina ein unterbewusstes Gefühl von Panik verschafft.

Erst recht, als er ihr im nächsten Moment die Hände an die Wangen legt, ihr Gesicht anhebt und sie sanft auf die Lippen küsst. So viel Gefühl hat sie - abgesehen von ihren heimlichen Treffen - noch nie von ihm bekommen und Gina ist sich nicht sicher, wie sie darauf reagieren soll.

Statt sich zu wehren oder sich wenigstens zurück zu ziehen, erwidert sie den Kuss. Es ist immer schon leicht gewesen sich in Markus Nähe fallen zu lassen und alles andere auszublenden. Doch ist das real? Was ist schon real? Vielleicht das überdeutliche Räuspern, welches ihre Aufmerksamkeit fordert und sie beide gleichzeitig zur Tür umdrehen lässt. Auch wenn sie nichts falsch gemacht haben, fühlt Gina sich augenblicklich ertappt.

Jackson streckt den Kopf zur halb geöffneten Tür herein. Gina erwartet einen vielsagenden Blick oder irgend eine andere Emotion auf seinem glatten aber blassen Gesicht. Der Mann ist absolut beherrscht, klemmt sich jeglichen Kommentar oder Reaktion und deutet hinter sich in den Raum mit den vielen Schreibtischen.
„Ihr Handy gibt ununterbrochen laut von sich, Baley, vielleicht sollten Sie sich darum kümmern, bevor ich es aus lauter Frust aus dem Fenster werfe."

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