(16) Die Zeit
Als sich die Tür nach dem leisen Klopfen öffnet, blickt David nur flüchtig hoch. Nur eine Person kommt ihn besuchen und das schon so früh am Tage. Er hat kaum geschlafen, weil er nach der OP so viel geschlafen hat. Danach hatte sein Kopf wieder unaufhörlich gearbeitet.
Nun, wo er müde genug ist und auf den erholsamen Schlaf wartet, sieht seine Partnerin nach ihm. Dabei ist sie erst spät in der Nacht gegangen. Was will sie denn so früh schon hier, kaum dass die Besuchszeit begonnen hat?
David ist zugegeben auch ein bisschen froh sie zu sehen. Seine Gedanken werden immer klarer und so langsam kommen die Erinnerungen an den Hafen wieder zusammen.
Sie bringt ein unsicheres Lächeln hervor und zeigt ihm einen gelben Blumenstrauß, eingewickelt in einen orangenen Papierkranz.
Er zieht nur die Augenbrauen hoch. Als ob er etwas mit Blumen anfangen könnte.
„Schauen Sie nicht so", sagt sie nach einer knappen Begrüßung, „ich wusste nicht was ich sonst mitbringen sollte. Immerhin habe ich...Ihnen was mitgebracht."
Sie hätte gar nichts mitbringen müssen.
David drückt sich etwas ungelenk hoch und polstert das Kissen in seinem Rücken auf. Er hasst helle Bettwäsche. Er fühlt sich unwohl im Krankenhaus. Es riecht komisch, ist voller Keime und absolut langweilig. Zudem fällt es ihm schwer ans Bett gefesselt zu sein. Er spürt nicht einmal seine Verletzung.
Nur ist die Wunde da und wird ihm Probleme bereiten, wenn er sich nicht schont.
„Sie sind nicht mehr ganz so blass."
Er nickt verhalten und starrt auf die Blumen, die Baley in ein Wasserglas stellt, weil sie keine Wase findet.
„Aber Sie. Haben Sie nicht geschlafen?"
Sie schüttelt den Kopf und steckt die Hände in den dunklen Mantel. Der ist neu. Ach ja, der alte treibt irgendwo im Hafenbecken.
Wie immer diese unscheinbaren Klamotten, die langweilige Frisur und ein blasser Teint. Gina wäre hübsch, wenn sie sich etwas vorteilhafter zurecht machen würde. Die Frau hat null Ausstrahlung, dafür dass sie immer so offen ihre Gefühle zeigt.
Doch was kümmert es ihn? Sie soll ihm bloß im Fall unterstützen und bald wird er sie eh wieder los sein. David weiß noch nicht wie bald. Er spürt nur, dass es bald zu Ende gehen wird. Auf die eine oder andere Weise.
„Ich habe die ganze Zeit nachgedacht."
Sie setzt sich erneut auf den herangezogenen Sessel. Sie sieht aus, als wäre ihr kalt.
„Manchmal wünschte ich mir in Ihren Kopf schauen zu können. Sie hatten direkten Kontakt zum Angreifer, der sehr wahrscheinlich unser Kehlenschlitzer ist."
„Ich habe leider nicht mehr gesehen als Sandra. Einen relative kleinen Mann, schwarz gekleidet und sein Gesicht von einer Maske verhüllt."
„Und wieso haben Sie kurz vor seinem Angriff auf die Uhr geschaut? Sie wussten doch längst wo er sich versteckt."
Anscheinend ist Gina Baley doch nicht so dumm, wie er dachte.
„Ich weiß...wie der Mörder seine Morde vorbereitet und wann sie stattfinden."
Gina fällt die Kinnlade herunter.
„Ist es ähnlich wie mit den Tatorten?"
Er nickt und drück seine Fingernägel in die Innenfläche seiner Hand, um seiner Anspannung Ausdruck zu verleihen.
„Wir dürfen uns nicht allein auf die Opfer konzentrieren. Er ist hinter mir her, also wählt er Ort und Zeitpunkt geschickt aus, damit ich ihn jagen kann. Die Opfer sind willkürlich. Sie haben weder etwas mit Drogen zu tun, noch mit mir. Nur will er uns das glauben lassen."
Da Gina ihm gespannt zuhört und es so wichtig ist, dass sie alles erfährt, erzählt David ihr alles, was er weiß. Trotz Müdigkeit und zunehmenden Kopfschmerzen, hält er sich wach. Nur mit allen Informationen kann sie weiter machen.
Er hat nicht wirklich gewusst wen der Mörder als nächstes Opfer auswählen würde. Es war ziemlich sicher, dass es sich um eine Person handeln würde, die für reichlich Verwirrung sorgt und jemand, an den er mit Leichtigkeit heran kommt. Auch wenn David es noch nicht überprüft hat, aber auch Sandra wird mit der neuen Droge in Kontakt gekommen sein und auch sie wird irgendwann einmal etwas ausgefressen haben. So war es jedenfalls bei den vorherigen Opfern. Wenn nicht sogar allein die Tatsache reicht dem Mörder im Weg zu stehen.
Das junge Mädchen, Opfer Nummer eins, hat in der Schule eine Klassenkameradin zusammen geschlagen. Dieser unwürdige Akt wurde von einer Mitschülerin gefilmt und ins Dark Web gestellt. Der Sportler hat regelmäßig bei Sportwetten betrogen und gedopt und George Hamington hat durch den korrupten und unehrlichen Handel mit Immobilien eine Menge Kohle verdient, aber auch gleichzeitig viel verloren. So lange bis er sich verzockt hat und mit den Drogen ins Geschäft kam. Alle drei Opfer hatten mit den Drogen Kontakt.
Feng ja sowieso. Der Mörder hat damit Verwirrung stiften und die Ermittler auf falsche Spuren locken wollen, was auch bis jetzt wunderbar funktioniert hat.
Allerdings gibt es zusätzlich keine Verbindung zwischen den Opfern. Der Mörder hat von ihren dunklen Taten gewusst und sie vermutlich mit Erpressung zum Tatort gelockt. Sehr wahrscheinlich hat er sie sogar auf den Tod vorbereitet und sie mit dem Leben ihrer Liebsten bedroht. Wie genau, weiß David nicht. Für ihn ist es auch nicht wichtig, weil sie nur Randfiguren gewesen sind. Das eigentliche Ziel ist er selbst.
Es besteht kein Zweifel darin, dass nach diesem verpatzten Mordversuch noch einer folgen wird. Es sind noch zwei Buchstaben in seinem Nachnamen übrig. Vielleicht wird er auch noch einmal versuchen Sandra zu beseitigen. Doch wird es nun schwieriger an sie heran zu kommen. Sie wird ins Zeugenschutzprogramm aufgenommen. Vielleicht wird er jemand anderes auswählen? Auch das wird für den Mörder schwierig, weil ihm die Tatorte ausgehen.
Nein, er wird bei „O" weitermachen, dem sechsten Buchstaben von Davids Nachnamen.
Wenn es so weit ist - und Jackson weiß ziemlich genau wann - wird es gefährlich. Nicht nur für ihn.
„Es sind die Zeiten, Baley", erklärt er ihr ruhig. Sie lehnt sich nach vorne und stützt sich auf den Oberschenkeln ab. Sie brennt geradezu darauf mehr zu erfahren. Warum sonst wäre sie so früh zu ihm gekommen?
„Er nutzt wichtige Ereignisse aus meinem Leben, um die Morde festzulegen. Dabei sind die Opfer nicht wichtig. Es geht nur um mich und meinen Lebenslauf."
„Nach welchen Ereignissen ist er vorgegangen?", fragt sie und verzieht kritisch das Gesicht.
„Der Mord des Mädchens war am Todestag meiner Eltern. Wir wären beinahe alle drei verunglückt, aber ich hatte Glück. Es zählt dabei nicht der genaue Monat oder das Jahr. Es geht nur um den Tag und die Uhrzeit."
Der Unfall ist am späten Abend geschehen. Passend zum Todeszeitpunkt des Mädchens. Gefunden hat man sie leider ein paar Stunden später an einem anderen Ort. Dem Mörder ist es nicht gelungen sie sofort in den Park zu locken. So musste er sie im Nachhinein wie eine Schaufensterpuppe drapieren.
„Der zweite Mord?"
„Mein Abschluss an der Akademie. Ich war stolz es so weit geschafft zu haben, trotz meiner Behinderung habe ich beste Noten erhalten."
Die Feierlichkeiten zogen sich vom späten Nachmittag bis in den Abend hinein. Sein Zeugnis hat er anders als üblich auch erst abends erhalten. Sein Jahrgang hatte so viele gute Absolventen, weshalb sich die Feier so in die Länge gezogen hat. Im Nachhinein sieht David die Parallelen. Der gleiche Tag, die gleiche Uhrzeit.
Auch bei Hamington gibt es eine Verbindung. Der Tag, an dem Loreen gestorben ist. Es war bei einem Großeinsatz. Man hat ihr mehrmals in den Rücken geschossen und sie ist noch vor Ort gestorben.
Genau darum hat der Mörder einen verheirateten Mann ausgesucht, dessen Frau ihn aufrichtig geliebt hat und ihn sehr vermisst. Susan leidet schrecklich unter dem Verlust ihres Mannes, so wie David damals gelitten hat. Wieder stimmte die Uhrzeit des Mordes mit dem Todeszeitpunkt von Loreen überein.
Es ist ein grausames Spiel des Mörders.
Bei Feng ist es etwas weniger Aufwand gewesen: Eine Beförderung, die ihm zum Detektive machte. Gleicher Tag, gleiche Uhrzeit.
Der Angriff auf Sandra sollte die Parallele für seine Auszeichnung im letzten Frühjahr sein. Er hat einen besonderen Fall gelöst und hat dafür eine Anerkennung erhalten. Zuerst ist es David nicht aufgefallen, weil er damals in Japan gewesen ist und die Auszeichnung um Zehn Uhr morgens stattgefunden hat und nicht um Mitternacht. Dann aber ist ihm die Zeitverschiebung in den Sinn gekommen und plötzlich ist es ihm wie Schuppen von den Augen gefallen. Gerade in dem Moment, als er am Hafen schon im Visier des Mörders gestanden hat.
Das diente bloß als Einschüchterungsversuch. Wenn er David an dem Abend umgebracht hätte, wäre das sein Glück gewesen. Zwei Fliegen mit einem Streich. Doch war es nicht vorgesehen und genau deshalb lebt David noch. Zugleich hat es dem Mörder dazu gedient sein nächstes Opfer auszuwählen, sowie den Ort und auch den Zeitpunkt.
Dazu gibt es eine einzige Parallele: nämlich Gina. Gina ist ihm ein Dorn im Auge, weil sie David und Sandra das Leben gerettet hat. Sie wird ganz sicher als Nächstes auf der Opferliste stehen. Daher ist der Ort leicht zu vermuten und die Zeit weiß er auch schon. Der Moment ihrer ersten Begegnung.
Gina glaub es war auf dem Revier im Konferenzraum, aber sie irrt sich. Der Mörder kennt die kleinsten Details aus seinem Leben. Da wird er auch die wahre erste Begegnung kennen: Der Tatort in der Gasse mit dem toten Winkel. Er hat auf dem Balkon gestanden und sie beobachtet.
Es ist erst vor einigen Tagen geschehen und dennoch zählt es als wichtiges Ereignis in Davis Leben, weil er davor drei Jahre alleine gearbeitet hat.
All diese Ereignisse hat der Mörder sich herausgesucht. Alles nur, um David herauszufordern. Fazit ist, dass David ihn zwar durchschaut, aber viel zu lange gebraucht hat. Vier Menschen sind tot und nun bringt er auch noch Gina in Gefahr.
„Es sind nur vier Menschen. Es könnten weitaus mehr sein, wenn jemand anderes den Fall bekommen hätte, David", sagt Gina tröstend.
„Ich habe die Parallelen nicht gesehen, aber ich kenne Ihr Leben auch nicht so gut. Ich hätte lange suchen müssen, um diese Dinge herauszufinden und auch wenn es hier um Ihr Leben geht, ist es nicht einfach sowas herauszufinden. Er hätte auch noch Parallelen durch die Opfer erschaffen können, aber ich schätze, das hätte ihn in seiner Handlungsfreiheit zu sehr eingeschränkt."
David nickt abwesend. Er weiß sie sagt das nicht nur zum Trost. Sie meint das so.
„Danke für die aufbauenden Worte, Gina. Nur ist mir jedes Opfer zu viel. Wenn das so weiter geht, wird sich der Mörder einen Berg aus Toten erschaffen."
Sie seufzt und steht wieder auf.
„Denken Sie positiv, David. Ich bin ja noch da. Erholen Sie sich und verlassen Sie sich ganz auf mich."
Er schnaubt herablassend.
„Soll mich das jetzt beruhigen?"
„Ja", sagt sie und nickt zuversichtlich. „Ich will, dass Sie sich ausruhen und wieder auf die Beine kommen, Partner."
Mit diesen Worten schlägt sie sanft auf seine zugedeckten Beine und wünscht ihm gute Besserung, bevor sie ihn endlich ausruhen lässt.
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