(15) Jacksons Bürde
Gina sitzt immer noch zitternd in Markus Wagen und sieht gedankenversunken aus dem Fenster. Sie wird niemals sein Gesicht vergessen. Jacksons Gesicht wie er den Angriff bemerkt hat. Er hat noch versucht ihn abzuwehren. Dann sein Blick auf die Uhr. Gina wüsste zu gerne was ihm in diesem Moment klar geworden ist. Woher hat er gewusst von wo aus der Angriff kommt? Er hat es einen Moment zuvor entdeckt. Nur was? Was hat er gesehen?
Ach hätte sie doch nur seinen Verstand. Wie soll sie das jetzt alleine durchstehen? Ohne ihn kann sie nicht weiter machen. Ach das soll im Augenblick egal sein. Hauptsache er kommt wieder auf die Beine. Bisher konnte er jeden Angriff vereiteln. Nur heute hat er eine Sekunde zu lange gebraucht. Gina wird auch klar warum. Sandra war die Ablenkung für ihn. Der Mörder hat es geschickt eingefädelt und beinahe hätte er sein nächstes Opfer gehabt und Jackson auch umgebracht. Nicht genug ihn mit einem Messer lebensbedrohlich zu verletzen. Die Bombe zum Schluss war sein finaler Streich.
Gina hätte es ahnen müssen in dem Moment als sie die erste Bombe entdeckt hat. Doch haben sie sich nicht weiter darum kümmern können, weil Sandra die perfekte Ablenkung war.
Gina fühlt sich schlecht. Sie haben es mit einem starken Gegenspieler zu tun. Er lässt die Menschen wie Marionetten nach seiner Pfeife tanzen. So einen Fall hat sie noch nie gehabt. Sie ist siebenunddreißig und kann sich schon einige Fälle ans Kreuz schlagen, aber dieser macht sie fertig.
Die Kälte kriecht ihr bis auf die Knochen und schnell zieht sich Gina die Decke enger um den Körper.
„Bist du wirklich okay?", fragt Markus besorgt.
Sie schüttelt den Kopf. Nichts ist okay.
Wenn Jackson stirbt, wird sie sich das niemals verzeihen.
Markus bemerkt ihre Anspannung und schweigt für den Rest der Fahrt.
Sie staunt nicht schlecht, als er vor einem Krankenhaus hält.
„Ich will, dass du dich untersuchen lässt, Gina. Das war die Hölle heute."
„Mir geht's gut."
„Ja vielleicht. Aber vielleicht möchtest du sehen wie es Jackson geht."
Ginas Augen werden groß.
„Ich weiß, du wirst jetzt eh nicht zur Ruhe kommen. Du bist der einzige Mensch, der sich um den Blödmann sorgt. Das sehe ich dir an. Er ist dein Partner und ich kann das verstehen."
Gina weiß nicht was sie sagen soll. Deshalb seufzt sie leise und macht eine lange Pause.
„Ich habe ihn total unterschätzt. Er ist bloß so abweisend gewesen, um mich zu schützen. Er ist brillant, ehrgeizig und mutig. Trotz allem, was er bisher durchmachen musste, ist er stark geblieben und lässt sich nicht einschüchtern. Er ist ein guter Mensch."
Markus antwortet nicht sofort. Er stellt den Motor ab und beobachtet die einsamen Menschen, die ins Krankenhaus rein und raus gehen.
„Danke...Markus", sagt sie schließlich und steigt aus. „Ich melde mich später bei dir."
Er nickt nur und Gina schließt die Tür.
Sie geht trotz ihrer noch immer nassen Klamotten ins Krankenhaus und erkundigt sich gleich nach Jackson und auch nach Sandra. Da ihr Kollege immer noch behandelt wird, stattet sie erst der Frau einen Besuch ab.
„Wie geht's Ihnen?", fragt Gina und betritt das kleine Krankenzimmer. Sandra hat ein großes Pflaster am Hals und sieht nicht mehr ganz so blass aus. Man hat sie gut versorgt. Inzwischen hat sie auch Unterstützung von ihrem Lebensgefährten Nils bekommen.
Er hält ihre Hand und wirkt aufgelöster als seine Frau, die freundlich zu Gina herüber lächelt. Sandra hat die Kleider gewechselt und sitzt entspannt auf der Kante ihres zugeteilten Bettes. Allerdings muss sie nicht mehr lange im Krankenhaus bleiben, da ihre Verletzung nicht so schlimm ist.
„Detektive, ich verdanke Ihnen mein Leben."
„Das war knapp, das gebe ich zu."
„Wie geht es ihrem Partner?"
Gina schüttelt unwissend den Kopf.
„Weiß ich noch nicht. Ich darf ihn noch nicht sehen."
„Oh...", sagt Sandra sichtlich besorgt, „...ich hoffe er wird bald wieder gesund. Es tut mir leid, was geschehen ist, obwohl ich noch nicht alles verstehe."
Gina setzt sich mit nassen Klamotten auf den einzigen Stuhl im Zimmer und merkt, wie ihre Anspannung etwas nachlässt.
„Sie haben bestimmt in den Nachrichten über diesen Serienmörder gehört."
Sandras Augen werden groß.
„Das war er?"
Gina nickt bestätigend.
„Höchstwahrscheinlich. Er hat uns in eine Falle gelockt. Es war nur Glück, das wir alle da raus gekommen sind."
Gina zieht es vor ihr nicht sämtliche Details zu erzählen. Warum sollte sie die arme Frau verunsichern und ihr mitteilen, dass man Jackson umbringen möchte und sie nur als Mittel zum Zweck gedient hat.
Trotzdem ist Gina froh ihr das Leben gerettet zu haben.
„An was können Sie sich noch erinnern? Haben Sie etwas vom Täter gesehen? Wie hat er Sie angegriffen?"
Sandra wechselt einen kurzen Blick mit ihrem Freund und sieht dann wieder zu Gina.
„Leider habe ich nicht sein Gesicht gesehen. Ich glaube es war ein Mann. Er war kräftig und ich erinnere mich an seine Stimme."
„Beschreiben Sie es mir bitte."
„Hell und rau."
„Können Sie anhand seiner Stimme sein Alter bestimmen?"
Sandra schüttelt verzweifelt den Kopf.
„Ich bin nicht gut in sowas. Ich habe ja nicht einmal sein Gesicht sehen können. Doch ganz jung schien er nicht mehr zu sein."
Gina nickt nur nachdenklich.
„Und wie hat er Sie zum Hafen gelockt?"
„Ich war in der Nähe. Er hat mich überfallen und mich mit einem Messer bedroht. Dann hat er mir ein Handy in die Hand gedrückt und gesagt ich solle jemanden anrufen. Er hat mir sogar genau gesagt was ich sagen soll und was nicht. Nach dem Anruf sind wir zum Pier gegangen. Wobei er mich eher dorthin geschleppt hat."
Ihre Pupillen werden wieder groß und sie schaut bedrückt zu Boden.
„Ich hatte solche Angst. Ich dachte er würde mich jeden Moment umbringen. Ich bin noch nie...einfach so überfallen worden."
„Wo waren Sie als er sie entführt hat? Wo wollten Sie hin?"
„Sie geht jeden Abend am Hafen vorbei auf dem Weg nach Hause. Sandra studiert und arbeitet nebenher in einer Bar die sich ganz in der Nähe befindet. Da es nicht weit ist, läuft sie meistens nach Hause oder ich hole sie ab, wenn ich nicht im Spätdienst bin", antwortet der Mann.
Sandra wird klein neben ihm. Sie hat definitiv fiel zu verarbeiten.
Gina kann ihre Angst verstehen. Vor so einem Psychopathen kann man nur Angst haben.
„Wo arbeiten Sie?"
„In einem Logistikkonzern auch in der Nähe. Wir wollten uns nach Sandras Studienabschluss ein Haus in der Stadt kaufen. Mir wäre es egal ein bisschen weiter zum Dienst zu fahren, aber ich wollte nicht länger am Hafen wohnen. Es ist ständig laut und richt ziemlich streng."
Wenn der Mörder all das berücksichtigt hatte, dann müsste er eine ganze Menge Vorarbeit geleistet haben. Für Gina sah es eher so aus als hätte er im Affekt gehandelt. Gleichzeitig auch wieder nicht, immerhin muss er sich an gewisse Regeln halten, wenn er bei seinem Schema bleiben will. Hat er Sandra beobachtet? Wenn ja wie lange hatte er diesen Angriff geplant?
Sie stellt den beiden noch ein paar letzte Fragen und lässt sie nach einer Weile wieder alleine zurück. Als sie den Flur betritt und die Tür hinter sich schließt, fühlt sich Gina eigenartig.
Die Gefahr ist vorüber und dennoch hat sie das Gefühl nicht in Sicherheit zu sein. Wenn man Jackson umbringen will, dann geht das auch in einem Krankenhaus.
Sie verdonnert zwei ihrer Kollegen dazu ständig in seiner Nähe zu bleiben und sie sofort anzurufen, sobald er aus dem OP kommt und auf ein Zimmer verlegt wird.
Es hat keinen Sinn hier herum zu sitzen und sich den Tod zu holen. Sie sollte nach Hause fahren und die nassen Kleider loswerden.
Das tut sie auch. Wobei nach Hause fahren bedeutet in der vollen U-Bahn von allen angestarrt zu werden. Das kümmert sie nicht. Sie ist am Ende und wenn die Leute wüssten, was sie heute durchgemacht hat, würden sie nicht so komisch gucken.
Kaum ist sie daheim und hat sich mit einer warmen Dusche erfrischt, klingelt ihr Handy. Man ruft sie wegen Jackson an und Gina beeilt sich zurück ins Krankenhaus zu gelangen. Unterwegs isst sie ein paar Kekse, die sie sich von ihrem Küchenbüffet geschnappt hat. Sie hat Hunger, bekommt aber kaum etwas runter vor Nervosität. Nach dem dritten Keks ist ihr schon schlecht. Sie nutzt den Fahrstuhl und fährt in den dritten Stock. Rechter Flur, zweite Tür. Sie sieht schon ihre beiden Kollegen vor der Tür.
Sie nicken ihr zu und klopfen vorsichtig an die Tür, bevor sie eintritt.
Drinnen erwartet sie ein abgedunkelter Raum mit einem Einzelbett, in welchem Jackson liegt. Sein Haar ist wirr und und sein Gesicht blass und krank. Der Arzt hat ihr beim Empfang gesagt, dass er Glück hatte und wieder auf die Beine kommt. Gina hat kaum ihre Erleichterung zurückhalten können. Auch wenn sie ihren Partner nicht unbedingt leiden kann, ist es doch eine grausame Vorstellung, ihn auf die Art zu verlieren.
Sie geht zu seinem Bett und fasst vorsichtig nach seiner eiskalten Hand. Sie haben ihm auch den alten durchgeweichten Verband an der anderen Hand erneuert.
Jackson ist sediert und wird noch durch einen Tropf versorgt.
Gina fühlt Mitleid mit ihm. Zum Glück hatte sie nicht auf ihn gehört und ihm den Fall alleine überlassen. Dann wäre er jetzt tot.
Sie nimmt sich den bequemen Holzsessel herbei und zieht in ans Bett heran. Sie wird bei ihm bleiben bis er aufwacht.
Im Zimmer ist es ruhig. Nur vereinzelt dringen Geräusche vom Flur an sie heran und sein gleichmäßiges Atmen. Er wird nicht aufhören, das ist ihr klar. Jeder andere würde aufgeben, nach so etwas, doch Jackson nicht.
Müdigkeit überkommt Gina. Sie hat nicht mehr die Kraft an den Vorfall zu denken und irgendwann wird ihr Kopf so schwer, dass er auf die weiche Bettdecke sinkt.
Sie weiß nicht wie lange sie geschlafen hat. Das Zucken seiner Finger holt sie aus dem unruhigen Alptraum und lässt sie hochschrecken.
„Meine Güte, Baley, sie sehen schlimmer aus, als ich mich fühle."
„Hm...das liegt nur daran, dass sie überhaupt nichts fühlen", entgegnet sie verschlafen. Schnell kämmt sie sich die Haare zurecht und richtet sich auf dem Sessel auf.
„Sie leben noch", stellt sie nüchtern fest.
„Ja...Dank Ihnen."
„Sie hatten Glück."
„Wir alle hatten das", korrigiert er schwach. Er ist noch nicht fit.
„Sie sind...eine ganz schöne Nervensäge, Baley..."
Ihr entschlüpft ein Laut der Empörung. Anscheinend geht es ihm besser als sie dachte. Da er krank ist, schluckt sie den passenden Konter herunter und lässt ihn ausreden.
„...aber...", fährt er fort, „...ich bin froh, dass sie da waren."
Er klingt absolut ehrlich. Vielleicht spricht aber auch das Schlafmittel aus ihm.
„Ganz meiner Meinung. Wir können das nicht alleine schaffen. Dazu ist er zu ausgeklügelt. Beinahe hätte er diese Frau und Sie auf dem Gewissen."
„Was würden Sie nur ohne mich machen?"
Sie lacht über die gespielte Arroganz von ihm.
„Verhungern", sagt sie und schmunzelt noch.
„Mit Sicherheit."
„Noch immer so eingebildet, obwohl man Ihnen gerade den Arsch aufgerissen hat? Haben Sie keine Schmerzen?"
Er schüttelt den Kopf.
„Das ist das Gute an einer Nervenstörung. Ich fühle nichts...nicht einmal ihre Hand. Diese Berührung fühlt sich an wie die Berührung einer Feder."
Gina bemerkt erst jetzt, dass sie noch immer seine Hand hält und schaut diese nun ganz verdutzt an.
„Ich beneide Sie."
Auf einmal verzieht er ernst das Gesicht, was nicht am Schmerz liegt.
„Sagen Sie das nicht, Gina. Daran ist nichts tolles. Vielleicht sind meine Schmerzen um siebzig oder achtzig Prozent reduziert, aber alles andere kann ich auch nicht fühlen. Sie können sich nicht vorstellen damit zu leben. Ich könnte mich an einer heißen Herdplatte verbrennen, ohne es zu merken. Ich kann erfrieren, ohne es zu merken. Ich fühle ab den Schultern rein gar nichts. Andere haben vielleicht bessere Sinne dadurch. Ich kann mich bloß auf meinen Verstand und meine Augen verlassen."
Er klingt traurig und Gina bereut ihre Aussage. Sie weiß wirklich nicht wie es ist mit sowas zu leben.
„Wie lange haben Sie das schon?"
„Seid dem Unfall, bei dem meine Eltern starben. Ich war noch ein Kind."
Sie sieht die schmerzliche Erinnerung auf seinem Gesicht. Es fällt ihm schwer darüber zu reden.
„Es ist okay, denn ich habe gelernt damit zu leben."
„Wie?", will Gina unbedingt wissen.
„Jahrelanges Training. Die erste Person, die damit zurecht kam...war Loreen."
Gina nimmt an, dass er von seiner ehemaligen Partnerin spricht.
„Sie hat sich davon nicht abschrecken lassen und ist zu meinem Schatten geworden. Wir waren ein gutes Team. Sie war meine Vorahnung und ich war ihr Verstand. Eine perfekte Ergänzung, so könnte man sagen."
Ein warmes Gefühl durchströmt Ginas Körper und sie hört ihm aufmerksam zu, während er über seine Bürde spricht.
Er berichtet auch von seiner ehemaligen Partnerin und Gina verspürt auf einmal das Bedürfnis ihren Platz einzunehmen. Nicht aus Eifersucht heraus. Sie will eine Vertrauensperson für ihn werden und das aus ihm hervorlocken, was er in den vergangenen Jahren verloren hat. Gina verspürt den Wunsch seine Partnerin zu sein und ihn zu unterstützen.
Vielleicht ist sie zu emotional und zu fürsorglich, aber das zeichnet sie aus. Sie hat das Herz, was vielen Menschen fehlt. Jedenfalls erträgt sie es kaum noch ihn so leiden zu sehen. Kein Wunder, dass er so ablehnend und misstrauisch geworden ist. Er ist die meiste Zeit auf sich alleine gestellt. Er hat schlimme Dinge erlebt und...Gina wagt kaum den Gedanken zu Ende zu denken, doch anscheinend waren Loreen und David mehr als nur Partner. Sie waren ein Paar.
„Es tut mir leid, Jackson."
Gina senkt betreten den Kopf.
„Ich weiß von meinem Mittleid können Sie die Zeit nicht zurück drehen. Trotzdem tut es mir unheimlich leid."
„Lassen Sie das nicht zu sehr an sich heran, Baley. Es ist Vergangenheit."
Er hat gut reden, wo er doch selbst noch an der Vergangenheit nagt.
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