4
Als ich aus meinem Albtraum hochschreckte, war es noch dunkel draußen. Ein Blick auf mein Smartphone bestätigte mir, dass es noch mitten in der Nacht war. Vier Uhr morgens. Aber ich wusste, dass ich nicht mehr schlafen konnte. Es hätte keinen Sinn, sich wieder hinzulegen, da ich mich sowieso nur von einer auf die andere Seite wälzen würde, während meine Gedanken mich quälten. Denn das taten sie auch heute noch. Mich quälen, jeden Tag, an dem ich lebte. Als wäre es nicht richtig, dass ich noch am Leben war. Als hätte ich sterben sollen an diesem Tag auf dieser Brücke.
Solche Gedanken überkamen mich vorzugsweise nachts, wenn alles um mich herum still war. Ich tat mein bestes um sie zu ignorieren und lenkte mich ab. Daher stand ich jetzt aus meinem Bett auf, schüttelte das Kissen auf und legte die Bettdecke zurecht. Ich trug noch die Sachen vom Tag zuvor, war irgendwann beim Musik hören einfach eingeschlafen. Wie früher.
Ich hob meine Schultasche vom Boden auf, schnappte mir meine Schuhe und schlich mich aus der Wohnung. Zog die Tür so leise wie möglich hinter mir zu und lief auf Socken das Treppenhaus hinab ohne das Licht einzuschalten. Erst als ich auf den kühlen Steinen vor der Haustür stand und der erfrischende Nachtwind mir um die Nase wehte, zog ich meine Schuhe an. Steckte meine Kopfhörer wieder in die Ohren und spielte Musik ab. Dann lief ich. Ich wusste nicht wohin, sondern ließ mich einfach von meinen Füßen tragen. In dieser Gegend kannte ich mich kaum aus, aber was hatte ich schon zu verlieren?
Eine gute Stunde verbrachte ich damit durch die Gegend zu irren. Durch die dunklen, verlassenen Straßen, die zum Teil nur spärlich von Laternen beleuchtet waren. So weiter ich lief, desto weniger Laternen wurden es. Bald führte ein Weg in einen Park und ich schlug ihn ein. Während um mich herum alles still war, beschallte ich meine Ohren mit lauter Musik. Ich versuchte mit ihr meine Gedanken zu übertönen, doch so ganz wollte mir das nicht gelangen. Sie drängten sich mir mit solch einer Intensität auf, dass ich schließlich nachgab und begann nachzudenken. Hier draußen und der angenehm kühlen Luft der Nacht funktionierte das besser, als daheim in meinem Zimmer, das mir so fremd war. In dem nichts Persönliches an den Wänden hing. Keine Fotos, keine Poster. Irgendwie erschien es mir nicht wichtig genug, diese Dinge aufzuhängen. Als sei meine Zeit bald gezählt, meine Sanduhr so gut wie abgelaufen und das Aufhängen dieser persönlichen Dinge sei unnötig. Weil sie eh bald wieder abgehangen werden würden.
Meine Schritte hatten mich zu einer Brücke geführt, unter der in vielen Metern Tiefe Schienen verliefen. Was für eine Ironie. Orte wie dieser schienen eine magische Anziehungskraft auf mich auszuüben.
Ich lehnte mich mit den Unterarmen auf das Geländer und schaltete die Musik aus. Ich brauchte mal etwas Ruhe um wirklich nachzudenken. Über die vergangenen Monate, alles was passiert war. Während ich in die Tiefe schaute, die Gleise nur vom Mond beschienen, seufzte ich leise. Mir wäre vieles erspart gewesen, wenn ich gesprungen wäre, als ich es das erste Mal vorhatte. So vieles. Ich befände mich nicht schon wieder in einem solchen Dilemma.
Wäre es das wert gewesen? War es das wert? Sich das Leben zu nehmen, weil jemand anders entschied, einem das eigene zur Hölle zu machen? Eigentlich nicht, wurde mir klar. Diese Leute waren es nicht mal wert, dass man sich wegen ihnen schlecht fühlte. Die Umsetzung dieser Erkenntnis war leider so gut wie unmöglich.
„David?" Es war Jennas Stimme, die mich aus meinen Gedanken riss. „Was machst du denn hier?" Ich drehte mich um und konnte sie im schwachen Mondschein auf mich zukommen sehen. Sie zog sich die Ohrstöpsel aus den Ohren und verstaute sie in ihrer Jackentasche. Die langen braunen Haare hatte sie zu einem hohen Pferdeschwanz gebunden.
„Nachdenken", antwortete ich, „Und du?"
„Laufen." Jetzt sah ich auch die engen Sporthosen und die Laufschuhe. Ich nickte verständnisvoll. „Ich gehe immer laufen, wenn ich Ablenkung brauche." Sie stellte sich neben mich an das Geländer, stützte die Arme darauf und blickte auf die Schienen hinab. Ich nickte wieder, wusste nicht, was ich sagen sollte. Auch mein Blick wanderte wieder zu den Gleisen hinab und ich fühlte mich so unendlich schuldig. Ich war nicht besser, als die anderen. War nicht besser, als diejenigen, die sich nie für mich eingesetzt hatten. Dass das allerdings auch ziemlich schief gehen konnte, hatte ich auch erleben müssen. Als Robin sich für mich eingesetzt hatte und ich daraufhin von John und seiner Meute nach der Schule zusammen geschlagen worden war. Konnte man überhaupt etwas richtig machen?
„Woran denkst du?", fragte Jenna. Ich spürte ihren durchdringenden Blick auf mir ruhen.
„Heute Morgen ...", begann ich und druckste ein wenig herum. „Ich wusste nicht ... es tut mir Leid ... Ich ..." Sie unterbrach mich.
„Alles gut, David. Dir braucht nichts leidtun, du hast nichts falsch gemacht." Ich sah auf. Jennas Augen strahlten wieder genauso wie an dem Morgen, an dem ich sie kennen gelernt hatte. Als sie weitersprach, verfinsterten sie sich allerdings wieder etwas. „Ich hoffe nur, dass du die richtige Entscheidung triffst. Dir die richtigen Freunde suchst und kein Arschloch wirst. Wie Jonah und Rick." Sie stieß sich von dem Geländer ab und holte ihre Kopfhörer wieder aus der Jackentasche hervor. Bevor ich etwas sagen konnte, verabschiedete Jenna sich mit einer herzlichen Umarmung von mir, joggte los und verschwand in der Dunkelheit.
Ich ging spazieren bis die Schule begann. Meine Sachen hatte ich schon mitgenommen, weil mir klar gewesen war, dass ich vorher nicht mehr nach Hause gehen würde. Ich wollte nicht auf meine Mutter treffen, die mich fragte, wo ich gewesen war und was ich gemacht hatte. Das würde sie spätestens heute Nachmittag sowieso tun.
Die ersten beiden Stunden verliefen ruhig. Ich hatte Biologie und weder Rick und Jonah noch Jenna waren in diesem Kurs. Ich saß neben einem Mädchen mit einem braunen Pferdeschwanz, die mir die ganze Stunde von ihrem Urlaub in den Centerparks erzählte. Ich hörte nur mit halbem Ohr zu, aber es reichte ihr, wenn ich zwischendurch nickte und irgendwas Zustimmendes murmelte. War mal ganz nett, sich von dem normalen Leben eines anderen Menschen berieseln zu lassen. Ihre Sorgen waren so herrlich simpel, so normal. Sie ließen mich meine eigenen für einen Moment vergessen.
So näher die Pause rückte, desto unruhiger wurde ich. Es erschien mir ein guter Plan, die Pause wieder auf dem Klo zu verbringen, wo ich nicht Gefahr lief, mich mit irgendwem auseinander setzen zu müssen. Aber wollte ich mein Leben wirklich auf diese Art weiterführen? Immer vor den Konflikten davonrennen? Mir war klar, dass ich so nicht glücklich werden würde. Wenn man sich von seinen Ängsten befreien wollte, musste man sich ihnen stellen. Leider war das auch wieder so eine Sache, die leichter gesagt, als getan war.
Als es zur Pause klingelte, befahl ich mir, mich zusammenzureißen. Ich würde nicht wieder aufs Klo flüchten, sondern die Pause draußen verbringen, wie normale Menschen es eben taten. Meine Sitznachbarin kam mir dabei sogar unbewusst zur Hilfe.
„Möchtest du dich in der Pause vielleicht zu mir und meinen Freunden setzen? Du scheinst wirklich nett zu sein." Sie lächelte mich an, während sie ihre Schultasche schulterte.
„Ähm ... gerne!", zwang ich mich zu sagen und fühlte mich tatsächlich ein wenig geschmeichelt. Bisher hatte mir hier noch niemand etwas Böses getan, im Gegenteil waren sie wirklich nett zu mir. Wäre da nicht die Sache mit Jenna, hätte das hier ein wirklich guter Neustart werden können.
Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top