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Obwohl der erste Tag so gut verlaufen war, schmerzte mein Magen als ich am nächsten Morgen das Schulgebäude erreichte. Meine Handflächen waren nass, wie immer, aber ich ließ mich davon nicht beirren. So selbstsicher, wie es mir möglich war, trat ich ins Schulgebäude und machte mich auf den Weg zu meinem ersten Unterricht. Deutsch. Als ich den Raum betrat, waren Jonah und Rick die ersten, die ich entdeckte. Sie standen lachend an einem Tisch. Ich kannte dieses Lachen. Und das Mädchen, das an dem Tisch saß. Jenna.
„Lasst mich in Ruhe!", rief sie gerade und griff erfolglos nach dem Blatt, das Jonah in der Hand hielt. Er drehte sich lachend von ihr Weg und begann lauthals zu lesen. So, dass es jeder hörte, ob er wollte oder nicht.
„Wie ein eiserner Käfig in der Dunkelheit, fernab von jedem bisschen Sonne, quälst du jeden Tag mich voll Wonne..." Die Klasse gröhlte. Jenna sprang auf, ihr Gesicht war rot angelaufen. Sie riss Jonah das Blatt beim zweiten Versuch aus der Hand und knüllte es zusammen.
„Lass deine Finger von meinen Sachen!", zischte sie und stieß ihn vor die Brust. Aber Jonah lachte nur und machte sich darüber lustig.
Ich war inzwischen in der Tür zu einer Säule erstarrt. Ich wusste nicht, was ich tun oder wie ich reagieren sollte. Mein Herz raste, während ich mich daran zurückerinnerte, wie John mit mir so umgesprungen war. Wie er mir meine Zeichnung geklaut und sich darüber lustig gemacht hatte. Damals hatte keiner etwas gesagt, niemand hatte mir geholfen. Niemand hatte sich gegen John gestellt. Genau so, wie ich es jetzt tat. Ich stand da und sagte nichts aus der Angst heraus, dass ich ihr nächstes Opfer werden könnte. Denn ich war nicht Robin. Ich war nicht so cool, dass ich so etwas riskieren konnte. Er hatte John die Stirn bieten können, war ihm überlegen gewesen. Aber ich war es nicht. Bei mir würde es nur enden, wie es damals gewesen war. Das konnte ich nicht riskieren.
Trotzdem hasste ich mich, als ich mich mit gesenktem Blick an Jenna vorbeischob.
Die Szene verfolgte mich den ganzen Tag. Ich konnte mich nicht auf den Unterricht konzentrieren. So sehr ich es auch versuchte, wenige Minuten später bemerkte ich, dass meine Gedanken wieder abgeschweift waren. Ich erwischte mich mehrfach dabei, wie ich einfach aus dem Fenster starrte, auf die Handvoll Bäume, die hinter der Sporthalle standen. Noch erblühten sie im schönsten Grün und die Vögel hüpften in ihnen herum, aber bald würden die Blätter sich bunt färben. Sie würden fallen und vertrocknen. Wäre es nach mir gegangen, hätte ich diesen Herbst nicht mehr erlebt. Genau so wenig, wie diesen Sommer. Diese Schule, diese Leute. Diese Situation mit Jenna am Morgen.
In den Pausen ging ich allen aus dem Weg, versteckte mich in einer Kabine im Klo und fragte mich, wie es dazu gekommen war. Dass ich mich wieder versteckte und wieder nicht lebte, wie ich es mir vorgenommen hatte. Bei all den unnötigen Sachen, die man in der Schule lernte, wieso erklärte einem niemand, wie man die Schule überlebte? Wie man mit anderen Menschen umging? Das wären Dinge, die mich interessieren würden.
Nach dem Unterricht begegnete ich Jenna wieder vor dem Schulgebäude.
„Hey", murmelte ich leise und schaffte es kaum ihr ins Gesicht zu sehen. Dafür sah sie mich an. Fing meinen Blick mit ihrem auf, der so unendlich traurig war. Und enttäuscht.
„Ich muss los", murmelte sie nur leise und wandte sich ab. Kein breites Lachen heute. Verdammt.
Ich lief langsam los um Abstand zwischen uns zu lassen, aber das wäre gar nicht nötig. Jenna war schneller verschwunden, als ich schauen konnte.
Meine Mutter wartete wieder mit dem Essen, als ich zur Tür hereinkam, aber ich verspürte nicht den geringsten Hunger. Sie fragte mich was los sei, sagte, ich müsse doch etwas essen. Aber ich winkte nur ab und schloss meine Zimmertür hinter mir ab. Meine Mutter klopfte, rief mich ein paar Mal beim Namen, aber als ich beim fünften Mal noch nicht reagierte, gab sie schließlich auf.
Müde und seltsam ausgelaugt ließ ich meine Schultasche mitten im Weg liegen und mich aufs Bett fallen. Dort kramte ich meine Kopfhörer hervor, stöpselte sie in mein Handy ein und lauschte wieder der rauen Stimme meines Lieblingssängers und der Band Rise Against. Sie hatten mich schon durch so viele schwere Zeiten begleitet und ich würde immer zu ihnen zurückkehren, wenn es mir schlecht ging. Mit ihren Texten trafen sie, was ich fühlte. Genauer, als ich es je beschreiben könnte.
Die E-Gitarre begann das Lied Black Masks and Gasoline. Nur weil man atmete, sang der Sänger, hieß das nicht, dass man lebte. Das Leben hatte seinen Tribut gefordert und sie wusste nicht, wie viel sie noch geben konnte.
Sofort erschien Jennas Bild in meinem Kopf. Ihr strahlendes Lächeln, das sich zu diesem traurigen Ausdruck vom Nachmittag wandelte. Was hatte sie erwartet? Hatte sie gedacht, ich würde mich für sie einsetzen? War sie deshalb auf mich zugekommen? Sie kannte mich doch gar nicht, wie konnte sie so etwas von mir verlangen?
Der Sänger sang inzwischen davon, wie er am höchsten Punkt der Welt stand, seine Arme in die Luft riss und die Hände zu Fäusten ballte, während er nach Antworten gefragt wurde. Doch er verstand nicht, woher sie die Idee hatte, dass sie diese Welt beeindrucken müsste. Denn ihm könnte sie nicht egaler sein.
Wie war das bei mir? Wollte ich diese Welt beeindrucken? Wollte Jenna diese Welt beeindrucken? Oder wollte sie, wie ich, nur in Ruhe ihr Leben leben? Konnte man das, was ich tat, denn überhaupt leben nennen? Mit gesenktem Blick lief ich durch die Welt, mied die Menschen und versteckte mich in der Pause auf dem Klo. Mal wieder. Im Grunde hatte sich nicht viel geändert. Obwohl ich selbst nicht, oder noch nicht, von den anderen fertig gemacht wurde, machte mich das Mobbing fertig. Wie konnte ich daneben stehen, obwohl er wusste, wie sich das anfühlte? Obwohl es ihn fast in den Selbstmord getrieben hatte? Genauso fragte er sich aber, wie er etwas anderes tun könnte. Er war nicht wie Robin, das war ihm am Morgen schon klar geworden. Er war nicht stark genug den Mund aufzumachen und würde es wahrscheinlich auch niemals sein.
Die Welt bedurfte einer Revolution, klärte mich der Sänger auf. Mit jedem Tag brauchte sie sie mehr.
Ich wusste, dass er Recht hatte. Aber ich war kein Revolutionär.
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