Arztbesuch

Wortlos saßen wir in dem menschenleeren Wartezimmer. Die Stille war erdrückend, während ich begann die Bücher im Regal zu zählen. Doch da sich meine Kopfschmerzen dadurch nur verstärkten, unterließ ich das Zählen mit einem seufzen.
Trotz, dass wir die Einzigen waren, die im Wartezimmer saßen, dauerte es schon ziemlich lange.
Langsam zog ich den Ärmel meines Pullis hoch, um auf meine Uhr zu schauen. Wir warteten schon eine halbe Stunde und der Unterricht hatte schon längst angefangen.
"Wenn du jetzt gehst, könntest du es noch zur zweiten Stunde schaffen.", wandte ich mich an Logan, der neben mir saß und auf die gegenüberliegende, weiße Wand starrte.
"Ja, könnte ich.", erwiederte er nur ruhig und starrte weiter an die Wand.
Stumm musterte ich sein Profil.
Braune, leicht gelockte Haare, welche ihm ein wenig ins Gesicht hingen. Grau grüne Augen, welche geradeaus an die Wand starrten.
Markante Gesichtszüge, die ihn älter aussehen ließen, als er war.
"Warum gehst du nicht?", fragte ich leise nach, woraufhin er sich langsam zu mir drehte.
"Weil ich dich nicht alleine lasse.", erwiederte er einfach und drehte sich wieder weg.
Weil ich dich nicht alleine lasse...
Das hatte noch nie jemand zu mir gesagt. Jeder ließ mich alleine und versuchte mir auch nicht das Gegenteil klar zu machen. Doch Logan war anders. Logan war von anfang an anders. Er kannte mich nicht und trotzdem hielt er seinen Kopf jeden Tag an die Schusswaffe, welche von Tyler, Devin und Zac auf mich gerichtet wurde. Es war wie russisches Roulette. Nur eine Frage der Zeit, bis die Kugel flog und seinen Schädel zerspengte. Das wusste er. Er musste es wissen, denn jeder wusste es. Es war unweigerlich nicht zu vermeiden, dass man nichts davon erfuhr. Also fragte ich mich: Warum? Warum hielt er seinen Kopf an den Lauf einer Waffe für einen Jungen, den er nicht kannte. Für einen Jungen,  der nichts wert war, für einen unwichtigen Jungen.
"Warum?", sprach ich das Wort aus, welches mich nicht mehr los lassen wollte.
Einige Zeit schwieg er, doch dann öffnete er seinen Mund. Langsam, als hätte er Angst, jedes Wort könnte falsch sein.
"Weil-"
"Herr Dryden, bitte in Behandlungsraum 4."
Perplex schüttelte ich den Kopf und schaute erneut auf Logans volle Lippen, welche allerdings keinen Ton mehr von sich gaben.
Jetzt würde er mir bestimmt nicht mehr antworten. Der Moment war vorbei, wurde durch die Stimme dieser Brünetten unterbrochen. Der Moment war so eigenartig gewesen, kaum zu beschreiben. Ich fühlte mich glücklich, geborgen und wohl, doch gleichzeitig waren da auch die Gefühle der Verwirrtheit und des Unbehagens. Er hatte seinen Satz nicht beendet. Und erneut brannte sich das 'Warum' in meinen Schädel.
"Herr Dryden, in Behandlungsraum 4.", wiederholte die Brünette, die in der Tür stand, nun etwas ungeduldig.
Langsam stand ich auf und folgte der Frau bis wir schließlich vor dem richtigen Raum ankamen.
"Doktor Kennon wird gleich zu ihnen kommen. Gehen sie schon mal rein.", wies sie mich und Logan an, welcher mitgekommen war.
Nickend drückte ich die kalte Türklinke herrunter und betrat den Raum. Mit ein wenig Unbehagen setzte ich mich auf einen der Stühle und Logan lehnte sich gegen die Wand.
Ich sah mich in Raum um. Ich war noch nie in einem Krankenhaus gewesen. Irgendwie hatte ich es immer selbst geschafft meine Wunden zu flicken. Ein Krankenhaus aufzusuchen war nie wirklich eine Option. Das Zimmer war komplett in weiß gehalten, nur der Drehstuhl des Arztes war mit schwarzem Stoff bezogen.
Ich hörte,wie die Tür geöffnet wurde. Ein Mann mitte 30 betrat den Raum. 
"Doktor Kennon.", er lächelte, während er erst Logan und dann mir die Hand reichte.
"Ich denke ihr seid wegen dir hier, richtig?", fragte er mich, mein Gesicht musternd, worauf ich nur nicken konnte.
"Ich seh schon. Setz dich bitte auf die Liege.", wies er mich an, was ich dann auch tat.
Vorsichtig drehte er meinen Kopf in jede Richtung und fragte mich, ob dies mir weh täte. Ich verneinte, woraufhin er nur nickte.
"Ich müsste jetzt deine Mütze abnehmen, das könnte ein wenig an den Haaren ziepen, da schon Teile des Blutes getrocknet sind."
"Machen sie einfach.", gab ich zähneknirschend zurück, woraufhin er vorsichtig meine Mütze anhob. Scharf zog ich die Luft ein. Es ziepte tatsächlich und an der Wunde zog es unangenehm.
"Geht es?", fragte Doktor Kennon nach und hielt kurz inne.
"Ja, geht schon.", erwiederte ich schnell. Ich war weitaus schlimmeres gewöhnt.
Als er mir die Mütze schließlich abgenommen hatte, musterte er meine Wunde. Er berührte einige Stellen meiner Haut und zog ein wenig an manchen Stellen. Warum taten Ärzte das immer? Das tat weh, wann verstanden sie das bitte?
"Wie ist es zu der Verletzung gekommen?", fragte der Doktor beiläufig und tatschte immer noch an meinem Kopf herrum.
"Er wurde verp-", setzte Logan an, doch ich griff entsetzt ein.
"Ich wurde geschubst. Es war nur ein dummer Spaß!"
Logan konnte doch nicht ernsthaft in Erwägung gezogen haben, dass ich die Wahrheit sagen würde!
"Sind sie sich da sicher? Die Wunde zeigt nämlich Anzeichen dafür, dass eine alte Wunde erneut aufgerissen wurde. Sind sie sich sicher nur geschubst worden zu sein?"
Scheiße...
Notlüge... Notlüge!
"Achja, dass hatte ich vergessen zu erwähnen, einige Tage zuvor war ich gestolpert und zog mir dabei eine Kopfverletzung zu. Eigentlich war sie schon gut am heilen, aber jetzt ist sie durch den Aufprall des Falles erneut aufgeplatzt.", erwiederte ich hastig und versuchte ein ehrliches Lächeln auf den Lippen zu tragen, was zugegebenermaßen ziemlich verkrüppelt wirkte.
Der Arzt vor mir zog nur eine Augenbraue hoch.
"Sind sie sich sicher, dass die Verletzungen so zustande gekommen sind? Es sieht mir nämlich eher nach Gewalteinwirkung anderer aus. Werden sie-"
"Ich dachte es geht hier um meine Verletzung und wie mir geholfen werden kann und nicht wie sie entstanden ist!", unterbrach ich den Arzt, bevor er weiter fortfahren konnte.
Er schien noch einmal versuchen zu wollen mit mir über die Entstehung der Wunden zu reden, doch dank meines Killerblicks unterließ er dies.
Statdessen lief er zu seinem Schreibtisch und begann etwas zu tippen.
"Ist etwas Auffälliges nach dem Sturz passiert? Haben sie Gedächtnislücken oder etwas derartiges?"
Halbherzig nickte ich.
"Wie groß sind diese etwa?"
Dies brachte mich zum Überlegen.
Ich lag die Nacht wach. Mein Wecker klingelte. Ich wachte auf. Danach war ich sofort bei Tyler, welcher in meine Magengrube trat.
"Etwa eine Stunde schätze ich.", antwortete ich, worauf der Doktor wieder zu tippen begann.
"Sind noch irgendwelche Beschwerden aufgetreten?"
Ich begann schon den Kopf zu schütteln, als sich Logan einschaltete.
"Ja, er konnte sich zweimal nicht auf den Beinen halten und fiel zu Boden."
Schön, dass er das erwähnte! Ich stehe gerne als das große Opfer da! Zwar war ich das in der Schule und zu Hause, doch noch nicht hier. Fehlte nur noch, dass er ihm erzählte, dass er mich getragen hatte.
"Und er hat kurz das Bewusstsein verloren. So zwischen fünf bis zehn Minuten."
Während Logan alles erzählte, tippte Doktor Kennon mit.
"Hattest du davor oder danach, Kopfschmerzen, Schwindel oder dergleichen ?", frage der Arzt nun und blickte mich kurz an.
"Ja, beides.", erwiederte ich schlicht und spielte ein wenig mit meinen Händen.
"Dann ist von einer Gehirnerschütterung auszugehen.", erwiederte er und nahm nun einen Kulli und einen Block hervor. Auf diesen kritzelte er irgendwas, riss das vorderste Blatt aus und reichte es mir.
"Holen sie diese Tabletten bitte in der Apotheke ab und nehmen sie morgens und abends eine, bis die Packung leer ist. Dazu habe ich ihnen eine Salbe verschrieben. Diese tragen sie vor dem Schlafengehen bitte dick auf und kleben dann ein Pflaster über die Wunde. Das heißt automatisch, dass jeden Abend das Pflaster gewechselt werden muss. Die passenden Pflaster können sie in der Apotheke kaufen. Sie haben Glück gehabt, dass die Wunde nicht genäht werden muss."
Ich nickte.
"War es das?", murmelte ich und wollte mich gerade von der Liege schwingen, als der Arzt den Kopf schüttelte.
"Noch nicht ganz. Ich klebe ihnen noch ein Pflaster auf die Wunde. Danach dürfen sie gehen."
Nachdem ich nickte, holte er ein Pflaster aus einer der vielen Schubladen und kam auf mich zu.
"Achja, sie sollten darauf achten, dass sie in den nächsten 24 Stunden immer in Begleitung einer Person sind, falls Schwindel oder eine erneute Ohnmacht einsetzt.", wies er mich an, während er das Pflaster auf meine Stirn klebte. Mir kam es unendlich groß vor. So, als würde es mein ganzes Gesicht bedecken. Doch eigentlich konnte mir dies nur recht sein, so tat ich zumindest meinen Mitmenschen einen Gefallen.
Langsam schwang ich mich von der Liege.
"Auf Wiedersehen.", lächelte Doktor Kennon, wobei sein Lächeln sehr gekünstelt aussah.
Er reichte Logan die Hand, welchen ich die ganze Zeit über nicht eines Blickes gewürdigt hatte. Ich wusste nicht warum. Vielleicht war es mir unangenehm oder vielleicht hatte ich einfach Angst, wie er mich anschauen würde. Doch vielleicht war es auch gar nichts von beidem. Ich wusste es nicht.
Nun reichte mir Herr Kennon die Hand.
"Auf Wiedersehen.", nuschelte ich, doch er blickte mich nur eindringlich an. Sein künstliches Lächeln war verschwunden.
"Wenn du Hilfe brauchst, kann ich dir die Nummer eines Sozialmitarbeiters  mitgeben. Sie sind immer für einen da und bieten egal welche Art von Hilfe an, wenn du gemobbt wirst, familiäre Probleme hast, oder-"
"Doktor, wir gehen jetzt.", schnaubend fiel ich ihm ins Wort und griff nach Logans Arm.
"Das ist nichts, wofür man sich schämen müsste. Warte, ich schreibe dir die Nummer auf."
Etwas hektisch lief er zu seinem Schreibtisch.
"Auf Wiedersehen.", knurrte ich und zog Logan dann mit mir aus dem Raum. Dieser Arzt war doch verrückt. Ich brauchte keine Hilfe. Ich kam bestens allein zurecht.

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