Kapitel 24
HANNAH
Nachdem ich die Tür hinter mir geschlossen hatte, zog ich meine Schuhe an und rannte die Treppe nach unten. Thomas kassierte Schläge von seinem Vater und ich lief einfach weg. Ich hatte das Klatschen der Ohrfeige immer noch im Kopf. Ich hatte sie förmlich spüren können. Plötzlich erinnerte ich mich an den Tag vor ein paar Wochen, an dem Thommy mit einem Veilchen in die Schule gekommen war. Anscheinend geschah das nicht allzu selten. Sollte ich irgendjemandem Bescheid sagen? Irgendjemanden anrufen? Wenn das öfter passierte, wusste Mike vielleicht davon? Bevor ich realisieren konnte, was ich tat, wählte ich seine Nummer und wartete, bis das Wähl-Geräusch aufhörte und ich Mikes Stimme am andere Ende der Leitung hören konnte.
„Hey, Hannah. Alles ok?", fragte er und ich schüttelte den Kopf, was er natürlich nicht hören konnte.
„Ich weiß es nicht.", gab ich zu.
„Was ist passiert?", fragte Mike. Seine Besorgnis konnte man deutlich hören.
„Also, ich war bei Thommy und dann ist sein Vater gekommen und..." Am anderen Ende des Hörers ertönte ein lautes und vor allem ausgiebiges Fluchen.
„Geht es dir gut?", fragte Mike sofort aufgebracht, was ich als Bestätigung dafür nahm, dass Mike Bescheid wusste.
„Mir schon. Aber ich weiß nicht, ob es Thommy gut geht. Sein Vater war wirklich sehr wütend." Mike atmete laut aus. „Thomas hat mich rausgeschmissen. Er wollte mich nicht bei sich haben. Kannst du irgendwie herausfinden, wie es ihm geht. Ich mache mir wirklich Sorgen um ihn."
„Ich rufe ihn an.", sagte Mike. „Danke für den Anruf. Am Besten, du gehst nach Hause, Hannah. Er schafft das. Thommy ist stärker, als er aussieht."
„Müssen wir das niemandem sagen? Dass er geschlagen wird, meine ich."
„Ich sage ihm das schon so lange, aber er will es nicht. Er ist bald achtzehn. Dann zieht er aus. Bis dahin soll es niemand wissen." Wie bitte? Was meinte er mit schon so lange? Wie lange wusste Mike denn bereits davon beziehungsweise was noch viel wichtiger war, wie lange machte Thomas Vater das schon.
Als wir auflegten, fühlte ich mich furchtbar. Die Worte von Thomas' Vater hallten in meinem Kopf wider. So etwas kleines, dickes würdest du ja ansonsten nicht anfassen, oder? Er hatte Recht, ich war dick und ich war klein.
Ich sah wieder auf mein Handy. Christina kam in eineinhalb Stunden. Ich sollte so langsam nach Hause. Meine Eltern waren drei Tage verreist, also war ich alleine zu Hause, was mir sehr gelegen kam. Ich fühlte mich verdammt elend und ich wollte mich in meinem Bett zu einer Kugel zusammenrollen. Ich nahm mein Feuerzeug aus meiner Tasche, zündetet mir eine Kippe an und machte mich auf den Weg nach Hause.
•••••••
Als ich eine gute Dreiviertelstunde später meine Wohnungstür aufschloss, spürte und fühlte ich eigentlich gar nichts mehr und sackte kurze Zeit später im Bad neben dem Waschbecken zusammen. Ich war dick. Ich war hässlich. Sämtliche andere Dinge, die mir je gesagt wurden, schwirrten durch meinen Kopf. Ich wollte etwas dagegen tun. Chrissy kam erst in einer viertel Stunde. Also holte ich mein kleines, silberglänzendes Feuerzeug, zog meine Hose eine wenig nach unten und begann, die kleine, helle Flamme an meine Haut zu halten. Es dauerte keine fünf Minuten, bis ich mich ansatzweise besser fühlte, mich wieder konzentrieren konnte, aufrichtete, meine Hose wieder anzog und mir einen weiteren Kaffee eingoss. Ich trank ihn in einem Schluck aus, womit ich mir den Mund verbrannte, doch das störte mich nicht wirklich. Es klingelte und ich öffnete die Tür.
Vor der Tür stand eine mir mehr als vertraute, kleine Person mit kastanienbraunen Haaren und Brille. „Hey, Süße!", begrüßte Christina mich und ich lächelte sie an. Sie umarmte mich, ließ ihr Gesicht in meinen Haaren verschwinden und ich drückte mich an sie.
Sie musterte mich von Kopf bis Fuß und ich setzte automatisch ein Lächeln auf. „Möchtest du etwas trinken?", fragte ich schnell und ging in Richtung Küche, doch sie hielt mich am Arm fest. Sie zog mich zu sich zurück. Ich konnte ahnen, was jetzt kam. Ihre Augen verengten sich zu Schlitzen und sie sah mich wütend an. Sie nahm sich eine Strähne meiner Haare und roch an ihnen.
„Bist du komplett bescheuert? Nach acht Monaten? Wirklich? Warum, zum Teufel Hannah, warum?", fragte sie laut und ich zuckte zusammen.
„Beruhig dich Chrissy. Es war nur eine.", versuchte ich sie zu besänftigen, doch sie ging nicht näher darauf ein.
„Was ist passiert?", fragte sie immer noch mit lauter Stimme und ich musste Tränen unterdrücken, die in meinen Augen aufzusteigen drohten.
Ich erzählte ihr von dem Vorfall mit Thommys Vater. Ihre Augen weiteten sich und sie nahm mein Kinn in die Hand. „Ok, honey, hör mir zu! Du bist nicht dick, okay? Du bist nicht mal klein. Außerdem, ist doch scheiß egal, wie groß du bist. Lass dir das bloß nicht einreden!", schimpfte sie und zog mich dann in eine weitere Umarmung. Doch Christina drückte mich erneut von sich weg. Sie ging den Flur entlang, griff auf einen kleinen Beistelltisch, der dort stand und nahm mein Feuerzeug in die Hand. Es war immer noch warm.
„Nur wegen seinem bescheuerten Vater?", fragte sie wütend.
„Lass es gut sein. Bitte Chrissy.", doch die erste Träne lief bereits über mein Gesicht.
„Du sollst mich anrufen verdammt!", sagte sie laut. Ich rollte innerlich mit den Augen. „Verstehst du nicht, dass ich mir Sorgen um dich mache? Seit einem Jahr muss ich zusehen, wie du immer größeren Wert darauf legst, zu sterben und ich kann nichts tun und muss einfach dabei zugucken. Hast du dir mal überlegt wie das für mich ist? Trinken, rauchen, das! Was kommt als nächstes? Gras? Heroin? Tabletten? Guck dich doch mal an!", rief sie.
Ich fixierte sie mit meinem Blick. „Muss das jetzt sein?" Meine Stimme bebte. Ich war mir selber nicht sicher, ob vor Angst oder vor Wut. „Außerdem weißt du ganz genau, dass ich nie im Leben kiffen würde."
„Ach ja? Aber nur wegen ihm. Wenn das nicht gewesen wäre, würdest du es in Betracht ziehen. Sei ehrlich."
„Wenn das nicht gewesen wäre, dann bräuchte ich das alles nicht! Das weißt du! Du hast im vergangenen Jahr so viel für mich getan. Mehr, als ich jemals wieder gut machen könnte. Du hast mich in meinen schlimmsten Momenten gesehen. Versteh doch bitte, dass ich dir nicht dann auch noch zur Last fallen will, wenn ich es vermeiden kann. Ich komme klar, okay?"
„Hannah, das tust du eben nicht, verdammt! Du kommst nicht klar. Sieh dich doch mal an! Du siehst aus, wie eine wandelnde Leiche! Deine Augenringe sind unübersehbar, weil du nicht schläfst. Du verträgst Unmengen an Alkohol, was daran liegt, dass du letztes Jahr so viel und oft getrunken hast. Du hast aufgehört zu rauchen. Letzten Frühling. Und wir hatten eine Abmachung. Jedes Mal, wenn es mit deinen Eltern wieder schlimmer wird, weil die beiden einfach nicht verstanden haben, wie man sich verhält, wenn man nunmal ein Kind hat, wolltest du zu mir kommen oder mich immerhin anrufen. Du wolltest mich anrufen, wenn der Haargummi an deinem Handgelenk nicht mehr ausreicht. Und jetzt guck dich an. Das heute Mittag? Ja, das war bescheuert. Du weiß, auch wenn ich wütend bin, bedeutest du mir die Welt, und es tut mir leid, dass ich grade so ausraste, aber Mädchen, denk doch mal nach! Das ist alles nicht gesund! Du stirbst und lässt die gesamte Welt daran teilhaben." Christina sah mich an. Ich stand mittlerweile weinend neben ihr. Sie hatte Recht. Warum, verdammt nochmal, stimmte jedes einzelne Wort, von dem was sie sagte? Warum konnte ich nicht einfach okay sein?
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