Kapitel 20
HANNAH
Sicher war ich mir nicht. Aber was konnte schon passieren. 'Er könnte dich so weit bringen, ihm zu vertrauen und dich dann alleine lassen. So wie die anderen. Wie jeder andere.' Meine innere Stimme nervte mich, allerdings hörte ich nur all zu oft auf sie. Sollte ich das diesmal auch tun, würde ich allerdings nicht herausfinden können, ob Thomas anders war. Wenn er es jedoch nicht war, würde die Mauer, die ich die vergangen Monate und Jahre um mich herum aufgebaut hatte, noch höher werden. Ich ließ es darauf ankommen.
„Es ist eine verdammt lange Geschichte.", sagte ich. Thomas griff nach meinen Händen. Seine waren warm und groß. Meine versanken regelrecht in ihnen.
„Ich höre zu.", sagte er und sah mich dabei weich, aber bestimmt an. Also begann ich. Ich fing mit der Feier an, bei der Jakob und ich uns kennengelernt hatten. Ich beschrieb die Wirkung, die er damals mit seinen fünfzehn Jahren auf mich gehabt hatte und wie ich naiv genug gewesen war, ihm einfach blind zu vertrauen. Als ich zu dem entscheidenden Part kam, wurde meine Stimme brüchig.
„Hey, ist schon ok. Du musst es mir nicht alles erzählen, wenn du nicht willst.", sagte Thomas und ich merkte erst, als er mir mit seinem Daumen eine Träne aus dem Gesicht wischte, dass ich begonnen hatte zu weinen.
„Nein, ist schon ok.", schniefte ich und fuhr fort. Ich erzählte Thomas, dass er mich betrogen hatte. Mit einem Mädchen, das älter gewesen war, als er, weil ihm nicht mehr gut genug und angeblich zu unreif gewesen war.
Ich hatte einen Kloß im Hals. Einen sehr großen Kloß, der mir die Luft erneut abschnürte. Thomas sah mich entgeistert an. „Als ich das herausgefunden habe, ist eine Welt für mich zusammen gebrochen. Ich meine, wir sind zwei Jahre lang zusammen gewesen. Das ist eine verdammt lange Zeit für unser Alter. An einem Abend sind wir zufällig auf der selben Party gewesen. Irgend eine Home bei irgendjemandem, den Chrissy über ein paar Ecken kannte. Sie hat mich mitgenommen, um mich auf andere Gedanken zu bringen. An sich war das ja auch eine gute Idee. Wir konnten schließlich beide nicht ahnen, dass Jake ebenfalls da sein würde. Berlin ist eine riesige Stadt. Wie wahrscheinlich war es da bitte schon, dass er auch kommen würde? Wir hatten seit Wochen nicht mehr miteinander gesprochen. Als ich ihn dann wieder sah, kamen mir die vergangenen Jahre wieder in Erinnerung und als er mich dann fragte, ob wir noch einmal reden könnten, dachte ich mir nichts dabei. Er wollte sich entschuldigen. Sich erklären. Begründen, warum er getan hatte, was er getan hatte. Wir sind in einen abgelegenen Raum gegangen. Irgendwo im Haus, wo es ruhiger und leiser war. In einen Gang, in dem niemand stand. Mir ist zu spät aufgefallen, dass er viel zu high dazu war, ein anständiges Gespräch führen zu können. Er hat mir nur Vorhaltungen gemacht, anstatt sich zu entschuldigen. Er hat mir Dinge an den Kopf geworfen, die mich mehr als nur verletzt haben. Als ich gehen wollte, hat er...", meine Stimme brach.
Meine Lunge fühlte sich an, als würde sie jede Sekunde explodieren. Mein Magen verkrampfte sich und ich spürte Jakobs Körper förmlich an meinem kleben. Ich keuchte auf und Thomas legte erschrocken seine Hand auf meinen Rücken.
„Gott. Alles ok?" Ich nickte und schloss die Augen. 'Dein Name ist Hannah Elisabeth Veith. Du bist sechzehn Jahre alt. Du lebst in Berlin. Du sitzt an einem See. Jakob ist nicht bei dir. Du bist in Sicherheit. Du bist stärker als das alles.', wiederholte ich innerlich mein Mantra, welches mich durch das letzte Jahr gebracht hatte. Langsam atmete ich aus. Ich sah Thomas wieder an. Er blickte mich sorgenvoll an.
„Jakob hat mich zurückgezogen. Weg von der Tür. Er drückte mich zwischen sich und die Wand. Nicht diese intime Art und Weise gegen die Wand gedrückt zu werden, sondern eher in einer brutalen, gewaltbereiten Art und Weise. Jakob fuhr mit seiner Hand unter mein Shirt und versuche meine und auch seine Hose aufzuknöpfen. Ich versuchte ihn von mir wegzudrücken und schrie ihn an, dass er mich loslassen sollte, doch das tat er nicht. Selbst high ist der Typ irre stark. Christina ist in letzter Sekunde hereingekommen. Als sie mich schreien hörte und sah, dass ich mich gegen Jakob zu wehren versuchte, rannte sie auf uns zu und versuchte ihn von mir wegzuziehen. Dadurch, dass er von ihr gestört wurde, ließ er von mir ab und Christina zog mich, panisch und paralysiert wie ich war, mit sich aus dem Haus zu sich."
Jetzt, wo ich die Geschichte laut ausgesprochen hatte, fühlte ich mich fast besser. Thomas starrte mich verstört an. Er blickte auf meine eiskalten Hände, die immer noch in seinen lagen. Er streichelte mit seinem Daumen über mein Handgelenk. Er sah mich gequält an. Sein Mund öffnete sich, als wolle er etwas sagen, schloss sich dann aber wieder. Er presste die Lippen zusammen und sah zu Boden.
„Das ist das Problem mit Jakob.", sagte ich und schnaufte. Ich spürte, wie schnell mein Herz schlug. Es fühlte sich an, als versuche es sich mit jedem weiteren Schlag noch ein Stückchen weiter auseinander reißen zu wollen. Doch es war schon gebrochen. Wirklich schlimmer machen konnte es die Situation von alleine nicht wirklich.
Thomas sah mich einfach nur an. Er sprach kein Wort. Man konnte ihm ansehen, dass er diese geballte Ladung an Information erst einmal verarbeiten musste. Seine Wangenknochen, die deutlich sichtbar waren, bewegten sich hin und her. Ich wollte wissen, was er jetzt dachte. Ich wollte wissen, was er jetzt von mir dachte. Erneut wischte ich mein Gesicht über meine Schulter. Meine Hände sollten in seinen bleiben, so lange er gewillt war, sie zu halten. Ich fühlte mich irgendwie fast schon geborgen, wenn er mich so minimal hielt. Was machte dieser Kerl bloß mit mir.
„Wie kann er dir das antun, dich zu betrügen, nach zwei Jahren Beziehung? Wie kann irgendjemand einer Person so etwas überhaupt antun? Sowohl jemanden zu betrügen, als auch diese andere Scheiße. Ich meine, was läuft denn bei diesem Typen falsch?", fragte er laut und ich schüttelte den Kopf.
Keine Ahnung. Wenn ich das wüsste, wäre ich wahrscheinlich nicht so, wie ich mittlerweile war. Ich hatte mein Leben nicht unter Kontrolle gehabt. Wenn ich es mir recht überlegte, hatten ich das immer noch nicht. Jakob und die Beziehung im Allgemeinen hatte mich so weit gebracht, mich selber aufzugeben. Ich war nicht mehr die Person, die ich gewesen war, als er mich vor fast drei Jahren angesprochen hatte. In der Zeit war so unglaublich viel passiert und ich hatte so viele Menschen um mich herum verloren. Ich konnte nur hoffe, dass Thomas nicht ein weiterer Name auf der Liste derer, die mich verlassen hatten, werden würde.
„Liebst du ihn noch?", fragte Thomas mich nun unerwartet. Diese Fragen waren extrem. Ich hatte definitiv noch Gefühle für ihn. Wir waren schließlich zwei Jahre lang zusammen gewesen. Ich hatte ihn geliebt. Und ich hatte es auch noch getan, als ich ihn mit ihr zusammen gesehen hatte.
Allerdings war damals ein Teil von mir unwiderruflich kaputt gegangen und das würde ich nie vergessen können. Wenn man eine Person aber wirklich liebte, dann war ein Teil dieser Person immer bei einem. Egal, was passierte. Und ich glaubte, diesen Teil liebte ich immer noch.
Wann immer ich mich an unsere gemeinsame Zeit erinnerte, wärmte es die zerbrochenen Teile in mir für den Bruchteil einer Sekunde auf, bevor es mich wieder auseinander riss und mich daran erinnerte, warum ich den Rest von Jakob eben nicht mehr liebte. Ich liebte die Erinnerungen an ihn. Die Dinge, die wir zusammen gemacht und erlebt hatten. Die Emotionen, die er mich hatte fühlen lassen. Aber ihn? Ihn liebte ich nicht mehr. Der Schmerz über das, was er sich geleistet hatte, überwog meine Gefühle für ihn.
„Nein.", antwortete ich schlussendlich und Thomas blickte auf den See hinaus.
„Hast du geglaubt, Jakob und du wärt für einander bestimmt?"
„Ich habe immer geglaubt, dass wir es wären. Aber jetzt? Ich versuche so sehr, an den guten Momenten fest zu halten und habe mir so lange Mühe gegeben, ihn in meinem Leben zu halten, als schon längst festgestanden hatte, dass wir uns auseinander gelebt hatten."
Dieses Gespräch lief gerade in eine komplett andere Richtung, als ich zu Anfang angenommen hatte. Als er mich vor ein paar Stunden gefragt hatte, ob ich mit ihm hier hinfahren wolle, hatte ich mir meinen Nachmittag weiß Gott nicht so vorgestellt.
„Ich kenne Jakob nicht.", begann Thomas und rutschte noch ein paar Zentimeter näher an mich heran. Meine Hände lagen immer noch in seinen. „Aber ich denke, wenn ich jemanden fände, den ich lieben würde und der den selben Humor hätte wie ich, mit dem man Spaß haben könnte und der das selbe Zeug mögen würde, wie ich, würde ich sie niemals so behandeln."
Ich nickte schwer und stellte mir vor, tatsächlich eine solche Person zu finden. Eine Person, der ich bedingungslos vertrauen könnte und von der ich wüsste, dass sie mich nicht fallen lassen würde. In Gedanken lachte ich mich selber aus. Nie im Leben.
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