Kapitel 18


THOMAS


Sie sah unheimlich traurig aus. „Ich denke, so fertig wie du gestern ausgesehen hast, hast du den Whiskey mehr als gebraucht.", sagte Artur nun hinter ihr und ging wieder zu seinem Platz. Sie sah ihn entschuldigend an und zuckte mit den Schultern. Das war nicht das, was sie gemeint hatte.

„Ist nicht schlimm. Vergessen wir den gestrigen Abend einfach.", bot Mike an und wir nickten alle. Anscheinend war er auch für Julian und Artur nicht der Beste gewesen. Ich sah Hannahs Wange erneut an. Der rote Abdruck bereitete mir immer noch Sorgen. Nicht die normale Art von Sorge, die man sich machte, wenn ein Freund in Schwierigkeiten steckte. Es war ein viel einnehmenderes Gefühl. Es brannte sich ein und verursachte mir ein schlechtes Gewissen. Ich hätte sie gestern doch nach Hause bringen sollen. Vielleicht wäre das dann nicht passiert. Denn soweit ich mich erinnern konnte, hatte sie die Verletzung noch nicht gehabt, als wir zusammen im Fast-Food Restaurant gesessen hatten. Allerdings hatte sie Recht, es ging mich auch wirklich nichts an. Trotzdem hatte ich das Bedürfnis, auf sie aufzupassen. Ich konnte mir zwar nicht erklären, woher es kam, aber ich fühlte mich schlecht bei dem bloßen Gedanken daran, dass sie geschlagen worden war.

Irgendetwas hing in der Luft. Niemand sprach auch nur ein Wort. Die Stimmung war mehr als seltsam und gezwungen.

„Ich denke, ich sollte gehen. Ich hätte nicht kommen sollen. Tut mir leid.", sagte Hannah und stand auf. Sie sah mich an, als wartete sie auf irgendeine Reaktion von mir, doch ich tat nichts. Ich wollte nicht, dass sie ging. Aber auf der anderen Seite hatte ich auch keinen Plan davon, was ich hätte sagen sollen. Wenn ich sie aufhielt, würde es noch seltsamer werden und ich müsste etwas sagen. Ich wusste aber nicht, was genau sie hören wollte. Also sah ich zu, wie sich sich umdrehte und ließ sie die hölzerne Treppe hinunter gehen.

„Ich finde sie seltsam.", sagte Artur, während er auf seinem Handy herum tippte. Ich starrte ihn aus dem Augenwinkel an. Vollidiot. Nachdem wir alle nichts darauf antworteten legte er es neben sich und faltete die Hände vor der Brust. „Ihr etwa nicht?", fragte er verwirrt und Julian zuckte mit den Schultern. „Ey, überlegt doch mal. Das letztens mit Jesse? Und dann jetzt das gestern? Mit der stimmt was nicht.", sagte er und tippte sich gegen die Stirn.

„Du kennst sie doch gar nicht.", beschwerte ich mich. Wie konnte er über sie urteilen, wenn er keine blassen Schimmer davon hatte, wer sie war.

„Ich will sie auch gar nicht kennenlernen, wenn sie so ist.", sagte er und stand auf. „Und jetzt entschuldigt mich, ich hab noch eine Verabredung, wenn ihr versteht, was ich meine." Er grinste uns an, hielt sich eine Hand hinter den Kopf und legte die andere in seinen Schritt. Dieser Typ war krank. Ich verdrehte die Augen.

„Denkst du auch einmal an etwas anderes?", fragte Mike ebenso genervt, wie ich es war und Artur schüttelte grinsend den Kopf. Er drehte sich um und lief die Treppe laut und stampfend nach unten.

Im Gegensatz zu ihm, hatte ich mich vor einem halben Jahr von diesem Leben verabschiedet. Ich hatte keine Lust mehr auf Sex bei jeder sich bietenden Gelegenheit. Zum Teil wegen des ewigen Dramas danach. Vor allem aber, weil ich mittlerweile fast lieber eine richtige Beziehung hätte, als nur einfach mit jemandem zu schlafen. Arturs Ziel schien es allerdings immer noch zu sein, sich durch halb Berlin zu vögeln.

Ich wollte ebenfalls gehen. Ich hatte keine Lust mehr hier drinnen zu sitzen und den wahrscheinlich letzten schönen Spätsommertag dieses Jahres damit zu verbringen, mich über Artur aufzuregen. „Ich geh langsam mal nach Hause. Ich muss noch ein paar Sachen erledigen.", erklärte ich und Mike und Julian nickten verständnisvoll. Also verließ auch ich den Laden und trat auf die Straße hinaus.

•••••••

Es war warm für diese Uhrzeit. Die Sonne stand bereits hoch am Himmel und auf dem Ku'damm herrschte reger Verkehr. Die Autos drängelten sich an der Ampel, die Radfahrer schrieen einander und die Autofahrer um sich herum an und die Fußgänger eilten von einem Geschäft ins Nächste. Es wirkte wie ein riesiger, geschäftiger Ameisenhaufen.

Ich musste nicht nach Hause. Mein Vater hatte am Abend nicht mitbekommen, als ich gekommen war und noch geschlafen, als ich die Wohnung wieder verlassen hatte. Ich hatte heute keine Schicht in dem kleinen Café, in dem ich arbeite, von daher hatte ich den kompletten Tag frei. Die Ampel schaltete gerade auf grün und ich huschte über die Straße, bevor sie wenige Augenblicke später wieder rot wurde. Vor der Gedächtniskirche setzte ich mich auf eine der Steinbänke im Schatten. Was sollte ich mit meiner freien Zeit tun.

Ein paar Meter von mir entfernt fiel mir eine kleine, blonde Person auf, die, den Kopf in den Nacken gelegt, an einem Baum lehnte und an ihrem Handgelenk herumfummelte. Ich ging auf sie zu.

„Hannah?", fragte ich, doch das Mädchen reagierte nicht. Ich wollte mich schon wieder umdrehen, als sie sich die Haare aus dem Gesicht strich. Es war doch Hannah. Sie hatte Kopfhörer in den Ohren und die Augen geschlossen. Sie wirkte fast friedlich, bis auf den Fakt, dass sie das Haarband immer aggressiver gegen ihren Arm klatschen ließ. Ich tippte ihr leicht auf die Schulter. Sie zuckte zusammen, trat ruckartig einen Schritt von mir zurück und riss sich einen Kopfhörer aus dem Ohr.

„Tut mir leid. Ich wollte dich nicht erschrecken." Hannah starrte mich mit einer Mischung aus Verwirrung, Erschrecken und Frustration an. Ich hätte sie nicht ansprechen sollen.

„Nein, schon gut. Was ist denn?", fragte sie nun und steckte die Hände in die Taschen ihrer schwarzen Jeansjacke. Ja, das war die Frage. Was war denn? Was genau war meine Mission gewesen, als ich auf sie zugegangen war?

„Äh.", stammelte ich. Ok, seltsame Situation. Wie konnte ich die jetzt noch retten. „Ich wollte fragen, ob wir heute etwas zusammen machen wollen.", sagte ich. Ach ja, wollte ich das? Sie sah mich skeptisch an.

„Was denn? Etwas von der Liste?", fragte sie. Genau, was wollten wir denn machen. Ich sollte wirklich erst nachdenken, bevor ich handelte oder sprach. Was stand denn noch auf der Liste, was wir heute machen könnten.

„Heute ist es warm. Wir könnten zum Schlachtensee.", schlug ich vor. Sie musterte mich skeptisch. Sie öffnete den Mund, als wolle sie etwas sagen, schloss ihn kurz darauf aber wieder.

„Du willst mit mir schwimmen gehen?", fragte sie verwirrt und zog eine Augenbraue nach oben. „Na gut. Meinet wegen. Na dann lass uns gehen."

Wir liefen zur nächsten S-Bahn Station und setzten uns nebeneinander in einen der Wagons. Sie holte ihre Kopfhörer wieder aus ihrer Tasche, steckte sie in ihr Handy und lehnte ihren Kopf ans Fenster. Ich scrollte durch mein Handy und vertrieb mir die Zeit. Ihr Handydisplay leuchtete auf und ich konnte nun endlich den Spruch lesen, der kursiv und geschwungen auf ihrem Hintergrundbild stand. Es waren mehrere Fotos von ein und dem selben Mann in verschiedenen Blautönen. Darüber stand in gelben Buchstaben: Stop your crying, baby, it's the sign if the times. Welcome to the final show. Hope you're wearing your best clothes. Irgendwoher kannte ich das Gesicht. Hannahs Musik war laut. So laut, dass ich die Stimme des Sängers ebenfalls hörte. Wir mussten umsteigen und sie zog sich einen der Kopfhörer aus den Ohren.

„Hast du eigentlich Badesachen dabei?", fragte sie mich in dem Moment und ich überlegte kurz. Zum Glück hatte ich mir heute morgen meine Badeshorts angezogen, anstelle einer normalen Hose. Ich bejahte die Frage also.

„Du auch?" Als Antwort bekam ich ein Nicken.

•••••••

Als wir eine gute halbe Stunde später endgültig aus der Bahn stiegen und uns den Weg durch die Menge an Menschen am Bahnsteig gedrängelt hatten, traten wir aus dem Bahnhofsgebäude hinaus. Vor uns lag ein Zebrastreifen über den gerade eine Gruppe Kinder lief. Sie hatten alle gelbe Warnwesten an und liefen in Zweierreihe hintereinander her. Wir überquerten die Straße und überholten die Kleinen mit samt ihrer Aufsichtspersonen. Sie sahen super genervt und angestrengt aus.

Wir gingen ein kurzes Stück durch den Wald, bevor wir eine kleine Steintreppe hinunter gingen. Wir liefen ein paar Minuten schweigend nebeneinander her, bevor sie das Wort erhob.

„Warum machst du das hier? Ich habe gesehen, wie du mich gestern den ganzen Abend über angeschaut hast und. Ich weiß, dass ihr vier jedes einzelne Wort eben mitbekommen habt. Und ich weiß, dass du weißt, mit wem ich gesprochen habe. Du bist nicht dumm und ich bin es auch nicht. Also, warum machst du das hier?", fragte sie leise und sah mich zögerlich an. 

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