Gefühlsausbrüche

»Könnt ihr mir mal verraten, wo ihr gewesen seid?« Ich hörte Deans laute und wirklich wütende Stimme schon als ich gerade erst durch die Tür in den Bunker trat.
Er sah definitiv nicht glücklich aus und ich schluckte schwer, als ich auf ihn zu ging.
»Hi Dean«, begrüßte ich ihn kleinlaut. »Bevor du etwas sagst! Wir waren bei einem Fall. Es war nur ein ganz kleiner. Eine Gruppe Jugendlicher wurde von ihrem ehemaligen Kumpel schikaniert. Es ist niemand getötet worden. Der Geist war harmlos.«
Ich klang wie ein Teenie, die ihrem wütenden Vater erklärte, dass die Party gar nicht so wild war, wie er gedacht hatte und sie auch gar keinen Alkohol hatte trinken wollen. Es war einfach so passiert. Aber genau wie ein Vater bei seiner Teenie-Tochter, reagierte auch Dean auf meine Erklärung. Mit absolutem Unverständnis.

»Und da habt ihr beschlossen, einfach mal das Leben meines Sohnes aufs Spiel zu setzen?!«
Entsetzt riss ich die Augen auf. »Nein! Natürlich nicht! Ich hätte doch niemals das Leben von jemandem aufs Spiel gesetzt. Schon gar nicht von ihm!« Lautstark versuchte ich mich zu verteidigen, während mir mal wieder die Tränen in die Augen stiegen.

Natürlich war ich sehr darauf bedacht gewesen, mich nicht als Zielscheibe in irgendeinen Fall zu stürzen. Immerhin war dieser Fall absolut eindeutig und Sam hätte mich nie einer echten Gefahr ausgesetzt. Auch wenn ich kurz daran gedacht hatte, dass die Engel mich finden konnten, aber ich hatte doch diese Sigillen. So schnell fanden sie mich dann doch nicht.
Deans Worte schmerzten deshalb wie Messerstiche.

»Ach nein? Das sehe ich anders! Was genau ist das da an deiner Stirn, wenn der Fall doch so harmlos war?« Dean kam auf mich zu und packte harsch mein Kinn, um meinen Kopf zu drehen und sich meine kleine Platzwunde genauer anzusehen. Ich kniff die Augen zusammen, wehrte mich aber nicht dagegen.
»Dean, es war ein Geist, der anderen ein paar fiese Streiche gespielt hat. Keine Horde von blutrünstigen Wendigos. Komm mal runter!«, entgegnete Sam und hob beschwichtigend seine Hände. »Die Wunde war schnell versorgt und ihr geht es gut. Es ist nichts passiert.«

»Ja na klar. Und die Horde von Engeln, die hinter Sherin wegen des Babys her sind, habt ihr einfach mal kurz ausgeblendet, oder was? Was stimmt denn nicht mit euch?« Deans Stimme war mit jedem Wort lauter geworden und sein Gesicht hatte inzwischen eine ziemlich dunkelrote Farbe angenommen. Immerhin hatte er mein Kinn inzwischen losgelassen.

»Dean, ich...« Damit wollte ich das Wort ergreifen, aber er würgte es sofort ab.
»Nein, Sherin. Ich hätte dir mehr zugetraut. Oder war das Gerede von wegen 'Ich will niemanden mehr einer solchen Gefahr aussetzen, deswegen arbeite ich lieber allein' doch nur heiße Luft? Du hast meinen Sohn in Gefahr gebracht, verdammt nochmal!«

Wow, das haute mich echt um. Ich musste mich wirklich bemühen, dass mir meine Gesichtszüge nicht vollständig entglitten. Dean hatte recht gehabt. Ich hatte unseren Sohn wissentlich gefährdet und das nicht einmal, weil ich es musste. Mir war einfach langweilig und damit hatte ich definitiv gegen meine eigenen Prinzipien verstoßen.

Nicht einen Ton hätte ich mehr mit klarer Stimme herausbringen können und deshalb machte ich auf dem Absatz kehrt und verschwand in mein Zimmer. Dort ließ ich mich auf das Bett sinken und vergrub mein Gesicht in meinen Händen. Nun hielt mich nichts mehr davon ab, meinen Tränen freien Lauf zu lassen. Es kam mir vor wie ein Déjà-vu und am liebsten hätte ich geschrien, weil ich es nicht durchbrechen konnte.

҉

»Tolle Leistung Dean!«, ermahnte Sam seinen großen Bruder, nachdem Sherin den Raum verlassen hatte und das alles andere als glücklich.
»Halt einfach die Klappe«, brummte er, während seine Wut durch Sherins letzten Anblick bereits verrauchte.
Er öffnete eins der Biere, die noch ungeöffnet neben den leeren Flaschen auf dem Tisch standen, setzte sich und nahm einen Schluck.

»Nein, jetzt hältst du mal die Klappe!«, brauste sein kleiner Bruder plötzlich auf. »Siehst du eigentlich, wie es Sherin geht? Sie sitzt hier fest, tagein tagaus und kann nichts tun, um euren Sohn zu schützen, während du in der Weltgeschichte herumfährst, ohne ein echtes Ziel vor Augen und jeden Engel abschlachtest, der dir zwischen die Finger kommt. Sie ist Jägerin Dean, aber im Moment fühlt sie sich vollkommen nutzlos, während du durchdrehst. Sie darf den Bunker nicht verlassen, darf dir nicht helfen. Was meinst du denn, was in ihr vorgeht? Ich wollte ihr ein Stück Normalität zurückgeben. Außerdem bin ich nicht dumm. Ich hätte die beiden niemals einer echten Gefahr ausgesetzt. Der Fall war ein Kinderspiel. Das hätte ich damals in der Grundschule schon hinbekommen. Die Platzwunde war ein kleiner Zwischenfall, den wir sofort wieder unter Kontrolle hatten.« Sam machte eine kurze Pause, in der er für einen Moment Luft holte, ehe er weitersprach.
»So hatte Sherin endlich wieder etwas zu tun und du wirfst ihr vor, nicht auf deinen Sohn zu achten? Es ist auch ihr Kind, falls du das vergessen hast. Und glaub mir, sie liebt den Kleinen mehr als du dir vorstellen kannst. Sie würde ihn niemals absichtlich gefährden. Sie hat sich unheimlich Vorwürfe gemacht, sie könnte eine schlechte Mutter sein, weil sie Jägerin ist. Sie macht sich Sorgen, dem Kleinen nicht das Leben geben zu können, das er verdient und allein das macht sie schon zu einer besseren Mutter, als manch andere. Also wenn du jemandem die Schuld geben willst dann mir.«

Während Sams glühender Rede war Dean immer mehr in sich zusammengesunken. War er wirklich unfair ihr gegenüber gewesen? Er machte sich doch nur Sorgen, dass den beiden etwas geschah. Er würde es sich nie verzeihen, wenn Sherin in die Finger der Engel gelangte und sie mit ihr Gott weiß was für Experimente machten, bis sie den Kleinen in ihren Händen hielten. Vielleicht hatte Sam recht und er hatte überreagiert.
»Es wäre trotzdem schön gewesen, wenn ihr wenigstens einen Zettel dagelassen hättet. Ich dachte schon, sonst was wäre passiert«, rechtfertigte er sich.

Eigentlich wollte Dean sich nicht eingestehen, dass er überreagiert hatte. Denn wenn er das einsah, musste er auch zugeben, dass es ihm nicht nur um das Baby gegangen war.
»Du solltest nochmal mit Sherin sprechen. Das was du eben gesagt hast, war jedenfalls unter der Gürtellinie. Vor allem, weil ich weiß, dass sie dir mindestens genauso wichtig ist wie das Baby. Du musst es nur einsehen.« Und damit sprach Sam seine Gedanken laut aus. Jetzt konnte er sich wirklich nicht mehr davor drücken. Dean seufzte.

»Falls sie überhaupt noch mit mir sprechen will«, murmelte er vor sich hin und starrte auf sein Bier.
»Sprich mit ihr Dean!« Sams Stimme war eindringlich und ließ keine Widerworte zu.
Dean sah seinen kleinen Bruder an, der sich jetzt auch ein Bier vom Tisch nahm und nickte langsam.
Dann stand der ältere auf und machte eine Tasse Tee. Mit dem Tee und seinem Bier ging er schließlich zu Sherins Zimmer und hoffte, dass sie ihn rein ließ. Er hatte sich benommen wie ein Riesenarsch und das sollte er wohl lieber sobald es ging wieder gut machen. Falls das überhaupt noch möglich war.
Er sollte wahrscheinlich ehrlich mit ihr sprechen. Über seine Sorgen und seine Gefühle ihr gegenüber. Denn Sam hatte nicht ganz unrecht. Er hatte welche für sie, auch wenn er nicht sagen konnte, wie weit sie bisher reichten und worauf sie basierten.

҉

Meine Schluchzer waren inzwischen halbwegs abgeebbt, aber das schlechte Gefühl in meiner Brust war geblieben. Dean hatte recht gehabt. Ich hätte mich und den Kleinen niemals so in Gefahr bringen dürfen. Die Engel waren überall und wer wusste schon, ob sie nicht um die nächste Ecke bereits darauf lauerten, dass ich einen Fehler machte.
Dean hatte also eigentlich alles richtig gemacht, als er dafür gesorgt hatte, dass ich den Bunker nicht mehr verließ. Ab sofort würde ich mich also daranhalten und mich zurücknehmen. Egal wie schwer es mir fiel.

Das leise Klopfen an meiner Tür riss mich aus meinen Gedanken. Am liebsten hätte ich nichts gesagt und mich einfach unter meiner Decke verkrochen. Aber als es erneut klopfte, gab ich mir einen Ruck.
»Komm rein«, krächzte ich und war mir bereits sicher, dass es Dean sein würde, der gleich die Tür öffnete. Denn das Klopfen kannte ich schon.

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