Ein Feuer und der Weg zurück

»Wo ist die Figur?«, fragte ich und sah mich suchend um. Schwindel ergriff mich und ich schloss die Augen. »Verdammt, Nathan!«
»Meinst du, das war der Junge?«, fragte Sam und ich nickte.
Etwas anderes konnte es nicht gewesen sein. Immerhin waren wir ganz allein und nicht mal ein Lüftchen wehte über das Feld.
»Wenn du mich nicht geschubst hast, wird er es wohl gewesen sein.«

»Okay, dann bleib hier sitzen. Die Figur liegt da hinten im Gras. Ich verbrenne sie und dann können wir zurück in den Bunker fahren. Du hast eine kleine Platzwunde. Die sollten wir versorgen.«
Auch wenn ich gern widersprochen hätte, ließ ich Sam machen. Er stand auf und entfernte sich einige Schritte von mir. Dann bückte er sich und hob die Figur auf.

Plötzlich erschien ein Junge direkt vor mir. Er hockte im Gras und sah mich aus seinen großen dunklen Augen traurig an.
»Nathan«, flüsterte ich. Ich erkannte ihn sofort von den Bildern in Mrs. Stevens Flur. Er war ein hübscher Junge und sah seiner Mutter unheimlich ähnlich.

»Bitte, lass nicht zu, dass er mich wegschickt«, flehte der Junge und brach mir mit diesen paar Worten das Herz.
Er wirkte so verzweifelt und das schmerzte mich. Er hatte den Tod definitiv nicht verdient.
»Ich wollte dir nicht weh tun. Bitte! Lass es nicht zu.«
Hinter dem Jungen konnte ich sehen, wie Sam einen Finger an seine Lippen legte. Ich sollte ruhig sein, dann wäre er gleich fertig und der Junge wäre weg.

»Ist schon gut, Nathan. Du hast mir nicht wehgetan. Das ist nur eine kleine Schramme«, flüsterte ich und meinte es tatsächlich so.
Für einen Moment wollte ich Sam zurufen, er solle den Jungen in Ruhe lassen. Das arme Kind konnte schließlich nichts dafür, dass er noch hier war. Allerdings wusste ich auch, dass Nathan nicht freundlich blieb, wenn er hierbleiben würde. Immerhin wurden Geister immer rachsüchtiger, je länger sie auf Erden weilten. Und dass das eben ein Unfall war, bezweifelte ich sehr. Selbst wenn er mich nicht ernsthaft verletzen wollte. Und trotzdem berührten mich diese traurigen Augen.

Als Sam das Feuerzeug klicken ließ, drehte Nathan sich mit wütendem Blick um und bestätigte meine Vermutung.
»Es wird dir gleich besser gehen. Gleich wird alles gut sein, Nathan«, sagte ich und sah dabei zu, wie Sam das Feuerzeug fallen ließ und Nathan gleichzeitig auf ihn zustürmte. In dem Moment, als die Figur Feuer fing, ging auch der Junge in Flammen auf. Ein kurzer Schrei und alles war vorbei.

»Geht es dir gut?« Sam saß nun in ähnlicher Position vor mir wie Nathan nicht einmal zwei Minuten zuvor.
»Ich glaube schon. Es tut nur noch ein bisschen weh.« Ich versuchte mich an einem Lächeln, scheiterte aber kläglich.
»Sicher? Du weinst nämlich«, stellte Sam fest.
Ich hob meine Hand und wischte über meine Wangen. Tatsächlich. Die Tränen rollen vereinzelt über meine Wangen.
Das Schicksal des Jungen ging mir doch näher als ich dachte. Und Trotzdem war ich Sam so unglaublich dankbar dafür, dass er mich zu diesem Fall mitgenommen hatte. Ich war mir über einiges klar geworden. Vor allem darüber, dass ich alles dafür tun musste, um meinen Sohn zu schützen.

Ich ließ Sam auf dem Rückweg fahren. Es war sicherer, immerhin wusste ich noch nicht wie stark ich auf den Kopf gefallen war.
»Danke«, sagte ich nach einer Weile. »Danke, dass du das für mich gemacht hast.«
Diesmal schaffte ich es, ehrlich zu lächeln.
»Gerne, es tut mir allerdings echt leid, wie es ausgegangen ist. Wie geht's deinem Kopf?« Sam sah mich kurz an, ehe er sich wieder auf die Straße konzentrierte.
»Besser denke ich. Platzwunden gehören ja schon fast zum Programm, wenn ich einen Fall mit einem von euch bearbeite«, sagte ich locker und grinste.
»Stimmt, da war was.« Auch Sam hatte ein Grinsen aufgelegt. »Wobei ich mich eher mit der Platzwunde am Boden liegen sehen habe. Zumindest als ich diese furchtbare Strickleiter hochgeklettert bin.«

Ich wusste, dass er mich damit etwas ablenken wollte und es klappte. Der Gedanke an ihn auf dieser Leiter ließ mich sofort wieder lachen. Es hatte einfach zu grotesk ausgesehen. Dieser große und breite Mann auf der kleinen Kinderleiter und wie unsicher er da hinaufgeklettert war.
»Lach du nur.« Sam lächelte ebenfalls und wirkte wieder etwas gelöster.

Vermutlich hatte er sich die Schuld an meiner Platzwunde gegeben, aber das sollte er nicht. Immerhin hatte ich entschieden, mit ihm zusammenzuarbeiten und deshalb traf nur mich selbst die Schuld an meiner Verletzung.

»Ich glaube übrigens wirklich, dass du eine gute Mutter wirst. Ich hatte das nicht nur so gesagt«, ergriff Sam das Wort nach erneuten Minuten der Stille.
Ich lächelte schwach. »Danke. Ich stelle mir nur die Frage, wie ich eine gute Mutter sein kann, wenn ich meinem Sohn kein gutes Leben bieten kann. Er hat kein stabiles familiäres Umfeld, ganz zu schweigen von einem Umfeld an sich. Ich meine, ich habe keinen festen Wohnsitz, abgesehen von der Hütte meiner Eltern in Montana. Und das kann man nicht wirklich als ein Zuhause bezeichnen. Außerdem wird er niemals in Sicherheit sein, weil sein Vater ein verdammter Auserwählter Gottes ist. Und Dean kann mich nicht mal mehr richtig ansehen, geschweige denn mit mir sprechen. Wie soll ich da eine gute Mutter sein?«

Ich war selbst davon überrascht, was da plötzlich aus mir herausbrach, aber scheinbar musste ich meinem Frust einfach mal Luft machen. Dean hatte zwar eine Nacht neben mir geschlafen, aber darüber gesprochen hatten wir nicht. Auch nicht darüber, wie es mit uns weitergeht. Obwohl es eigentlich auch nichts gab, das hätte weitergehen können. Immerhin hatte nie etwas angefangen, bevor ich schwanger geworden war.

»Das alles zeichnet eine gute Mutter für mich nicht aus, Sherin. Ich finde, was du für Nathans Mutter getan hast und was du gerade auch für Nathan selbst getan hast– Ich meine, du bist so empfindsam und mit Jackson warst du toll. Jugendliche können so eigensinnig sein, aber dich schien er zu mögen, obwohl du nur ein paar Worte an ihn gerichtet hast.« Grinsend schielte Sam mich von der Seite an. »Du scharfes Gerät.«
Ich lachte kurz auf.
»Es reicht nicht, ein scharfes Gerät zu sein, Sam«, tadelte ich ihn. »Außerdem würde ich auch gern etwas tun können, um unseren Sohn zu schützen. Dean ist fast vierundzwanzig sieben unterwegs, um einen Weg zu finden, uns zu schützen. Aber ich kann nur dasitzen und darauf warten, dass er zurückkommt und endlich mit mir spricht.«

»Ich verstehe was du meinst, aber Dean versucht nur euch zu schützen.«
Seufzend sah ich aus dem Fenster. »Ich weiß.«
Dann fuhr ich vorsichtig mit den Fingerspitzen über die kleine Platzwunde an meiner Stirn. »Es tut nur irgendwie weh.«
»Soll ich anhalten und mir die Wunde nochmal ansehen?«, bot Sam an, aber ich winkte ab.
»Die Wunde meinte ich nicht«, erwiderte ich leise, ohne ihn anzusehen.

»Okay, verstehe. Dean wird irgendwann zu Vernunft kommen. Ich würde dir gern anbieten, mit ihm zu sprechen, aber in seinem momentanen Zustand wird das nicht viel bringen. Er muss selbst draufkommen, dass es Quatsch ist, was er tut.« Sam sah mich ein wenig bedauernd aus dem Augenwinkel an.
Mitleid war das letzte was ich wollte, aber es hatte trotzdem gutgetan, es ihm zu sagen. Auch wenn ich nur ungern über meine Gefühle gegenüber seinem Bruder sprach, hatte ich nicht zu viel verraten. Außerdem musste ich selbst noch herausfinden, wieviel ich wirklich für ihn empfand und wieviel davon auf die Schwangerschaft und meinen Wunsch nach Geborgenheit und einer intakten Familie zurückzuführen war.

»Ruh dich ein bisschen aus. Wir werden bald wieder zuhause sein.«
Zuhause – das war ein großes Wort für den Bunker, aber ich verstand, dass Sam ihn als solches ansah. Viel näher an ein Zuhause würde ein Jäger nie kommen. Da war ich mir sicher.

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