Räuber und Gendarm

Bleuciels Kraftausdruck hatte die Aufmerksamkeit einiger Passanten auf sich gezogen, welche sich gleichwohl fragten, was ihn dazu bewogen haben mochte. Sie hofften es im Gesicht des vermeintlichen Händlers ablesen zu können, doch war Bleuciels Miene im nächsten Augenblick wieder erstarrt. Insgeheim schämte er sich dessen, als Dieb beraubt worden zu sein. Wie sich die Opfer nach solch einer Tat fühlen mussten, erfuhr er jetzt am eigenen Leib.

Nachdem der Blonde seinen ersten Schock wie ein Gemäuer überwunden hatte, lief er in die gleiche Richtung, in die auch der Gauner geflüchtet war. Nahezu hektisch sah Bleuciel sich dabei um, als hätte das Ereignis erst vor wenigen Sekunden stattgefunden, doch alles was er vorfand, war eine Aneinanderreihung von kleinen Häuschen, die noch friedlich vor sich hinschlummerten.

War es denn möglich, dass keiner auf den Raub aufmerksam geworden war? Dem Anschein nach schon, worüber Bleuciel eigentlich froh sein sollte. Andernfalls hätte man auch ihn des Diebstahls bezichtigen müssen.

Mit einem Seufzen kehrte Bleuciel über die holprig gepflasterte Straße wieder zurück. Der Schurke – der ihn so dreist bestohlen hatte – war vom Erdboden verschluckt worden, ebenso wie seine zwei Francs. Ihnen nachzutrauern, würde Dubois keine Erleichterung verschaffen. Das Gegenteil wäre eher der Fall. Die dreißig Sous waren somit sein einziger Trost, hatte es doch Zeiten gegeben, in denen Bleuciel schon mit weniger auskommen musste.

Da sich sein Magen nicht um den Inhalt der Börse scherte, knurrte dieser demonstrativ vor sich hin und erinnerte den Dieb schmerzlich daran, dass das Essen ein Bestandteil seines Lebens war. Für ein Mahl sollte das Geld gerade noch ausreichen, weshalb sich Bleuciel notgedrungen an einen der umherlaufenden Passanten wandte.

„Verzeiht, Monsieur", sagte er zu einem Mann, den er – des ledrigen Geruchs wegen – für einen Gerber hielt. „Können Sie mir sagen, wo sich die nächste Herberge befindet?"

„Gewiss", brummte der Mann durch seinen geschwungenen Schnäuzer. „Sie müssen bloß der Straße dort folgen. Das Schild der Herberge ist nicht zu übersehen."

„Habt Dank."

Ohne Umschweife lief Bleuciel die schmale Straße hinauf. Dabei vernahm er die Geräusche des Schmieds, der unentwegt auf das Eisen hämmerte. Hinzu gesellte sich der Gestank von Pferdemist, was auf einen nahegelegenen Stall schließen ließ. Wenige Minuten später erreichte Dubois das Gebäude, an dessen Außenwand ein großes Holzschild hing. Die Buchstaben darauf waren über die Jahre hinweg etwas verblasst, offenbarten jedoch, dass es sich hierbei um die gesuchte Gaststätte handelte. Zügig trat Bleuciel hinein.

„Guten Morgen, Monsieur", grüßte der Wirt, nachdem der Gast über die Schwelle getreten war. „Wünschen Sie zu frühstücken?"

Wie eine Dunstwolke hing der Geruch von Essen im spärlich beleuchteten Raum.

„Ja Monsieur", antwortete der Dieb, dem schon jetzt das Wasser im Munde zusammenlief.

Zu seinem Glück war außer ihm kaum jemand zugegen. Die massiven Holztische waren größtenteils leer. Die Spuren darauf verdeutlichten jedoch, dass hier häufig gespeist, getrunken und gefeiert wurde, was sich anhand von eingetrockneten Flecken, sowie kleineren Holzabnutzungen unschwer erkennen ließ.

Nebenher streifte Bleuciel den Korb von seinem Rücken, welchen er anschließend an einen dieser Tische lehnte. Dabei warf er einen knappen Blick auf den Kamin. Er lauschte dem Knistern des Feuers, nahm kurz darauf Platz und entdeckte zugleich ein Gendarm, bei dessen Erscheinung der Dieb ein deutliches Unbehagen verspürte.

Ihre Tische standen sich gegenüber, weshalb kein allzu großer Abstand zwischen ihnen lag. Bleuciels Instinkt riet ihm dazu, sich anderweitig hinzusetzen, doch mahnte ihn sein Verstand es nicht zu tun. Jede unbedachte Handlung könnte dem Dieb zum Verhängnis werden.

Obwohl hier niemand sein wahres Wesen kannte, fürchtete Bleuciel stets um den Scharfsinn der Polizei. Ihr natürliches Misstrauen glich einer Waffe, mit der sie geschickt umzugehen wussten. Hin und wieder genügte ein durchdringender Blick, um einen Gesetzlosen zu entlarven und geradewegs in die Knie zu zwingen. Wenn das nicht half, stellten sie eine Reihe von unvorhergesehenen Fragen, die einen ins Stottern brachten oder gar in Widersprüche verwickelten.

Auch Bleuciel hatte sich solchen Konversationen schon entgegenstellen müssen. Selbst wenn man ihm nicht auf die Schliche gekommen war, hatte er sich nach solch einer Begegnung immer hundeelend gefühlt. Da schien es nicht allzu verwunderlich, dass ihm die Nähe zu dem Gendarmen ein gehöriges Unwohlsein bereitete.

Plötzlich – als hätte der Uniformierte Bleuciels Gedanken gelesen – starrte dieser wie ein Raubtier zu ihm hinüber. Bleuciel erwiderte den Blick, um sich keines Argwohns schuldig zu machen. Die Erfahrung hatte ihn gelehrt, dass man sich stets zu behaupten hatte. Wer nichts verbrochen hatte, der brauchte auch nicht die Blicke eines Polizisten zu fürchten. Mit diesem Gedanken im Hinterkopf hielt Bleuciel dem stillen Verhör stand, als dem Gendarmen mit einem Mal ein Rülpsen über die Lippen kam.

In Bleuciel machte sich Verwunderung breit. Er bemerkte den Krug, der vor dem Polizisten auf dem Tisch stand und fragte sich, ob dieser zu solch früher Stunde schon mit Alkohol gefüllt war. Ein weiteres Rülpsen bekräftigte Dubois in seiner gestellten Mutmaßung. Offensichtlich war der Gendarm derzeit nicht im Dienst. Aus welchem Grund er schon jetzt dem Genuss von Alkohol verfiel, blieb allerdings ein ungelöstes Rätsel.

„Ihr Frühstück, Monsieur", sagte der Wirt, womit er Bleuciel aus den Gedanken riss.

Die Grübelei um den Gendarmen musste viel Zeit in Anspruch genommen haben. Wie sonst erklärte sich der Umstand der fertigen Speise, die aus Brot, Spiegeleiern und Speck bestand?

Der Gastwirt selbst machte auf Bleuciel nämlich nicht den Eindruck, als gehöre dieser zur eifrigen Sorte Mensch. Zumindest sprach der rundliche Bauch, mitsamt des schläfrigen Gesichtsausdrucks gehörig dagegen.

„Habt Dank", entgegnete der Dieb, der das Mahl wie ein aufrichtiger Bürger bezahlte.

Während er aß, galt seine Aufmerksamkeit erneut dem betrunkenen Polizisten. Dieser hing mittlerweile über dem Krug, als könne er darin etwas Wertvolles finden. Bei weiterer Beobachtung erspähte Bleuciel den Schlüssel, den der Gendarm an seiner Hüfte trug. Ein wertvoller Gegenstand, mit dem sich Fußfesseln und vereinzelte Zellentüren öffnen ließen. Wäre Bleuciel im Besitz dieses Schlüssels, stünden ihm neue Möglichkeiten offen. Zu verlockend war die Gelegenheit, um sie verstreichen zu lassen. Wer könnte schon sagen, wann Bleuciel dem nächsten betrunkenen Polizisten begegnen würde?

Geduldig harrte der Gesetzlose auf seinem Platz. Der Teller war bereits leer, doch war nicht klar, wann sich für ihn die perfekte Gelegenheit ergeben würde. Um seinen weiteren Aufenthalt in dem Gasthaus zu rechtfertigen, bestellte sich Bleuciel noch einen Krug Milch, bis sein Opfer die ersten Anstalten machte, sich zu erheben. Schnell tat Bleuciel es ihm nach, um in die Nähe des ahnungslosen Mannes zu gelangen. Wie zu erwarten, schwankte dieser wegen des Alkohols ein wenig umher, sodass er unbeabsichtigt mit Dubois aneinanderstieß.

„Verzeiht, Monsieur", entschuldigte sich Bleuciel, wobei seine geschickten Finger im selben Atemzug den Schlüssel des Polizisten entwendeten.

„Wer da?", maulte der Uniformierte, dessen säuerlicher Atem Dubois die Tränen in die Augen trieb. „Lasst mich durch. Ich bin das Gesetz!"

Ein Gesetz, das nicht sehr viel Wert auf eine saubere Uniform zu legen schien. Sie wies ein paar feuchte Flecken auf und wirkte auch sonst etwas mitgenommen. Vielleicht spiegelte sie auch bloß den Zustand ihres Besitzers wider, dessen schwarzes Haar in alle Richtungen verstreut war. Sie ergänzten sich auf hervorragende Weise, so viel stand fest.

Mit einer sanften Verbeugung trat Bleuciel rasch ein paar Schritte zurück. Er entschuldigte sich ein weiteres Mal, bevor er sich die Kiepe auf den Rücken lud. Anschließend trank er den Rest seiner Milch und verließ die Herberge mit einem kostbaren Schlüssel in seinem Besitz.

Jetzt, wo auch sein Magen endlich zufriedengestellt war, brauchte Bleuciel dringend etwas Geld. Das Mahl hatte seine einst vorhandenen dreißig Sous auf ein Minimum reduziert. Somit brauchte der Dieb einen Platz, an dem er seinen Tragekorb vorübergehend verstauen konnte, da ihn dieser bei seinen Diebstählen nur behindern würde.

Zügig verließ Bleuciel die Stadt, um in deren Nähe nach einem geeigneten Gebüsch zu suchen. Zu seinem Glück fand er einen Strauch, in dem er seine Kiepe verstecken konnte. Anschließend lief er zu einem weiteren Gebüsch, um seine Blase zu entleeren. Während er das tat, vernahm er plötzlich eine Stimme, die nicht allzu weit entfernt von ihm war.

„Deine Flucht ist dir misslungen, dreckiger Hund", schimpfte ein Mann. „Wolltest hier wohl untertauchen, was?", fuhr die Stimme fort, bevor ein Spucken ertönte. „Das Zuchthaus steht für dich schon bereit."

Bleuciel, der endlich fertig uriniert hatte, schlich um das Gebüsch, um einen Blick auf das Geschehen werfen zu können. Bei solchen Dingen kannte seine Neugier keine Grenzen. Was sich dort in einigen Metern Entfernung abspielte, verschlug ihm den Atem und brachte sein Herz zugleich in Wallung. Zahlreiche Empfindungen spukten durch seinen Kopf und sorgten dort für ein heilloses Durcheinander. Offenbar war sich Bleuciels Verstand noch nicht ganz einig darüber, welche der Emotionen jetzt Vorrang hatte. War es die Wut oder die Freude? Mitleid oder gar Genugtuung? Letztendlich umspielte ein knappes Lächeln Bleuciels vollmundige Lippen, was in der Tat ein überaus seltener Anblick war.

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