Pure Machtlosigkeit
Noch nie hatte sich Perceval derart machtlos gefühlt. Ihm war, als hätte man ihm den Boden unter den Füßen weggerissen. Mit nur wenigen Worten war es seinem Vater gelungen, ihm das Steuer aus den Händen zu reißen, um das Schiff gegen die Klippen zu manövrieren. Die daraus resultierende Havarie äußerte sich in Form seelischer Schmerzen, die Perceval noch von dem Tod seiner Mutter im Gedächtnis geblieben waren. Obschon sich die Ereignisse nicht miteinander vergleichen ließen und der Schmerz von damals ein anderer war, blieb das Ergebnis eines blutenden Herzens gleich.
Nachdem Bernard die Bibliothek verlassen hatte, blieb Perceval mit seinem Kummer alleine zurück. Er spürte, wie seine Wange unter anhaltender Wärme weiter anschwoll, als wolle sie bewusst auf sich aufmerksam machen. Die Tränen, die so zahlreich geflossen waren, hatten feuchte Bahnen auf der Haut hinterlassen, die mit der Zeit jedoch allmählich versiegten.
Plötzlich war es die Wut, die Perceval packte und kräftig durchschüttelte. Wie ein großer Knoten, tief in seinem Bauch, der sich nun schlagartig gelöst hatte. Mit verzerrter Grimasse stürzte er sich auf die Bücher, um sie nacheinander durch den Raum zu feuern. Die Konsequenzen seines Handelns waren ihm völlig egal, ebenso sehr wie die Tatsache, dass diese Aktion rein gar nichts an seiner Situation verändern würde. Zumindest sorgte der Ausbruch für Linderung.
Mit jedem Wurf entsendete Perceval einen drakonischen Schrei, den die hohen Regale um ihn herum gerade so abzufangen wussten. Mit all der Kraft, die dem jungen Mann innewohnte, schleuderte er die dicken Wälzer kreuz und quer durch das Zimmer, bis der Teppichboden nur noch vereinzelte Lücken aufwies. In seinem Zorn merkte Perceval nicht einmal, wie schwer sein Atem ging und dass ihm der Schweiß in Sturzbächen über die Stirn rannte. Erst nachdem seine Arme müde und schwer geworden waren, hielt der Adelige notgedrungen an.
Nach Luft japsend betrachtete Perceval sein Werk, dessen Ausmaß für ein wenig Genugtuung sorgte. Sobald sich seine Augen hinreichend daran stattgesehen hatten, wanderten sie zu einem der zahlreichen Fenster, an dem die Regentropfen abperlten. Offenbar war selbst dem Himmel zum Heulen zumute, dachte Perceval, bevor er an die Fensterscheibe trat, um seine Finger drüber streichen zu lassen. Das Glas war kühl, weswegen er kurz seine Wange dagegenhielt. Danach sank der Künstler zu Boden, um seine Beine an die Brust zu ziehen.
„Ich brauche keine Frau", hörte er sich selbst murmeln. „Ich brauche nur ihn ..."
~~
„So ein verfluchter Mist!", schimpfte Bleuciel, der planlos durch die Umgebung irrte.
Aufgrund des starken Regens hatte sich seine Kleidung vollgesogen, weshalb diese auf unangenehme Weise an seinem Körper klebte. Wäre er nicht so am Rennen, hätte er längst gefroren, doch die Aufregung um Monique, hielt den jungen Dieb auf Trab und somit auch halbwegs warm. Das änderte jedoch nichts an der Tatsache, dass Bleuciel keinen Anhaltspunkt besaß und so langsam die Lust an alldem verlor, was unter anderen auch daran lag, dass er zwischenzeitlich gestürzt war, weshalb seine triefnasse Kleidung mit Dreck und Matsch behaftet war.
Die zunehmende Erschöpfung verbündete sich mit dem geißelnden Hunger, sodass Dubois zahlenmäßig unterlegen war. Zusätzlich sehnte er sich nach einem wärmenden Kamin, der ihn und seine Kleidung trocknen würde. Annehmlichkeiten, die ihm Monique niemals bieten könnte. Der Einzige, der Bleuciel vom Aufgeben abhielt, war Perceval. Ihn zu enttäuschen kam für den Dieb nicht in Frage. Er würde nicht zu dem Anwesen zurückkehren, ehe er das Riesenmädchen gefunden hätte, selbst wenn die Suche nach ihr noch Jahre seiner Zeit beanspruchen würde ...
Zwischen Bleuciel und dem Anwesen lag jetzt noch ein knapper Kilometer. Um dorthin zu gelangen, müsste er sich nach links über den Schotterweg begeben, der ihn früher oder später zur prächtigen Allee des Anwesens führen würde. Dieser lag dem Dieb noch in guter Erinnerung. Zu seiner Rechten befand sich ein kleines Stück Wiesenlandschaft, die an einen Wald mündete. Nach vorne hin führte der Trampelpfad ins Ungewisse, sodass Bleuciel nicht sagen konnte, was ihn dort erwarten würde.
Aus einer Laune heraus entschied sich der Dieb für den Wald. Vielleicht würde er dort ja irgendwelche Spuren finden. Mit hohen Schritten – die ihn wegen der vollgesaugten Kleidung ziemlich anstrengten – durchquerte er die nasse Wiese, bis er den Waldrand mit einem Schnaufen endlich erreichte. Mühsam kämpfte sich der Dieb durch das Dickicht und fluchte jedes Mal innerlich, wenn ihm irgendwelche kleinen Äste ins Gesicht schlugen. Was er anschließend jedoch zu sehen bekam, ließ den erlittenen Schaden in Vergessenheit geraten und das Herz vor Freude höherschlagen.
„Monique!", rief Bleuciel außer sich.
Das arme Tier hatte sich mit den Zügeln in einem Gestrüpp verfangen, sodass es kein Vor und Zurück mehr gab. Auf Bleuciel machte Monique einen apathischen Eindruck. Man sah ihr die Erschöpfung regelrecht an. Vermutlich hatte sie im Zuge ihrer Panik gewütet, bis sie die Kräfte nach und nach im Stich gelassen hatten. Vorsichtig gelangte Dubois zu ihr.
„Hab keine Angst", sprach er mit ruhiger Stimme, wobei seine Hand sachte über ihren Rücken fuhr. „Ich hol dich hier raus."
Er fummelte an den zahlreichen Ästen herum und brach einige davon ab, bis es ihm schließlich gelang, die Zügel aus dem Gewirr zu befreien. Danach zog er ein wenig daran, um Monique zum Voranschreiten zu animieren. Dem Anschein nach spürte sie, dass Bleuciel ihr Helfer und Retter war, da sie dem Mann ohne zu mucken aus dem Wald hinausfolgte. Mensch und Tier wirkten jetzt gleichermaßen erleichtert.
Gemeinsam überwanden sie das letzte Stück, das sie vom Anwesen der de Rouyers trennte. Somit erreichten sie schließlich die Allee, die kurz darauf in den Vorhof des Chateaus mündete. Die Freude darüber hielt jedoch nicht lange an.
Vier Männer, deren Aufgabe es offensichtlich war, unerwünschte Personen fernzuhalten, näherten sich dem Dieb auf rasante Weise. Ehe Dubois sich versah, rissen sie ihm die Zügel aus der Hand und warfen ihn unsanft zu Boden.
„Hey!", brüllte Bleuciel, der bäuchlings in das nasse Kies gedrückt wurde und dessen Arme man auf schmerzhafte Weise hinter den Rücken gedreht hatte. „Ich bin auf Wunsch von Perceval de Rouyer hier! Er bat mich ihm sein Pferd zurückzubringen!"
Wie wenig die Männer von dieser Erklärung hielten verdeutlichten sie anhand ihres tosenden Gelächters.
„Dieses Märchen können Sie jemand anderem auftischen, Monsieur", sagte einer von ihnen, der seinem Kollegen rasch zunickte. „Los, informieren Sie den Hausherren."
Das hatte Bleuciel gerade noch gefehlt. Wieso wandten sich die Leute nicht an Perceval? Dieses Missverständnis ließe sich in wenigen Augenblicken beheben. Stattdessen veranstalteten die Aufpasser einen Riesenzirkus, der ohnehin zu nichts führen würde.
Inzwischen bohrten sich die spitzen Steinchen in Bleuciels Wange, weshalb er versuchte den Kopf ein wenig zu heben. Auch der Regen ließ keine Sekunde nach, was das Ganze noch unerträglicher machte. Trotz der unangenehmen Lage musste der Dieb auf das erscheinen des gefürchteten Mannes warten, der mit einem Regenschirm in der Hand gemächlich nach draußen trat.
Schritt für Schritt näherte er sich dem – am Boden liegenden – Unruhestifter, ohne dabei die Miene zu verziehen. Bernard verstand es, sich nicht in die Karten blicken zu lassen. Er war wie ein ruhender Vulkan, der jederzeit ausbrechen konnte, ohne, dass man es rechtzeitig kommen sah. In seinem Blick spiegelte sich die Verachtung wider, die Bleuciel wegen seiner ungünstigen Position allerdings nicht wahrnehmen konnte.
„Schon gut", brummte Bernard, nachdem er Dubois erreicht hatte. „Der armselige Bettler stellt keine Gefahr für mich dar. Lassen sie uns allein."
Ohne den Befehl auch nur annähernd in Frage zu stellen, entfernten sich die Männer, sodass Bleuciel endlich aufstehen konnte. Eilig klopfte sich dieser ein paar Kiesel vom Leib, bevor er Bernard in die Augen sah.
Sofort wurde dem Dieb bewusst, dass dies kein Duell auf Augenhöhe war. Sein Gegner besaß mehr Geld, mehr Macht und mehr Lebensweisheit. In keinem dieser Dinge könnte Bleuciel ihm das Wasser reichen. Alles was er im Gegenzug anzubieten hatte, waren die hübsche Taschenuhr, Morels Brieföffner und läppische zwölf Francs.
„Ihre Anwesenheit beleidigt mich", eröffnete Bernard das Gespräch mit kalter Stimme. Seine Erscheinung war so finster, wie die dunklen Wolken, die über ihren Köpfen ragten. „Was maßt Sie an, erneut hier zu erscheinen?"
„Ihr Sohn bat mich, das Pferd zurückzuholen, Monsieur", erklärte Dubois mit brüchiger Stimme. So sehr ihn seine eigene Unsicherheit auch ärgerte, ließ sich diese im Angesicht des skrupellosen Mannes nicht verbergen. „Diese Bitte habe ich erfüllt."
„Mehr schlecht, als recht", spottete Bernard beim Anblick der dreckigen Kleidung. „Und nun sind Sie allen Ernstes der Meinung, hierfür eine Gegenleistung fordern zu dürfen?" Der Frage fügte sich ein verächtliches Schnauben hinzu. „Einem minderwertigen Menschen, wie Ihnen, steht überhaupt nichts zu. Und ich werde nicht zulassen, dass Sie mein Vermächtnis in irgendeiner Form gefährden." Die grünen Augen verengten sich zu Schlitzen. „Sie werden sich meinem Sohn in Zukunft nicht mehr nähern", drohte er. „Und nun verschwinden Sie von hier. Ihn erbärmlicher Anblick widert mich an. Sie sind nicht länger willkommen ..., waren Sie noch nie."
Wieder einmal zeigte sich, dass Worte einen enormen Schaden anrichten konnte. Bei Bleuciel äußerte sich dies mit einem schmerzhaften Kloß im Hals. Die Tränen, die beiläufig aufgestiegen waren, blinzelte er rasch wieder weg. Obwohl der Regen endlich nachgab, fühlte sich der Dieb zunehmend miserabler.
Er brauchte doch bloß durch diese Tür da vorne zu gehen, um Perceval endlich wiederzusehen. Wieso ließ ihn das Schicksal nicht zu ihm? Merkte es nicht, dass ihre Lebensbänder in irgendeiner Weise miteinander verknüpft waren? Sie voneinander fernhalten zu wollen, konnte auf Dauer nicht funktionieren.
„Bei meiner Ankunft hier, trug ich eine Kiepe bei mir, die noch im Stall liegt", äußerte Bleuciel, dem das Sprechen hörbar schwerfiel. „G-Gestatten Sie mir, diese noch zu holen, bevor ich aufbreche, Monsieur."
Mit einem despektierlichen Blick drehte ihm Bernard den Rücken zu. „Meinetwegen", knurrte er. „Aber dann sind Sie ein für allemal weg."
Mit der Enttäuschung machte sich nun auch die Kälte bemerkbar. Bleuciel fror am gesamten Körper. Die nasse Kleidung wog schwer und ließ seine Schultern weit nach unten hängen. Niedergeschlagen schlurfte er zu dem Stall, wobei er immer wieder zurücksah, um zwischen den zahlreichen Fenstern hin und her zu blicken. Noch immer lebte die Hoffnung in ihm, dass er Perceval hinter einem dieser Fenster erspähen würde, um ihm anschließend signalisieren zu können, dass er sein Versprechen – hinsichtlich Moniques Rückkehr – gehalten hatte. Bedauerlicherweise war der Künstler nirgends zu sehen, was bei Bleuciel für neuen Trübsinn sorgte.
Als er den Stall nach qualvollen Minuten endlich erreichte, fand er seine Kiepe an derselben Stelle, an der er sie zwei Abende zuvor abgestellt hatte. Ihr Anblick schmerzte den Dieb, erinnerte sie ihn doch an den Morgen, an dem er Perceval zum ersten Mal in die wunderschönen grünen Augen geblickt hatte. Dass ihr Abenteuer hier schon enden sollte, wollte Bleuciel einfach nicht wahrhaben. Alles in ihm sträubte sich dagegen, doch die nasse Kleidung zwang ihn dazu, sich mit weißer Fahne zu ergeben. Andernfalls drohte dem Mann eine schwere Erkältung, von der er sich vielleicht nicht mehr erholen würde.
Ohne es zu bemerken, liefen ihm plötzlich die Tränen über die Wangen. Hastig wischte er sie mit dem Ärmel seines Gehrocks aus dem Gesicht. Er fühlte sich albern. Fast wie eine Art verliebtes Mädchen, das ihre Gefühle nicht unter Kontrolle hatte. Wie konnte das Empfinden für jemanden, den man erst seit so kurzer Zeit kannte, schon so intensiv sein, dass es derartige Reaktionen zu Tage förderte? Bleuciel wusste es nicht, sah in der Ergründung dieser Frage aber auch keinen weiteren Sinn.
Schweren Herzens umklammerte er den oberen Rand seiner Kiepe. Bevor er sich diese aufsetzen konnte, vernahm er vor dem Stall ein paar zögerliche Schritte. Mit einer Mischung aus Neugier und Sorge blickte Bleuciel hinaus, um der Sache auf den Grund zu gehen.
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