La Grande Monique!
Der Stall, in dem die Pferde untergebracht waren, besaß mehrere Halbwände aus Holz, zwischen denen die Köpfe der Tiere emporragten. Ihre Zügel hatte man an den Wänden befestigt, sodass ihre Hinterteile in den Durchgang ragten. Der Gestank von Pferdemist lockte derweil die Fliegen an, von denen einige um die Köpfe der schnaubenden Vierbeiner herumschwirrten.
Bleuciels spontaner Ausruf hatte die Aufmerksamkeit des Mannes erregt, dessen Gesicht dank der dunkelgrünen Maske halb im Verborgenen lag und dessen Körper nach wie vor in einem farbenfrohen Narrenkostüm steckte. Während Bleuciel noch am Eingang verweilte, befand sich der Akrobat in der Mitte des Stalls, neben Monique. Sich hier zu begegnen schien beide Anwesenden gleichermaßen zu überraschen, weshalb sie die ersten Sekunden mit Stillschweigen verbrachten. Anschließend war es der Gaukler, der seine Stimme zwischen all den Rössern wiederfand.
„Sieh an, wen haben wir denn da?" Neugierig spähte der Mann in Richtung des Ausganges. „Nanu? Wo haben Sie denn Ihren Wachhund gelassen, Monsieur?", fügte er – Perceval betreffend – hinzu.
„Der wartet vor dem Stall auf mich", behauptete Dubois.
Eine Lüge, die schon während ihrer Entstehung zum Scheitern verurteilt worden war.
„Vorsicht, Monsieur", mahnte der Gaukler mit tadelndem Blick. „Es ziemt sich nicht, die Unwahrheit zu sprechen."
Die Entlarvung rügte Bleuciel, indem sie seine Wangen augenscheinlich erröten ließ. Räuspernd sah der Dieb zu Boden, bevor er die peinliche Situation mit einer Frage zu überspielen versuchte.
„Was tun Sie hier, Monsieur ...?"
„Jero", entgegnete der Mann lasziven Blickes. „Nicht mehr und nicht weniger."
Ein seltsamer Name für einen seltsamen Mann, dachte Bleuciel, dem sehr daran gelegen war, zügig von hier zu verschwinden. Er näherte sich Monique, die in der Mitte des Stalls verweilte und vor deren Platz sich nach wie vor der Gaukler befand.
„Dürfte ich bitte zu meinem Pferd?", fragte Bleuciel, nachdem sein Gegenüber keinerlei Anstalten gemacht hatte, sich zu bewegen.
„Dann gehört dieses Prachtexemplar also zu Ihnen?" Die neu erlangte Information weckte ein zusätzliches Interesse, das Jero in seine Taten mit einfließen ließ. Ungeniert wanderten seine Hände über Bleuciels Schultern. „Demnach müssen Sie in der Tat ein wohlhabender Mann sein, Monsieur."
Wie schon den Abend zuvor verströmte der Gaukler einen würzigen Geruch, den Bleuciel ein wenig sonderbar fand. Allerdings passte dieser zu dem exotischen Erscheinungsbild des Mannes, der seine schmalen Lippen beiläufig an Dubois' Ohr herangeführt hatte.
„Ich liebe das Reiten", wisperte Jero seinem Opfer auf obszöne Weise zu. „Wenn ich die rohe Kraft zwischen meinen Schenkeln spüre, verliere ich sämtliche Hemmungen."
Nicht immer ist es das Gewehr oder der Säbel, der einem im Kampf behilflich sein kann. Auch die Verführung gehört dazu, sofern man mit ihrer umfangreichen Technik vertraut ist und sie beherrscht. Obschon sie – verglichen mit dem Gewehr – harmlos erscheinen mag, ist ihr angerichteter Schaden oft um ein Vielfaches größer. Mit ihrer lieblichen Art weiß sie es, ihren Gegner zu manipulieren und dafür zu sorgen, dass dieser die Deckung fallen lässt, ohne sich dessen im Klaren zu sein. Eine zusätzliche Gefahr bildet ihr breites Spektrum an Anwendungsmöglichkeiten. So lässt sie sich beispielsweise mit dem Klang einer Stimme, einer Berührung oder einem Augenkontakt übertragen. Den Infizierten bleibt meist keine andere Wahl, als sich ihr widerstandslos zu ergeben.
Bleuciel, der den warmen Atem auf seiner Haut spüren konnte, ahnte jedoch, wohin das führen sollte. Jeros Ablenkungsversuch scheiterte an seinem Misstrauen. Bevor die Hände des Gauklers Bleuciels Außentaschen erreichen konnten, wurden diese durch einen bestimmenden Griff davon abgehalten. Erstaunt darüber suchte Jero den Augenkontakt.
„Sowas funktioniert nicht bei mir, Monsieur", äußerte der Dieb mit sonderbarer Gelassenheit.
Aufgrund der heruntergezogenen Mundwinkel war die Enttäuschung bei Jero nicht zu übersehen. Offenbar war es der Mann nicht gewohnt zu verlieren. Wer fortlaufend seinen Willen erhält, kann etwas Gegenteiliges nur schwer hinnehmen. Dem entsprechend groß war das Bedürfnis es nicht dabei zu belassen.
„Sie unterstellen mir verrufene Dinge, Monsieur. Ich wollte Ihnen lediglich eine Freude bereiten." Dabei leckte er sich provokant über die Lippen. „Ihr spießiger Begleiter ließ mich gestern ja nicht mehr zum Zuge kommen."
Und das aus gutem Grund, wie Bleuciel im Nachhinein feststellen musste. Jetzt, wo die mystische Präsenz des Gauklers an Effektivität verloren hatte, verstand Dubois, worauf er sich um ein Haar eingelassen hätte. In dieser Hinsicht war er Perceval zu großem Dank verpflichtet. Der Drang eines baldigen Wiedersehens nahm stetig zu. Ungeduldig schabte Bleuciel mit seinem Stiefel über den dreckigen Holzboden.
„Ich bin in Eile, Monsieur", äußerte der Dieb mit einer gewissen Bedrängnis in seiner Stimme. „Treten Sie jetzt bitte beiseite."
Statt dem nachzukommen, blieb Jero ungerührt stehen. Auf seinem Gesicht zeichnete sich derweil ein freches Grinsen ab. Entnervt darüber, packte Bleuciel den Mann an seinen Oberarmen, um ihn beiseite zu schieben, doch der Gaukler war trotz seiner Bemühungen nicht fortzukriegen.
„Das ist albern", seufzte der Dieb mit verdrehten Augen.
„Ich bin ja auch ein Narr, Monsieur", konterte der Gaukler amüsiert.
Einen Moment lang glaubte Bleuciel, Teil einer Theateraufführung zu sein. Welche Rolle man ihm zugetragen hatte, wusste er noch nicht. Dem bisherigen Verlauf nach zu urteilen, war er der Idiot, über den sich die Zuschauer mokierten.
Als nächstes versuchte Dubois sich vorbeizudrängeln, doch selbst das vereitelte Jero, indem er die Bewegungen seines Gegenübers nachahmte und sich dem Dieb auf schamlose Weise entgegendrückte.
Es war zum Verrücktwerden! Hin und wieder dürfte das Leben ruhig mal etwas einfacher sein. Was hatte Bleuciel getan, um das zu verdienen? Seine bisherigen Diebstähle konnten doch unmöglich so schwer wiegen, um sich auf diese Weise ausgleichen zu lassen. Hilfesuchend sah er zu Monique. Sie schien in greifbarer Nähe und war doch so unglaublich fern.
Ob sich Dubois an die Gendarmen wenden sollte? Sie wären gewiss bereit, ihm zu helfen, doch wie viel Zeit würde dies beanspruchen? Und was würde geschehen, sollte Dalle davon erfahren? Der Dieb war nicht gerade erpicht darauf, ihn wiederzusehen.
„Genug der Spielchen", sagte Bleuciel. „Wenn Sie auf Geld aus sind, muss ich Sie enttäuschen. Ich besitze keins. Ihre Hartnäckigkeit wird sich nicht auszahlen, Monsieur."
In den Augen von Jero manifestierte sich ein auffallender Glanz, der sogleich den Verdacht aufkommen ließ, dass mehr dahinterstecken musste.
„Sie sollten nicht gehen, ohne sich vorher gebührend von mir verabschiedet zu haben, Monsieur", legte er die Karten offen auf den Tisch. „Das wäre das Mindeste, das Sie nach der gestrigen Unterbrechung für mich tun könnten."
Jero war der lebende Beweis dafür, dass auch Männer äußerst anstrengend sein konnten. Entnervt fasste sich Bleuciel an die Stirn. Er hatte ohnehin schon viel zu viel Zeit vergeudet. Am klügsten wäre es, die Sache schnellstmöglich hinter sich zu bringen, ohne groß darüber zu diskutieren. Wer starb schon gern einen qualvollen Tod, wenn die Guillotine in greifbarer Nähe stand?
„Was erwarten Sie von mir?", fragte Dubois. „Eine Umarmung?"
„Nicht doch", giggelte Jero. „Das wäre ja langweilig." Mit dem Zeigefinger deutete er auf seine Lippen. „Ein Kuss, Monsieur, und das ist nicht verhandelbar."
Vielleicht sollte Bleuciel ohne Monique von Dannen ziehen. Ein flüchtiger Gedanke, den der Dieb schnell wieder verwarf. Es war ihm wichtig, Percevals Wunsch zu erfüllen. Sicher hätte der Adelige dasselbe auch für ihn getan.
„Ich wusste nicht, dass Sie an Männern interessiert sind", äußerte Dubois, woraufhin der Gaukler mit den Schultern zuckte.
„Ob Mann oder Weib ist mir einerlei, solange ich meinen Spaß habe. Ich genieße das Leben nun mal in vollen Zügen", prahlte er. „Und behaupten Sie nicht, dass Ihnen Männer zuwider sind. Ich habe gesehen, welche Blicke Sie sich mit Ihrem Wachhund ausgetauscht haben. Ein Wunder, dass Sie noch niemand aufs Schafott gestellt hat."
„Sagen ausgerechnet Sie?"
Eine Frage, die sich der Dieb nicht verkneifen konnte und die der Gaukler mit einem breiten Grinsen beantwortete.
„Ich liebe nun mal die Gefahr", säuselte er. „Genauso wie das Abenteuer. Ein intensiver Kuss", wiederholte er. „Mehr verlange ich nicht. Danach können Sie meinetwegen zu Ihrem Wachhund zurückkehren. Ich werde ihm auch nichts verraten", fügte Jero augenzwinkernd hinzu.
Der Begriff des Wachhundes missfiel Bleuciel. Er beließ es jedoch dabei, um kein weiteres Feuer zu schüren. Das Verlangen nach einem Kuss missfiel ihm ebenso sehr, doch auch hier sehnte sich der Dieb bloß ein baldiges Ende herbei. Er tröstete sich mit dem Gedanken, dass der Kuss keine Bedeutung für ihn haben würde und dass dieser nur dazu diente, um Monique zu befreien. Eine Stute in Not, wohlgemerkt.
Nach einem Seufzen lehnte sich Bleuciel nach vorn, um die Lippen des Gauklers mit seinen eigenen zu versiegeln. Dabei spürte er, wie sich die Zunge des anderen auf grobe Weise in seine Mundhöhle zwang. Zeitgleich umfasste Jero mit beiden Händen das Gesicht von Bleuciel, um ihn noch gieriger zu sich heranzuziehen. Zeitweise prallten ihre Zähne aufeinander, was den Dieb vor Unwohlsein keuchen ließ. Er kniff die Augen zusammen und ließ sich, trotz innerer Proteste, darauf ein. Es war ein harter Kuss, in dem keine Gefühle steckten und der nicht die geringste Spur von Leidenschaft in sich trug. Was Jero an solch einem Kuss reizte, war für Bleuciel schleierhaft. Vielleicht war es das Bedürfnis danach, die Kontrolle zu haben und Macht über andere auszuüben. Es scherte den Dieb nicht wirklich. Er wartete bloß darauf, dass Jero sich gesättigt fühlte. Wie sich herausstellen sollte, geschah dies erst nach etlichen Sekunden des wilden Geschmatzes, in denen ihnen der Speichel aus den Mundwinkeln floss. Als sie sich anschließend voneinander lösten, waren ihre Lippen deutlich geschwollen.
Zufrieden wischte sich Jero mit dem Ärmel seines Kostüms über den feuchten Mund. „Sehr schön, Monsieur. Ein guter Anfang."
Anfang?! Das Wort klang so scharf, dass sich Bleuciels Gehör daran aufschnitt. In abwehrender Haltung hob er die Hände und schüttelte den Kopf.
„Kommt nicht in Frage, Monsieur. Ich habe getan, wonach Sie verlangt haben. Jetzt ist Schluss. Lassen Sie mich endlich zu meinem Pferd!"
Der kleine Ausbruch versetzte Jero ins Staunen. „Oh. In Ihnen steckt tatsächlich der kleine Funke eines wilden Temperaments. Das kommt mir sehr gelegen."
Dubois konnte nicht glauben, was hier gesprochen wurde. Er war fassungslos, wütend und frustriert. Eine Kombination, die ihm die Tränen in die Augen trieb. Er wollte doch bloß zu Perceval!
Just in diesem Moment war es Monique, die ihr sagenhaftes Können zur Schau stellte, indem sie ihr Hinterbein etwas austreten ließ. Sie traf die Kniekehlen des Gauklers, der unerwartet zu Boden stürzte und sich mit schmerzverzerrtem Gesicht rasch an die betroffene Stelle fasste. Eine Szene, die Bleuciel mit großen Augen bewunderte und die sein Herz mit Glückshormonen durchflutete.
Schnaubend trat Monique ein paar Schritte zurück, als wollte sie dem Ganzen noch die Krone aufsetzen. Sie erlangte den Respekt des Gauklers, der sich wimmernd über die Holzdielen robbte, um nicht den gnadenlosen Hufen ihrer Königin zum Opfer zu fallen.
Dies war der entscheidende Augenblick in Bleuciels Leben, in dem sich seine Einstellung zu Monique um 180° wendete. Voller Stolz und mit größter Dankbarkeit trat er zu ihr, um die Zügel von der Wand zu lösen. Anschließend zog er das Riesenmädchen freudestrahlend hinter sich her.
Offenbar sehnten sie sich beide gleichermaßen nach Perceval!
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