In Obhut
Die spärliche Beleuchtung formte die Stadt zu einem Mysterium. Unter besseren Umständen hätte Bleuciel sich darauf eingelassen und jedes interessante Detail ins Auge gefasst. Stattdessen ließ er sich schweigend von Morel durch die schmalen Gassen geleiten. Der Klang ihrer schweren Schritte prallte derweil an den Hauswänden ab. Die meisten Bewohner waren in ihr trautes Heim zurückgekehrt, um der unangenehmen Kälte zu entfliehen.
In Grübeleien vertieft, fragte sich der Dieb, weshalb Morel an der Seite des Gendarmen gewesen war. In welchem Verhältnis standen die zwei zueinander? Obgleich ihn die Sache brennend interessierte, hakte Dubois nicht weiter nach. Fürs erste stand seine Genesung im Vordergrund. Hunger und Schmerzen plagten den jungen Mann.
Sich einem Fremden anzuvertrauen widersprach Bleuciels gewohnter Lebensweise. Man könnte meinen, dass der Dieb über seine eigenen Prinzipien spottete. Er vergrub die Hände in den Taschen seines Gehrocks und senkte den Kopf, als versuchte er sich vor der Außenwelt zu verstecken. Niemand sollte bemerken, in welch erbärmlichen Zustand er sich gerade befand.
„Wir sind gleich da", erwähnte Morel, dem die Zurückhaltung seines Nebenmannes nicht entgangen war.
Was Bleuciel nicht sah, waren die Momente, in denen Morel seinen Mund für ein Gespräch geöffnet hatte, nur um sich in letzter Sekunde umzuentscheiden. Die Lage schien ein wenig heikel, da das Fortlaufen des Diebes nicht allzu lange zurücklag. Obwohl sie das Schicksal ein weiteres Mal zusammengeführt hatte, wollte Morel sein Glück kein weiteres Mal auf die Probe stellen. Demnach begnügte er sich mit dem schweigsamen Bleuciel, sofern dieser weiterhin an seiner Seite lief.
„Wohin gehen wir denn?", brach Bleuciel jetzt seinerseits die Stille, da ihm die Ungewissheit zu viel Sorge bereitete, als dass sie sich einfach so hinnehmen ließe.
„Ich bringe Sie in mein Heim, Monsieur. Dort ist es schön warm. Sie können speisen und ruhen, bis es Ihnen besser geht."
Das verlockende Angebot klang in Bleuciels Ohren fast schon zu gut, um wahr zu sein. Wenn sein Geist nicht so erschöpft wäre, hätte er sich an dieser Stelle verdrückt. Er entschied Morel im Auge zu behalten und sich innerlich auf eine Flucht vorzubereiten.
Der Wind, der seinen Weg durch jede erdenkliche Lücke fand, verstand es, mit einem schaurigen Pfeifen auf sich aufmerksam zu machen. Hin und wieder sah Dubois über die Schulter hinweg nach hinten, weil er glaubte, eine Gestalt gesehen zu haben. Insgeheim fürchtete er noch immer, dass der Sträfling zurückkehren würde, um das grausige Werk an ihm zu vollenden. In dieser Hinsicht war er ganz froh, dass Morel an seiner Seite stand. Zu zweit würde es ihnen sicher gelingen, dieses Monstrum von Mann niederzustrecken.
Nachdem weitere Minuten des Stillschweigens vergangen waren, erreichten sie ein Haus, welches zwei Stockwerke besaß und nach außen hin recht robust wirkte. Dies führte Bleuciel zu der Annahme, dass die Mieten hier nicht allzu günstig waren. Erneut kam da die Frage auf, wer Alexandre Morel in Wirklichkeit war und womit dieser seinen Unterhalt verdiente.
„Ich bewohne das Erdgeschoss", erklärte Morel, ohne danach gefragt worden zu sein. „Die Vermieterin wohnt über mir. Mit ihr kann ich mich wahrlich glücklich schätzen", setzte der Mann in Begleitung eines Lächelns fort. „Sie kocht für mich und kümmert sich um den Haushalt. Im Gegenzug zahle ich mehr Miete, als notwendig wäre."
Bleuciel nickte bloß, da ihm keine passende Antwort darauf einfiel. Heimlich betrachtete er das grässliche Leinenhemd, das Morel seit ihrer ersten Begegnung noch nicht durch etwas Anständiges ersetzt hatte. Von seiner Scheußlichkeit mal abgesehen, sorgte der Stoff für keinen ausreichenden Schutz, um die Kälte vom Leibe zu halten. Es grenzte daher an ein Wunder, dass Morel nicht schon längst wie Espenlaub zitterte.
Das Geräusch der aufgehenden Tür, holte den Dieb in die Realität zurück. Mit einem mulmigen Gefühl im Bauch, lief er dem Blonden hinterher. Sie betraten einen schmalen Flur, dessen hölzerner Boden bei jedem Schritt ein unschönes Knarzen von sich gab. Für Bleuciel waren solche Böden der reinste Graus. Sie offenbarten jedem, dass man da war und wo man sich gerade befand.
Nebenbei erblickte Dubois eine steile Treppe, die ins Obergeschoss führte. Sie gingen links an ihr vorbei, zu einer weiteren Tür, die Morel mit Hilfe eines Schlüssels öffnete.
Vorsichtig trat Bleuciel über die Schwelle. Seiner Gewohnheit wegen, sah er sich sorgfältig um. Der große Raum besaß - neben seinem Kamin - noch weitere Annehmlichkeiten, wie ein verblichenes Sofa, einen massiven Tisch mitsamt Stühlen, ein Bücherregal und einen hübsch verzierten Schrank. Darüber hinaus entdeckte er noch einen Schreibtisch, auf dem mehrere Dokumente verstreut lagen. Bei Begutachtung dieser Dinge, juckte es den Dieb in den Fingern. Wie gern er sich daran doch bereichern täte.
„Ich werde Madame Petit darum bitten, mich zu unterstützen. Wären Sie so freundlich, kurz auf mich zu warten, Monsieur?", fragte Morel, woraufhin Bleuciel nickte.
Kaum nachdem der Mann außer Sichtweite war, öffnete Dubois den edlen Schrank, in dem unter anderem eine kleine Schatulle stand. Darin fand der Dieb Münzen im Wert von zwanzig Francs. Um den Schein zu wahren, nahm Bleuciel nur die Hälfte davon raus, damit das Holzkästchen keine völlige Leere vorwies.
Während er dies tat, spürte Bleuciel, wie ihm das Herz bis zum Halse schlug. Selbst nach all den Jahren ließ sich die Aufregung während eines Diebstahls nicht vollständig unterdrücken. Zudem merkte er, wie seine Finger allmählich erkalteten, was eine weitere Nebenwirkung seiner derzeitigen Nervosität war.
Mit angehaltenem Atem steckte Bleuciel die Münzen in seinen Beutel, bevor er den Schrank möglichst leise wieder verschloss. Als er hörte, wie sich kurz darauf Schritte näherten, wandte er sich an das Bücherregal. Im Grunde eine blöde Idee, da Bleuciel - bis auf vereinzelte Worte - nicht lesen konnte.
„Meine Bücher", verkündete Morel stolz. „Ist Ihnen eines davon ins Auge gefallen, Monsieur?"
„Ich habe bloß einen flüchtigen Blick drüber geworfen", log Bleuciel, dessen Aufmerksamkeit jetzt der alten Dame galt.
Mit ihrer kleinen und recht zierlichen Statur, machte sie dem Namen Petit alle Ehre. Das gräuliche Haar hatte die Frau zu einem Knoten nach hinten gebunden. Die sanften Züge schmeichelten ihrem faltigen Gesicht und ließen ihre getrübten Augen ein wenig erstrahlen. Schmunzelnd wurde Bleuciel von ihr gemustert, als hegte sie bei seinem Anblick irgendwelche Hintergedanken.
„Darf ich vorstellen? Madame Petit", äußerte Morel, wobei er seine Hand auf ihre Schulter legte.
„S-Sehr erfreut", stammelte Bleuciel, dem die Szene sichtliches Unbehagen bereitete.
Er konnte nicht sagen, ob er sich angemessen verhielt. Unbeholfen trat er von einem Fuß auf den anderen. In seinem Ausdruck formte sich derweil ein stummer Schrei nach Hilfe, der bei Madame Petit nicht unbemerkt blieb. Trotz ihres Alters entpuppte sie sich zu einer scharfen Beobachterin.
„Dann werde ich mal das Essen zubereiten", sagte sie mit einer lieblichen Stimme, die ihrem Äußeren eine gewisse Niedlichkeit verlieh. „Schüren sie derweil doch das Feuer, Monsieur Morel."
„Oh gewiss, welch famose Idee."
Vorbei war der beklemmende Moment, der Bleuciel das Atmen erschwert hatte. Er sah dabei zu, wie Morel das Feuer im Kamin entfachte und hörte nebenher, wie Madame Petit in der angrenzenden Küche hantierte. Die Geräusche, die dabei entstanden, übten auf Bleuciel eine beruhigende Wirkung aus. Nach und nach lösten sich die verkrampften Muskeln, sodass seine Schultern schließlich nach unten sackten.
„Sie brauchen dort nicht so herumzustehen", bemerkte Morel amüsiert. „Nehmen Sie Platz und legen Sie Ihren Gehrock ab."
Nach kurzem Zögern entledigte sich Bleuciel seines Gehrocks, der für ihn zu einer Schutzhülle geworden war. Darunter trug der Dieb eine gewöhnliche Weste. Sichtbar war nun auch den Gürtel, an dem sich mehrere kleine Taschen befanden. Die Lederstiefel, die Bleuciel trug, reichten ihm bis knapp unters Knie, während die Hose, des vorherigen Kampfes wegen, ein paar Flecken davongetragen hatte.
Er spürte den Blick von Morel auf sich ruhen, weshalb er zügig an den Tisch eilte, um sich zu setzen. Verlegen kratzte sich Bleuciel am Hinterkopf. Innerlich war der Mann völlig zerstreut. Nicht zu wissen, aus welcher Motivation heraus Morel handelte, machte ihn schier wahnsinnig. Ungeduldig fummelte Bleuciel an seinen Haaren, als ließe sich darin eine Antwort finden.
„Bedrückt Sie etwas?", fragte Morel, der unerwartet an den Dieb herangetreten war. „Sie wirken auf mich ein wenig nervös, Monsieur."
„Ich frage mich bloß", wagte Dubois zu sagen. „Weshalb Sie mir helfen."
Mit einem Lächeln ging Morel neben Bleuciel in die Hocke. „Ist das wirklich so schwer zu erraten?", fragte er, wobei er seine Hand auf den Oberschenkel des Diebes legte.
Schwer schluckend erstarrte Bleuciel in seiner Bewegung. Er spürte, wie ihm abwechselnd heiß und kalt wurde. Seine Gedanken überschlugen sich. Er öffnete den Mund, brachte jedoch keine einzelne Silbe hervor. Schließlich war es Morel selbst, der den Dieb aus seiner misslichen Lage befreite.
„Die Wehrlosen müssen beschützt werden, oder nicht?", sagte er, während er sich erhob. „Vor allem, wenn diese so hübsch anzusehen sind, wie Sie ...", fügte er leise hinzu.
„W-Was?"
„Ich werde schon mal den Tisch decken", lenkte Morel ab. „Sie brauchen sich wirklich nicht zu sorgen, Monsieur", versicherte er. „Bei mir sind Sie in guten Händen."
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