Geschmiedete Pläne

Bleuciel staunte nicht schlecht, als ihm vor dem Stall einer der Dienstmägde entgegenkam. Ihre hellen Strümpfe waren um die Knöchel herum durchnässt, was darauf schließen ließ, dass sie zwischenzeitlich durch feuchtes Gras gelaufen sein musste. Ihr Blick verriet zudem, dass sie noch unschlüssig darüber war, ob sie mit ihrer Aktion wirklich das richtige tat. In ihren zierlichen Händen trug sie Bleuciels alte Kleidung, welche man ordentlich zusammengefaltet hatte.

„Verzeihen Sie die Störung, Monsieur", erklang ihre piepsige Stimme. „Ich sah Sie vom Fenster des Anwesens aus mit dem Hausherrn sprechen." Dabei huschten ihre Augen über den Boden. „Ich hielt es für angemessen, Ihnen Ihre Kleidung wiederzugeben." Zur Bekräftigung ihrer Worte, überreichte sie Bleuciel die Kleidungsstücke. „Sie sind stellenweise noch ein wenig feucht", entschuldigte sie sich. „Doch gewiss angenehmer zu tragen", fügte sie, hinsichtlich Dubois' vollgesaugten Klamotten, hinzu.

Eine nett gemeinte Absicht, die Bleuciels Herz erwärmte. Er war dem Mädchen derart dankbar, dass er sie am liebsten in seine Arme geschlossen hätte. Da er dem schüchternen Wesen jedoch keine Angst einjagen wollte, beschränkte er sich auf ein einfaches Danke.

Nachdem er die Sachen entgegengenommen hatte, wagte er es, die gute Fee um einen Gefallen zu bitten.

„Verzeihen Sie, Mademoiselle", äußerte er auf ruhige Weise. „Diese Kleidung hier gehört nicht mir. Wären Sie so freundlich darauf zu warten, bis ich mich umgezogen habe?"

Während sich die junge Frau um eine passende Antwort bemühte, verfärbten sich ihre blassen Wangen zu einem schimmernden rot.

„J-Jetzt hier?", stotterte sie verlegen, als hätten die beiden etwas Obskures im Sinn.

„Ich werde mich beeilen", versprach Bleuciel. „Mir ist bloß wichtig, dass die Kleidung zu ihrem rechtmäßigen Besitzer wiederfindet. Ginge das in Ordnung?"

Einen Moment lang schien sie noch mit sich zu hadern, dann aber nickte sie und fuhr herum, sodass sie dem Dieb den Rücken zuwandte.

Erleichtert darüber befreite sich Bleuciel aus dem roten Gehrock. Da die Kleidungsstücke ohnehin schon schmutzig waren, ließ er sie achtlos zu Boden fallen. Nur dem Gürtel zollte er mehr Bedachtsamkeit. Es folgten die Weste und das Leinenhemd, danach die Hose mitsamt Strümpfen, für die er sich vorab aus den Stiefeln ringen musste. Kurz galt sein Blick der jungen Dame, deren Ohren regelrecht glühten. Offenbar genügte schon die Vorstellung an Bleuciels nackten Oberkörper, um sie erröten zu lassen.

Nachdem er sich bis auf die Unterhose ausgezogen hatte, schlüpfte er in seine eigene Kleidung, die einen angenehmen Geruch von sich gab und zum größten Teil schön trocken war. Es tat gut sein Halstuch wiederzuhaben, ebenso wie die Kapuze, die ihm bei Regen und all seinen Beutezügen immer gute Dienste geleistet hatte. Als Bleuciel wenige Minuten später fertig war, bemühte er sich darum, die nassen Kleidungsstücke zu einem halbwegs tragbaren Bündel zusammenzufügen.

„Ich bin fertig, Mademoiselle. Danke, dass Sie gewartet haben."

Vorsichtig fuhr sie herum, als fürchtete sie, dass Bleuciel gelogen haben könnte. Der Skandal blieb jedoch aus, weshalb sie das nasse Bündel mit Freuden entgegennahm. Sie schenkte dem Dieb noch ein verlegenes Nicken, ehe sie ohne ein weiteres Wort zu dem Anwesen lief.

Zurückblieb Dubois, für den sich mit diesem Ereignis plötzlich ganz neue Möglichkeiten offenbarten. Nicht länger zwang ihn die Situation zu einer unabdingbaren Niederlage. Vielmehr sah Bleuciel in dieser schicksalhaften Wendung eine Gelegenheit, um seinem Herzen endlich das zu geben, wonach es sich sehnte.

„Gleich drei Uhr", murmelte Bleuciel, dem die Taschenuhr erneut eine große Hilfe war.

Noch zu früh, um sein neu gefasstes Vorhaben in die Tat umzusetzen. In der Hoffnung, dass niemand mehr nach ihm Ausschau halten würde, legte sich Dubois in das Heu, um seinem Körper und Geist ein Nickerchen zu gönnen. Für das Bevorstehende brauchte er beide Dinge voll einsatzbereit.

~~

Das Mittagessen ließ Perceval aus, ebenso wie den Nachmittags-Tee. Stattdessen lief er völlig zerstreut durch das gesamte Anwesen, ohne auf die besorgten Blicke des Personals einzugehen. Die Ungewissheit fraß den jungen Adeligen von innen heraus auf. Immer wieder ertappte er sich dabei, wie er an eines der Fenster stürmte, weil er glaubte, Bleuciel im Vorhof gesehen zu haben. Der darauffolgende Schmerz wurde mit jedem weiteren Irrtum ein wenig schlimmer.

Zwischenzeitlich lief Perceval an einem der Spiegel vorbei und erschrak, als er sich selbst darin erblickte. Von seinem einst gesunden Teint war nichts mehr übrig. Bis auf die Wange, die zwei Schläge über sich hatte ergehen lassen müssen, wirkte die Haut fahl und kränklich. Auch den Augen mangelte es an ihrem früheren Glanz. Das Einzige, das hier noch hervorstach, waren die dunklen Augenringe, die der Stress und die Erschöpfung hervorgebracht hatten.

Perceval schämte sich seiner äußeren Erscheinung wegen, da er fürchtete, dass ihn Bleuciel nun nicht mehr als ansehnlich empfinden könnte. Obschon er sich selbst eher weniger um solche Dinge scherte, hatte ihn die Welt gelehrt, dass es fast immer auf reine Äußerlichkeiten ankam. Wer nach außen hin nicht überzeugte, dem war der Untergang schon gewiss. Mitunter war es Percevals Vater, der darauf den meisten Wert zu legen schien.

Während der Zeit, in der Bleuciel im Land der Träume verweilte, beschäftige sich Perceval durchgehend damit, die unzähligen Knoten in seinem Kopf nach und nach zu entwirren. Er fragte sich, was aus Dubois geworden sein mochte und wo sich dieser aktuell wohl befand. Auch galt seine Sorge Monique, von deren Rückkehr Perceval nichts mitbekommen hatte. Was der Künstler ebenso wenig ahnte, war die Tatsache, dass ihm sein Vater diese Informationen bewusst vorenthielt.

Dass Perceval auf seine Fragen keine Antworten finden konnte, belastete ihn sehr. Für gewöhnlich bekam er die Dinge immer irgendwie geregelt. Bedauerlicherweise ließ sich dieses speziell benötigte Wissen nicht mit Geld erwerben. Stundenlang verharrte er auf dem Boden seines Zimmers, um sich den Kopf zu zerbrechen und fieberhaft darüber nachzusinnen, wie sich die Situation zufriedenstellend lösen ließ.

Erst gegen Abend war es Percevals Vater, der die Grübeleien durch sein unangekündigtes Erscheinen unterbrach.

„Sohn", murrte dieser mit gewohnt tiefer, leicht grollender Stimme. „Eure fehlende Anwesenheit beim heutigen Mittagstisch fasse ich als respektloses Verhalten, mir gegenüber, auf. Dies werde ich kein weiteres Mal erdulden." Der Anblick, der am Boden liegenden Zeichnungen, stachelte den Zorn des älteren Mannes zusätzlich an. „Das Abendessen wurde bereits angerichtet. Ihr werdet mitkommen und essen, damit Ihr Eurem erbärmlichen Erscheinungsbild entgegenwirken könnt."

Perceval, der im Schneidersitz auf dem Boden hockte, hielt es derweil nicht für nötig, seinem Vater in die Augen zu sehen.

„Ich habe keinen Hunger, Vater", erwiderte er antriebslos. „Ihr braucht daher auch weiterhin nicht auf meine Anwesenheit zu ..."

Noch während Perceval sprach, kam dessen Vater auf ihn zugestürmt, um das braune Haar am Schopfe zu packen und kräftig daran zu ziehen. Der Schmerzen wegen war Perceval gezwungen nachzugeben und sich notgedrungen auf die Füße zu begeben.

„Ob Ihr Hunger habt, ist mir einerlei!", schimpfte Bernard erbost. „Eure zukünftige Frau wird nicht an der Seite eines abgemagerten Versagers stehen!" Mit erstaunlicher Kraft zerrte er den wimmernden Künstler aus dem Raum.

Die Bediensteten, die zwischen Percevals Zimmer und dem Speisesaal standen, wichen den beiden mit schockierten Blicken aus. In geduckter Haltung und permanenten Schmerzen am Kopf, musste Perceval durch den langen Gang hin zur Haupttreppe, bis in den Speisesaal ausharren, ehe ihn sein Vater aus dem klauenartigen Griff entließ.

„Hinsetzen!", lautete der knappe, jedoch bestimmende Befehl, dem der Sohn mit Tränen in den Augen Folge leisten musste.

In sturer Haltung verweilte Perceval vor dem leeren Teller, ohne sich des beiliegenden Essens zu bedienen. Jeder aufgezwungene Wille widerstrebte ihm so sehr, dass ihn die Übelkeit übermannte.

„Ich werde das nur einmal sagen", äußerte Bernard mit dieser Ruhe, die jedem das Blut in den Adern erkalten ließ. „Wenn Ihr nichts esst, werde ich Euch dazu zwingen. Das schwöre ich Euch, mein Sohn."

Perceval spürte, dass das keine leere Drohung war. Diese Erniedrigung wäre noch schlimmer, als alles andere. Trotz der inneren Stimmen, die seinen Geist beschrien es nicht zu tun, langte er nach einem Stück Schinken, welches er sich – ungeachtet des nahenden Brechreizes – zwischen die Lippen führte.

Für Perceval war dies das abscheulichste Mahl, das er jemals zu sich genommen hatte. Eine Folter, die seinen Körper und seinen Verstand in Aufruhr versetzte. Die Befürchtung, fortan so leben zu müssen, schnürte ihm die Luft zum Atmen ab.

Er machte gute Miene zum bösen Spiel, indem er noch ein paar Stücke in sich hineinwürgte. Anschließend erhob er sich von seinem Platz, bedankte sich brav für die Speise und kehrte in sein Zimmer zurück, wo er den sofortigen Entschluss fasste, seinem Gefängnis zu entfliehen, wofür er zunächst seinen Vater bestehlen müsste, um ein angemessenes Startkapital zu haben. Bei dem Gedanken umspielte ein Schmunzeln Percevals Lippen.

„Ich werde heute Nacht ausbrechen, um ihn wiederzusehen."

~~

Zur gleichen Zeit war es Bleuciel, der aus seinem Schlummer erwachte. Nun war die Zeit endlich gekommen. Sein Plan konnte in Bälde beginnen.

„Ich werde heute Nacht einbrechen, um ihn wiederzusehen." 

Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top