Eine Privataufführung

Fortwährend bestaunte Bleuciel die Taschenuhr in seiner Hand. Die Faszination darüber nahm einfach nicht ab, weshalb der Dieb wegen begrenzter Aufmerksamkeit nur langsam voranschreiten konnte. Hin und wieder streifte er die Schulter eines entgegenkommenden Passanten, ohne sich dessen bewusst zu sein.

„Ihre gegenwärtige Absenz bereitet mir Sorgen, Monsieur", hörte er Perceval nebenher sagen. „Mich dünkt, dass Sie deswegen noch in einen Brunnen fallen könnten."

Da es dem zweiten Teil des Satzes nicht gelang, bis zum Verstand von Bleuciel vorzudringen, machte Perceval einen spontanen Halt. Keine Sekunde später stieß Dubois mit ihm zusammen.

„Verzeihung", murmelte dieser, ohne aufzusehen.

„Monsieur Dubois", mahnte der Adelige auf spielerische Art. „Ich fürchte, dass ich Ihnen die Uhr vorübergehend wegnehmen muss."

Prompt wirkte es, als erwachte Bleuciel aus einem tiefen Schlummer. „Was?! Nein! Wieso?", fragte er mit einem Anflug von Panik in seiner Stimme.

„Weil ich in Gegenwart der Uhr eifersüchtig werde", scherzte Perceval, der bereits Anstalten machte, sie zu ergreifen.

Nur knapp entkam Bleuciel dem Verlust, indem er seinem mutmaßlichen Gegner den Rücken zuwandte.

„Glauben Sie wirklich, dass mich das aufhalten könnte?", neckte Perceval, als er den Dieb von hinten umarmte.

„Nicht!", rief Dubois im Zuge eines herzhaften Lachens.

Er presste die wertvolle Uhr an seine Brust und beugte sich etwas nach vorn. Dabei spürte Bleuciel den Druck seines Hintermannes, dessen Hände sich an seinen Unterarmen entlangtasteten. Die Nähe zwischen ihnen besaß etwas Aufregendes und sorgte für Herzklopfen. Eine Weile lang alberten sie auf die Art herum, wobei sie öfter mal ins Wanken gerieten. Wer es nicht besser wusste, müsste meinen, dass die zwei Männer schon reichlich Alkohol getrunken hatten.

„Ich werde sie in meine Tasche stecken", versprach Bleuciel, dem der Bauch wegen des Gelächters bereits schmerzte.

„Das möchte ich Ihnen auch raten, Monsieur", jauchzte Perceval, der den Moment zwischen ihnen sehr genossen hatte und dem viel daran lag, Bleuciel auf andere Gedanken zu bringen. „Wir sollten uns sputen", sagte er angesichts der herannahenden Dunkelheit. „Kommen Sie. Ich werde Ihnen meine Lieblingstaverne zeigen."

Gemeinsam gingen sie weiter. Kurze Zeit später erreichten sie den Marktplatz, auf dem derweil kaum noch jemand zugegen war. Ein paar vereinzelte Händler waren noch damit beschäftigt, ihre Waren zu verstauen. Die Gaukler hatten sich indes komplett zurückgezogen, was Bleuciel insgeheim ein wenig bedauerte. Gern hätte er mehr von ihren Kunststücken gesehen.

Sie liefen seitlich an der hübschen Kirche vorbei und setzten ihren Weg über einen sanften Straßenhang fort. Einige Meter weiter mündete der Weg unter anderem in eine schmale Nebengasse, die leicht zu übersehen war. Wer hier nicht achtgab, ging ohne Wissens an ihr vorbei. Sie durchquerten die Nebengasse, an deren Ende sich ein Hof mitsamt Taverne befand.

Bleuciels Blick galt dem Holzschild, das über der Tür an der Außenwand des hohen Gebäudes angebracht worden war. Darauf war ein Rabe zu sehen, der mit weit gespannten Flügeln auf den Lettern stand. Den Namen der Taverne konnte der Dieb allerdings nicht lesen.

„Willkommen im Hinterhof", sagte Perceval, womit er Dubois' Wissenslücke füllte. „Der Wein hier mundet mir sehr und das Essen ist einfach grandios." Dabei ergriff er Bleuciels Unterarm. „Ich verspreche Ihnen, dass Sie keine Sekunde an diesem Ort bereuen werden." Mit diesem gewagten Ehrenwort zog er seinen Begleiter hinter sich her.

Warme stickige Luft schlug Bleuciel beim Betreten der Taverne entgegen. Im Eingangsbereich lag ein abgenutzter Teppich, der an den Rändern schon stark franste und auf dem die Besucher ihre Stiefel abwischen konnten. Über eine Holzstufe gelangte man schließlich in den Kernbereich der Taverne an dessen Ende eine lange Theke mitsamt Wirt und Bedienung stand. Rechts davon befand sich ein großer Kamin, in dem das Feuer für Licht und Wärme sorgte und an dem ein – mit Gulasch gefüllter – Kessel hing. Das Licht vereinzelter Kerzen warf hier und da ein paar zuckende Schatten an die Wand, doch insgesamt war die Umgebung in ein warmes Orange getaucht.

Zwischen Eingang und Theke bot sich der Anblick unzähliger Holztische mit den dazugehörigen Bänken, auf denen sich die Besucher regelrecht zusammenquetschten, um herzhaft zu lachen und lautstark miteinander zu feiern. Zudem lag der Geruch von würzigem Fleisch, Kartoffeln und Alkohol in der Luft, weshalb der Dieb bei seiner Ankunft einen aufflammenden Hunger verspürte.

Auf der rechten Seite des Raums erstreckte sich ein Gang, der zu den Unterkünften, wie auch dem Hinterausgang der Taverne führte.

Durch das hohe Aufkommen an Gästen herrschte ein permanenter Krach, der sich aus scheppernden Krügen, wilden Zwischenrufen, Gelächter und Gesang zusammensetzte. Zu Bleuciels Überraschung entdeckte er ein paar von den Gauklern, die Stunden zuvor auf dem Marktplatz aufgetreten waren. Noch Immer trugen diese ihre bunten Kostüme und verbargen ihre Gesichter hinter Halbmasken, sodass sie von einem mystischen Reiz umgeben waren. Einem von ihnen war die Begutachtung nicht entgangen, weshalb er sich Bleuciel auf selbstbewusste Weise näherte.

„Guten Abend, Monsieur", raunte dieser mit einem erwartungsvollen Blick. „Gefällt Ihnen mein Kostüm?" Er verströmte einen leicht würzigen Geruch, der sich beim Sprechen mit einer alkoholischen Note verband.

Fasziniert betrachtete Bleuciel die dunkelgrüne Maske, hinter der braune Augen lauerten. Ihr Besitzer trug zwei Goldohrringe und hatte schwarzes, mittellanges Haar. Am Kinn des Mannes prangte zudem ein kleiner Spitzbart. Des Weiteren war er so groß wie Bleuciel und von zierlicher Statur. Das enganliegende Kostüm des Gauklers war auf vier Abschnitte aufgeteilt und wechselte farblich zwischen Dunkelgrün und Gelb.

„Es ist sehr schrill", sagte Bleuciel, womit er bloß das Offensichtliche aussprach.

„So wie ich, Monsieur", entgegnete der Mann, der seinen Arm um Bleuciels Nacken legte. „Sie sollten wissen, dass ich neben meinen akrobatischen Fähigkeiten auch ein hervorragender Tänzer bin." Dabei zwinkerte er dem Dieb vielsagend zu. „Vielleicht gefällt Ihnen ja meine Show."

„Ich bin sicher, dass sie das tut", äußerte Dubois gedankenlos.

Ahnungslos ließ sich dieser von dem Gaukler zu einer Bank geleiten, während Perceval unverrichteter Dinge zurückgelassen wurde. Eine Entstehung, die dem Adeligen mal so gar nicht gefiel. Da er die Stimmung nicht gleich vermiesen wollte, ließ er das Ganze vorerst geschehen. Trotz allem verspürte er beim Anblick der beiden einen gewissen Unmut.

Die Artisten besaßen schon immer ein feuriges Temperament. Wer sich nicht zu wehren wusste, erlag ihrer Gestik und ihrem Geschwätz. Mit seiner schüchternen Art war Bleuciel ein hervorragendes Opfer. Sich den Gauklern zu widersetzen, würde ihm nicht gelingen, dessen war sich Perceval absolut sicher.

Während zwei der Artisten einen feierlichen Gesang einstimmten, präsentierte der dritte ein paar waghalsige Verrenkungen, die Bleuciel mit großen Augen bestaunte. Binnen weniger Minuten ruhte die Aufmerksamkeit der gesamten Taverne auf dem Akrobaten, dessen Vorführung nur einer Person in diesem Raum galt. Bei fast allen Kunststücken hielt der Gaukler Augenkontakt, was Bleuciel allmählich erröten ließ. Räuspernd konnte der Dieb nur zeitweise standhalten.

Als die Aufführung endete, herrschten tosender Applaus und Jubelgeschrei. Hin und wieder flogen auch ein paar Münzen herüber, welche eifrig von den Sängern eingesammelt wurden.

Ungeniert ließ der Gaukler seine Hände über Bleuciels Schultern hinweg zum Nacken gleiten. „Das war der offizielle Teil", wisperte er dem Dieb mit rauchiger Stimme zu. Dabei lehnte er sich weit nach vorn, sodass sein Bart an der unversehrten Wange entlangfahren konnte. „Für ein paar Münzen zeige ich Ihnen noch weitaus mehr, Monsieur."

„Da", murrte Perceval, bevor er dem Gaukler ein Münzsäckchen entgegendrückte. Geschickt schubste er diesen etwas beiseite. „Das sollte genügen, um Sie uns vom Leibe zu halten."

Im ersten Moment wirkte der Akrobat ein wenig verdutzt, doch nur ein Blick in das Gesicht des Adeligen genügte, um zu begreifen. „Behalten Sie ihn gut im Auge, Monsieur", provozierte er, bevor er sich mit einem Wink vom Acker machte.

Für Bleuciel warf das ganze Geschehen dutzende Fragen auf. Die überschlagenden Ereignisse hatten seinen Verstand gehörig durcheinandergebracht. Was er für eine harmlose Aufführung hielt, war in Wirklichkeit ein heftiger Flirt, der sich bis auf eines der privaten Zimmer erstreckt hätte. Dies zu begreifen hatte mehr Zeit erfordert, als dem blauäugigen Dieb zur Verfügung stand. Nur durch das beherzte Einschreiten von Perceval, gelang es Dubois auf den Boden der Tatsachen zurückzufinden. Schuldbewusst sah er seinem verschmähten Begleiter in die Augen.

„Tut mir leid, Monsieur", war alles, was Bleuciel dazu einfiel.

Mit dem Hauch einer Enttäuschung verzog Perceval das Gesicht. „Da war es mir lieber, als Sie noch mit der Uhr herumgespielt haben, Monsieur", murmelte er. „Ermüdet Sie meine Anwesenheit so sehr?"

„Auf gar keinen Fall!", beharrte Bleuciel, den das schlechte Gewissen plagte und der zugleich von seinem Platz aufsprang. „Sie sind so ein toller Mensch, Monsieur de Rouyer!" Beherzt griff er nach Percevals Händen, um zuzupacken. „Sie sind fröhlich, immer freundlich und unglaublich großzügig", plapperte er, als stünde er unter zeitlichem Druck. „Sie besitzen tolle Talente und schenken einem ein gutes Gefühl. Außerdem sind Sie anderen gegenüber mitfühlend und gerecht und ..."

Nicht länger vermochte Perceval sein charmantes Lachen im Zaun halten zu können. „Ich habe Sie doch bloß aufgezogen, Monsieur", kicherte er amüsiert. „So schnell lasse ich mich von solchen Dingen nicht aus der Bahn werfen." Mit einem Strahlen im Gesicht, neigte er den Kopf. „Aber schön zu erfahren, was Sie bisweilen so von mir halten, Monsieur. Das stimmt mich äußerst froh."

Nachdem sich Bleuciel seiner eigenen Tat bewusstgeworden war, errötete er bis zu den Ohrenspitzen. Er stierte zu Boden und biss sich auf die Unterlippe.

„So hinterlistig", nuschelte er.

„Nicht doch!", widersprach Perceval gut gelaunt. „Ganz im Gegenteil, Monsieur. Ich forme Sie noch zu einem draufgängerischen Abenteurer." Entzückt darüber nahm er den Dieb an die Hand, um gemeinsam mit ihm auf einen der Tische zu steigen.

Wäre Bleuciel in diesem Moment nicht so perplex gewesen, hätte er diese Aktion gewiss nicht zugelassen. Er spürte die Blicke der Leute auf sich ruhen, weshalb er vor Scham am liebsten im Erdboden versunken wäre.

„Ich wünsche einen schönen Abend, werte Mesdames et Messieurs!", johlte Perceval, um sich Gehör zu verschaffen. „Ich habe das Glück, meinen Tag mit dieser großartigen Begleitung hier zu verbringen" Dabei packte er Bleuciel, um dessen Wange einen hörbaren Schmatzer zu verpassen. „Da ich gewillt bin, meine Freude mit Ihnen zu teilen, spendiere ich den hier Anwesenden ein Glas Wein auf meine Kosten!"

Schon war Perceval der Liebling der gesamten Taverne. Die Besucher feierten ihren Wohltäter mit Jubel und Applaus. Leichtfüßig sprang der Adelige zurück auf den Boden, um an den Gastwirt heranzutreten.

„Zweimal Braten mit Kartoffeln und Speck, für mich und meinen Freund", flötete er, als er einhundert Francs aus seiner Tasche zückte. „Und zwei Flaschen Wein", fügte mit einem verschmitzten Lächeln hinzu.

Bleuciel, der zwischenzeitlich vom Tisch geklettert war, fasste sich an die Wange, wo er den dünnen Feuchtfilm fühlte, den Percevals vollmundige Lippen hinterlassen hatten. Dieser Mann war wirklich eine Klasse für sich. Was das bedeutete, sollte der Dieb in den nächsten Stunden noch herausfinden.  

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