Die Gefahr lauert überall

Nachdem die beiden Männer hinreichend geruht hatten, setzten sie ihren Weg Richtung Stadt fort. Dank des Baums war es Bleuciel gelungen, sich erneut auf den Rücken von Monique zu setzen. Gegen halb drei Uhr mittags erreichten sie schließlich die Stadt, in der Dank des Festes ein reges Treiben herrschte.

Für Bleuciel war es das erste Mal. Sobald sie das Tor durchquert hatten, sah er sich sorgfältig um. Im Vergleich zur vorherigen Stadt, wirkte diese lebendiger, was sich anhand des Lärms noch verdeutlichte. Eine pulsierende Ader im Herzen Frankreichs, die viel Wert auf Ordnung und Sauberkeit zu legen schien. Kurz galt Dubois' Blick den akkurat platzierten Pflastersteinen, die den Kutschen ein reibungsloses Vorankommen ermöglichten. Einige davon bahnten sich ihren Weg über die breiten Wege, an deren Ränder sich die zahlreichen Bewohner tummelten. Die erhöhte Präsenz der Gendarmerie mahnte den Dieb derweil zur Vorsicht. Er vernahm die Rufe einiger Händler, die ihr Glück trotz des Festes außerhalb des zentralen Marktplatzes probierten. Womöglich mangelte es an hinreichendem Platz, um alle Verkaufsstände an der begehrten Stelle unterzukriegen.

Auffallend waren die Häuser am äußeren Rand der Stadt, denen es oftmals an einem vollständigen Dach haperte und deren Außenfassade mit mehreren Bruchstellen versehen waren. Offenkundig hauste in ihnen das pure Elend. So entdeckte Bleuciel ein junges Mädchen, die abgemagert und mit nackten Füßen auf einem Stein kauerte, wobei ihr lebloser Blick auf einen unwillkürlichen Punkt gen Himmel gerichtet war. Die Fetzen, die ihr als Kleidung dienten, lösten sich allmählich auf und boten schon lang nicht mehr den nötigen Schutz, um die Kälte von ihrem Körper fernzuhalten. Das permanente Zittern hielt ihre mickrige Gestalt halbwegs warm, kostete das kleine Wesen jedoch enorm viel Energie. Ihr Haar – das vermutlich mal blond gewesen sein musste – war völlig verfilzt und verknotet. Obschon das Mädchen einen erbärmlichen Eindruck hinterließ, schenkte ihr die Außenwelt keinerlei Beachtung. Sie war ihrem Schicksal überlassen, so wie es Bleuciel einst in jungen Jahren gewesen war. Der Anblick schmerzte ihn sehr und sollte noch einige Zeit durch seinen Kopf geistern. Wie ein penetranter Geruch, der einem nicht mehr aus der Nase steigen will.

Je mehr sie sich dem Zentrum näherten, desto schicker wurden die Behausungen. Anstelle von hungernden Kindern, fand man hier kleine Springbrunnen und Parkanlagen, in denen sich die Menschen niederließen, um ihre Seele baumeln zu lassen und den Vögeln bei ihren kleinen Tänzchen auf dem Boden zuzuschauen. Erstaunlich fand Bleuciel, wie dicht die unterschiedlichen Volksschichten beieinanderlagen. Betrübt darüber fiel sein Augenmerk auf eine Steinbrücke, die über den Fluss zu einem kleinen Kloster, mitsamt Friedhof und einem dazugehörigen Garten führte. Dort war allerdings kaum jemand zu sehen.

„Wir nähern uns dem Marktplatz, Monsieur", informierte Perceval, der seine Umgebung im Blick behalten musste, um nicht versehentlich mit irgendwem zu kollidieren. „Bevor wir dorthin gehen, möchte ich Monique zu einem Stall bringen. Ihr behagt die Unruhe hier nicht sonderlich", fügte er, angesichts der vielen Leute, hinzu.

Eine Tatsache, die Dubois durchaus nachvollziehen konnte. „In Ordnung", sagte er, wobei er plötzlich eine unschöne Entdeckung machte.

Beim Anblick des Mannes verspürte der Dieb eine sofortige Nervosität, die eine lähmende Wirkung auf seinen Körper hatte und seinen Darm in völlige Unruhe versetzte. Zu seinem Pech trabte Perceval geradewegs auf ihn zu. Hilflos bangte Bleuciel um eine Möglichkeit, um dieser bevorstehenden Konfrontation zu entgehen. Was aber sollte er tun? Seine Optionen waren beschränkt, wenn nicht sogar gleich bei null. Von Monique runterzuspringen, kam der Verletzungsgefahr wegen nicht in Betracht. Die Aktion würde ohnehin zu viel Aufmerksamkeit erregen.

Ob er Perceval zu einem Richtungswechsel animieren sollte? Gewiss würde dieser den Grund dafür erfahren wollen. Es existierte keine plausible Erklärung, die solch ein Verhalten rechtfertigen würde. Zudem hatten sie den Mann beinahe erreicht, weshalb das Zeitfenster für derlei Vorhaben deutlich zu eng war. All das grenzte an eine nahende Katastrophe, die Bleuciels Herz kräftig gegen die beengte Brust trommeln ließ.

Ferner vergaß er bei all der Aufregung, sich anständig festzuhalten. Erst nachdem er hinab zu rutschen drohte, krallte er sich an Perceval fest. Eine hektische Reaktion, die den Adeligen stocken ließ. Nur noch wenige Meter trennten sie indes von der unerwünschten Person.

Letztendlich blieb Bleuciel keine bessere Wahl, als den Kopf in eine andere Richtung zu lenken. Da er die Kleidung gewechselt hatte, würde ihn der Mann vielleicht nicht auf Anhieb erkennen. Alles worauf er anschließend zu hoffen brauchte, war eine Prise Glück, um unbemerkt an ihm vorbeizukommen. Als sich das Pferd wenige Sekunden später wieder in Bewegung setzte, durchströmte den Dieb eine Welle der Erleichterung. Ein winziger Augenblick des Triumphs, den der unerwartete Ruf von Perceval direkt wieder zunichtemachte.

„Monsieur Dalle!", grüßte dieser, beschwingt wie eh und je. „Welch Freude, Sie unter all dem Treiben hier antreffen zu dürfen."

Eine Meinung, die Bleuciel in keiner Hinsicht teilte.

Der grimmigen Miene von Dalle fügte sich ein geringer Anteil von Heiterkeit hinzu. „Monsieur de Rouyer", erklang die tiefe Stimme des Gendarmen. „Es ist mir wie immer eine Ehre, Sie in der Stadt willkommen zu heißen." Dabei fiel sein misstrauischer Blick auf den Hinterkopf von Dubois.

Ehe Dalle nachhaken konnte, kam ihm der Adelige zuvor. „Darf ich vorstellen? Monsieur Bleuciel Dubois, der liebreizende Gärtner unseres Hauses."

Bei Erwähnung seines Namens, wandte sich der Dieb zu Dalle. Sich noch länger verstecken zu wollen, wäre zwecklos und obendrein auch albern gewesen. Wie zwei glühende Stäbe bohrten sich Dalles dunkle Augen in die von Bleuciel.

„Gärtner?", wiederholte der Gendarm alarmiert. „Mir sagte er, dass er Händler sei."

Durch die Lautstärke seiner Stimme, stellten sich dem Dieb sämtliche Nackenhaare auf. Ebenso gut hätte man ihn an den Pranger stellen können. Er glaubte bereits zu spüren, wie einige der umherlaufenden Passanten zu ihm hinübersahen und eifrig über ihn tuschelten.

Perceval aber, winkte bloß ab. „Händler, Gärtner ... worin liegt da der Unterschied, Monsieur? Mich dünkt, als nehmen Sie die Sache ein wenig zu ernst. Gewiss wird Monsieur Dubois einige der Exemplare verkaufen, sobald sich die Gelegenheit dazu ergibt."

„Mit Verlaub, Monsieur", entgegnete Fernand Dalle streng. „In seiner Kiepe befanden sich lediglich zwei Töpfe minderwertiger Qualität und in solchen Belangen trügt mich mein Erinnerungsvermögen nie."

Die geistliche Schlinge um Bleuciels Hals drohte enger zu werden. Er fühlte sich in die Ecke gedrängt. Unbewusst schmiegte er sich an seinen Vordermann, als erhoffte er, dadurch weiteren Beistand zu erhalten.

„Werter Monsieur Dalle", erwiderte Perceval völlig unbekümmert. „Sie verlieren sich in Kleinigkeiten, meinen Sie nicht auch? Ein bisschen Entspannung täte Ihnen durchaus nicht schaden. Wenn Sie weiterhin so finster dreinblicken, fürchte ich, dass sämtliche Frauenzimmer davonlaufen werden. Ein Umstand, den ich im Übrigen zutiefst bedauern würde", gestand der heitere Mann. „Schon seit Jahren poche ich darauf, endlich Ihrer Hochzeit beiwohnen zu dürfen. Drum sollten Sie Ihre Pflichten hin und wieder etwas mäßigen, um einer hübschen Dame den Hof machen zu können."

Dass Bleuciel einen geschwätzigen Menschen mal für derart wertvoll erachten würde, hätte er bis zum jetzigen Zeitpunkt nicht für möglich gehalten. Heimlich zupfte er an der Weste seines Vordermannes, um einen stummen Dank auszudrücken. Nichts desto trotz ließ sich Dalle von all dem Palaver nicht aus der Fassung bringen.

„Meine Hingebung gilt in erster Linie dem Gesetz, Monsieur." Räuspernd richtete Dalle den Zweispitz auf seinem Kopf. „Ihnen ist sicher bewusst, wie sehr ich Sie und Ihren Vater respektierte. Gerade deshalb liegt es mir nahe, Sie vor jeglichen Gefahren zu bewahren." Kurz galt seine Aufmerksamkeit Bleuciel. Seine Abneigung, ihm gegenüber, war nicht zu übersehen. „Ich möchte Ihnen mitteilen, dass dieser Mann dort ein Fremder ist, dem man beileibe nicht über den Weg trauen sollte. Er kam zu später Stunde hier an und wirkte sichtlich gehetzt. Mein Instinkt sagt mir, dass er irgendwas verbrochen haben muss."

Bei den harschen Worten verkrampfte Bleuciels Magen. Nicht mal ein Widerspruch lag dem Dieb auf der Zunge, da der Gendarm im Grunde die Wahrheit sprach. Am meisten fürchtete er, dass Perceval darauf einsteigen könnte und sich ihre Wege fortan trennen würden. Mit einer schweren Last im Bauch, wartete Bleuciel auf die nächste Handlung des Adeligen. Die Sekunden bis dahin, fühlten sich für den Dieb wie eine quälende Ewigkeit an.

Zur Überraschung beider Parteien lachte Perceval plötzlich auf.

„Du meine Güte, wie aufregend", säuselte er. „Mir scheint, als hätte ich einiges verpasst." Dabei ließ er ein zufriedenes Seufzen ertönen. „Ihre Besorgnis um mich ist wirklich bewundernswert, Monsieur. Ich danke Ihnen dafür und werde meinem Vater berichten, was für ein pflichtbewusster Leutnant Sie sind. Sie in dieser Stadt zu wissen, ist wahrlich ein Segen, doch sorgen Sie sich nicht wegen des harmlosen Gärtners hinter mir. Ich gebe acht, dass er keine Dummheiten macht, in Ordnung?"

Ein Vorschlag, der den Gendarmen in keiner Weise zufriedenstellte. Ihm war jedoch bewusst, dass er sich vorerst geschlagen geben musste. Der Adel besaß viel Macht und Einfluss. Sich in diesem Augenblick auf eine weitere Diskussion einzulassen, wäre nicht sonderlich geschickt. Dafür fehlten Dalle noch die nötigen Beweise, um Bleuciel einer echten Tat bezichtigen zu können.

„Obgleich mir Ihre Entscheidung nicht gänzlich zusagt, werde ich sie respektieren", sagte Dalle im Zuge einer angedeuteten Verbeugung. „Ungeachtet dessen, täten Sie mir einen großen Gefallen, wenn Sie meine Worte im Hinterkopf behielten, Monsieur. Dies bezüglich steht mir nur Ihr Wohlergehen im Sinn."

„Ich werde Ihre Warnung beherzigen, Monsieur", entgegnete de Rouyer, dessen Gedanken schon längst woanders waren. Für ihn stand bloß das Fest im Vordergrund.

Als sich das Pferd erneut in Bewegung setzte, überwand sich Bleuciel zu einem knappen Nicken. Ein leiser Abschied, den Fernand Dalle gekonnt zu ignorieren wusste. Missmutig verschränkte der Mann die Arme vor der Brust. Wie sich ein fremder Gauner innerhalb eines Tages an die Fersen eines Adeligen heften konnte, war dem Gendarm ein Rätsel. Ein Rätsel, welches er baldigst zu lösen gedachte. Schließlich befand sich der Fremde auf seinem Territorium. Das generelle Misstrauen, das ihm seit jeher innewohnte, wog in diesem speziellen Fall so schwer, dass Dalle nicht untätig bleiben konnte.

Da er die Stadt wie seine Westentasche kannte, folgte er den beiden, ohne entdeckt zu werden. Er wusste um den nötigen Abstand, um nicht gesehen zu werden. Zudem organisierte er ein paar Männer, die sich zu bestimmten Positionen der Stadt begeben sollten. Sobald Bleuciel einen Fehler begehen würde, wäre Dalle zur Stelle, um ihn Dingfest zu machen.

Bleuciel, der von alldem nichts mitbekam, fühlte die aufkeimende Euphorie, die ihm beiläufig ein Lächeln bescherte. Seine Sympathie, die er für Perceval hegte, nahm stetig zu. Dass sich dieser so beherzt für ihn eingesetzt hatte, stimmte ihn froh und ließ ihn obendrein an das Gute im Menschen glauben.

In der Nähe des Marktplatzes befand sich ein Brunnen, an dessen Seite sich ein Stall erstreckte. Dort kam Perceval schließlich zum Stehen. Er stieg vom Pferd und verhalf Bleuciel dabei, ohne Zwischenfälle auf den Boden zu gelangen.

„Warten Sie kurz, Monsieur", bat de Rouyer. „Ich möchte Monique rasch unterbringen."

Die Wartezeit nutzte der Dieb, um seine müden Gliedmaßen ausgiebig zu strecken. Es tat zur Abwechslung ganz gut, auch mal die eigenen Füße zu benutzen. Währenddessen ließ er den Blick durch die Menge schweifen. Die meisten Bewohner schienen dem Herbstfest beiwohnen zu wollen. Sie lachten und schlenderten aufgeregt in die Richtung, aus der hin und wieder Jubelschreie und Geklatsche vernommen werden konnten. Selbst Bleuciel verspürte angesichts des bevorstehenden Ereignisses eine gewisse Vorfreude, die seine Sinne kitzelte und sämtliche Sorgen für eine Zeitlang in den Hintergrund drängte.

Er bemerkte indes nicht mal, dass Perceval zurückgekehrt war. Dieser wiederum erfreute sich an den entspannten Gesichtszügen, die Bleuciel nur selten erblicken ließ.

Ungeniert ergriff Perceval die Hand seines Begleiters, um auf sich aufmerksam zu machen. „Also, Monsieur. Möchten Sie gemeinsam mit mir das Herbstfest unsicher machen?"

Die Berührung ließ das Herz des Diebes kurzweilig höherschlagen. „Gewiss doch", erwiderte Bleuciel, was er auch tatsächlich so meinte.

Es schien beinahe so, als könnte dies der schönste Tag seines bisherigen Lebens werden. Gemeinsam eilten die Männer davon. Kurz darauf war es Dalle, der ihnen folgte und der den Dieb stets im Auge behielt. 

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