Kapitel 8



Tränen verschleierten Laylas Sicht. Ihr Herzschlag hämmerte ihr wütend in den Ohren. Die Welt um sie herum begann sich aufzulösen. Die wenigen Passanten, die noch unterwegs waren, warfen ihr seltsame Blicke zu. Doch sie war viel zu schnell, als das sich jemand die Mühe machte ein weiteres Mal hinzusehen. Immer weiter und weiter rannte Layla die einsamen Straßen von Aldebaran entlang, während ihre Vergangenheit sie wie ein Strudel in den Abgrund riss:

Sie war fast neun Jahre alt. Noch ein paar Wochen, dann würden ihre Eltern sie morgens mit einem Haufen Geschenke wecken. Layla konnte es kaum erwarten. Schon jetzt kribbelten ihre Hände vor Ungeduld.
Sie griff nach Parvs Arm und zog ihren Stoffhasen zu sich auf die Fensterbank. Über ihr zog ein funkelndes Band aus Sternen über den Himmel. Kalter Wind blies ihr das helle Haar aus dem Gesicht und kühlte ihre erhitzten Wangen. Leise begann sie zu sprechen:
„Hallo Sternenläufer. Ich weiß, dass ihr mich hören könnt, auch wenn die Lehrer mir gesagt haben, dass ihr nur eine Geschichte seid. Mama meint, in jeder Geschichte steckt ein Funken Wahrheit. Deshalb weiß ich auch, dass Lehrer nicht alles besser wissen. Auch wenn sie immer so tun. In ein paar Wochen habe ich Geburtstag. Ich hoffe, dieses Mal bekomme ich ein Pferd. Die meisten in meinem Jahrgang haben schon eins und reiten damit zur Schule."

Nachdenklich zählte sie die stecknadelgroßen Lichter über ihr. „Heute sehe ich so viele von euch. Bedeutet das..."

Ein Schrei zerriss die friedliche Stille. Krächzend stob ein Schwarm Krähen davon.

Irritiert huschten ihre Augen umher. Dann glitt sie von der Fensterbank und zog Parv mit sich zurück in den Schutz des Hauses. Fest verschloss sie das Fenster. Ihre Mutter würde sauer sein, wüsste sie, dass ihre Tochter draußen in der Kälte saß. In Gedanken hörte Layla ihre mahnende Stimme: „Du erkältest dich bloß. Schau dir an, wie kalt es hier drin ist. Ab ins Bett mit dir."

Ein erneuter Schrei. Markerschütternd. Schmerzvoll. Näher als der letzte. Zu nah. Als käme er von direkt unter ihren Füßen.

Sie brauchte mehrere Sekunden, um zu begreifen, dass es ihre Mutter war, die schrie.

Eisige Kälte griff nach ihrem Herzen. Und dann: Panik. Ihren Stoffhasen fest an sich gedrückt riss sie ihre Zimmertür auf. Alles lag in Dunkelheit. In ihrer Hast fiel sie beinahe die Treppe hinunter. Die Tür zur Küche war nur angelehnt. Wie in Trance steuerte Layla darauf zu. Ihr Atem ging stoßweise. Sie hörte ein Wimmer und spürte den Luftzug der offenstehenden Haustür. Kurz schwenkten ihre Augen hinüber. Lange genug, um die Schatten zu sehen. Wie im Wind flatternde Vorhänge huschten sie in den Flur. Das Unheil kam mit ihnen.

Die klare Nachtluft verlor ihre Klarheit und Verträumtheit. Verwesung und Tod trafen Layla wie eine Schockwelle. Plötzlich war einer der Schatten vor ihr. Vor Schreck fiel ihr Parv aus den Händen.

Ihr Atem stockte. Die Augen weit aufgerissen. Vor ihr stand ein Monster. Die Haut war schwarz und verkohlt. Die Augenhöhlen gefüllt mit geisterhaftem Nebel. Brüchige Zähne ragten aus dem riesigen Mund und lächelten ihr grotesk entgegen. Layla schrie.

Lange, knochenartige Hände streckten sich nach ihr aus. Und dann...

Schmerz.

Nicht ihr eigener. Das Monster schrie, bevor es zu ihren Füßen zu Boden sackte. Layla erhaschte nur einen kurzen Blick auf ihren Vater. Er griff nach ihrem Arm und zog sie zu sich. „Papa, was ist..."

Er drückte ihr etwas in die kleinen Hände.

„Lauf, Layla", flüsterte er und schob sie in Richtung Haustür. „Versteck dich im Wald und warte bis ich dich holen komme."

„Aber..."

„Lauf!" Die Panik in seiner Stimme trieb sie an. Layla rannte. Rannte so schnell wie noch nie zuvor in ihrem Leben.

Auf der Straße stolperte sie über die erste Leiche.
Layla fiel der Länge nach hin. Für einen Augenblick war sie wie erstarrt. Die glasigen Augen ihres Nachbarn starrten ins Nichts. Ihre Panik wurde zu Angst. Bodenloser Angst. So schnell sie konnte rappelte sie sich auf. Um sie herum ging die Welt unter. Schreie. Das klirren von Waffen. Und überall Schatten, die wie aus dem Nichts zu kommen schienen. Sie lösten sich von Bäumen, Holzschuppen und Regentonnen, als seien sie eben noch Teil dieser Sachen gewesen. Wie Reptilien krochen sie aus jeder finsteren Ecke hervor. Es sah aus, als würde sich alles bewegen: Die Häuser, die Straße, der Gartenzaun vor ihr.

Layla schlug einen Haken und tat, was ihr Vater ihr befohlen hatte: Sie rannte in den Wald. Tannenadeln und Wurzeln bohrten sich in ihre nackten Fußsohlen. Schürften sie auf, ließen sie etwas anderes als Furcht fühlen.

Tiefer und tiefer lief sie in den Wald. Das Blätterdach schluckte jedes bisschen Licht. Sie konnte die Sterne nicht mehr sehen. Die Kälte fraß sich in ihre Haut. Es war so dunkel, dass sie glaubte mit den Schatten zu laufen. Irgendwann brach sie unter einer Tanne zusammen. Sie kroch über den Boden bis sie ihren Rücken an den Stamm lehnen konnte. Schmerzhaft schlug ihr Herz gegen die Rippen. Sie klammerte sich an das einzige, was sie hatte: den Gegenstand, den ihr Vater ihr in die Hände gedrückt hatte. Den Dolch ihrer Mutter.

Layla hauchte in ihre vor Kälte tauben Hände. Machte sich ganz klein und kauerte sich zitternd unter dem Baum zusammen. Es gab nur eine Sache, die ihr jetzt helfen konnte. Auch wenn sie die Sterne in diesem Moment nicht sehen konnte, wusste sie doch, dass sie immer bei ihr waren. Dann faltete sie die Hände und begann zu flüstern. Jedes Wort verließ ihre raue Kehle flehender als das Letzte.

„Bitte", flüsterte sie, während ihr Körper unkontrolliert bebte. „Bitte rettet sie."

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