6.2 Óneiro - Traum


„Unglaublich", murmelte Lyra, als sie das Tor passierten und sie erneut eine Hand auf das Silber legte. „Jetzt ist es komplett warm."

„Die Macht der Götter", sagte Castor beeindruckt und vielleicht etwas ängstlich.

„Nie ganz verständlich", pflichtete ihm Calypso bei, „und doch immer um uns. Ich glaube daran, dass die Götter immer über uns wachen."

„Ich hätte nicht gedacht, dass ein einfaches Gebet ausreichen würde", meinte Lyra. „Wie hast du das herausgefunden?"

„Instinkt?", erwiderte Calypso und lächelte. „Ehrlich, ich bin mir nicht sicher. Ich habe zum Poseidon gebetet und ihn nach Hilfe gefragt, da ist es mir in den Sinn gekommen, dass ich vielleicht zu dem Gott beten muss, dessen Bildnis am hellsten leuchtet."

„Unglaublich", entgegnete Lyra erneut und schüttelte ihren Kopf kaum sichtbar.

Als sie dem Pfad hinter Dionysos' Tor folgten, erreichten sie einen abgedunkelten Raum. Er war von der Größe des Raumes, in dem Eos den Dolch erworben hatte, doch er war nicht mit tödlichen Scherben und Metallspitzen gefüllt. Die Wände des Raumes waren von silbern-weißer Farbe. Sie glichen dem Mondlicht. Der Boden war über und über mit Mosaiken verziert, die die wunderschönsten Abbildungen und Szenen aufzeigte, die sie sich nur vorstellen konnte. Einmal konnte Eos die neun Musen erkennen, die in einem komplett weißen Amphitheater standen und auf ihren Lauten spielten und daneben gab es das Bildnis der Persephone, wie sie die Granatäpfel aus der Unterwelt verzehrte.

Doch das erstaunlichste, war die Decke, die schwarz und mit weißen Punkten bestückt war. Wie der Nachthimmel. Vielleicht war sie mit göttlicher Macht erfüllt und war eine Brücke zum Himmel oder es war eine Täuschung seiner Sinne, weil Eos sich wirklich müde fühlte. Egal, was es war, er mochte es und er mochte diesen Raum.

„Das ist so faszinierend", hauchte Calypso und betrachtete das Mosaik auf dem Boden. „Dass solch schöne Orte hier unten existieren, hätte ich mir niemals ausmalen können. Es ist eine Verschwendung."

„Kein Sterblicher wird sie je sehen können, ohne sich einer tödlichen Gefahr auszusetzen. Vielleicht sind es Belohnungen. Nur, wer der Gefahr trotzt, wird diesen wahren Anblick der Schönheit erblicken", erwiderte Lyra. Ihr Blick war auf das Bildnis des Hades gerichtet, der am Ufer des Flusses Styx stand.

Eos konnte nicht sagen, welche Farbe der Fluss hatte, auf dem der Fährmann in die Unterwelt gelangte. Einerseits sah er dunkelblau aus. Andererseits grün. Dann wieder schwarz. „Ein Anblick, für den es wahrlich wert ist, sich in diese Untiefen zu begeben."

Die nächsten Minuten verbrachten die vier Kameraden damit, dass sie sich den leuchtenden Mosaikboden ansahen und die verschiedensten Szenen und Bildnisse in Augenschein nahmen.

An einer Abbildung aus der Herakles-Sage konnte sich Eos kaum sattsehen, bei der der große Held den Drachen Ladon austrickste, um einen goldenen Apfel vom Baum im Garten der Hesperiden zu pflücken. Beinahe meinte er, dass er den Geschmack der Frucht auf seiner Zunge spüren konnte und das Gift des Drachen, welches seinen Körper durchfloss.

Es war nur ein Bild und dennoch hatte er die Furcht, dass das Monster sich des Nachts aus seinem steinernen Gefängnis befreien und sie bei lebendigem Leib verschlingen würde. Die Augen des Monstrums leuchteten, als wären sie glänzende Edelsteine und die Zähne funkelten im Licht, weiß wie Perlen.

„Wir sollten hier die Nacht verbringen", schlug Eos vor. „Aber mit Wachen. Ich kann –"

„Nein, ich übernehme die erste Wache", unterbrach Calypso ihn und blickte mit strengem Blick zu ihm herüber. Sie stand bei dem Amphitheater mit den Musen und vielleicht bildete er es sich ein, aber konnte er dort leise Musik hören? „Du bist noch immer verwundet. Wenn jemand die Erholung gebrauchen kann, dann du."

Lyra nickte. „Richtig. Ich werde die zweite Wachschicht übernehmen."

Castor wollte die dritte Schicht übernehmen und Eos wäre beinahe eingeschritten, doch unter Calypsos strengen Blick blieb er stumm.

Grimmig nickend setzte sich Eos an den Fluss Styx. Er legte den Beutel neben sich und blickte lange Zeit auf die verschiedenen Farben des Wassers, bis er bemerkte, dass er nicht allein dort saß.

Calypso hatte sich neben ihn gesetzt. Der Abstand war groß, aber nicht groß genug, damit er sich fragen müsste, ob sie seine Gesellschaft nicht mögen würde.

Sie schenkte ihm ein sanftes Lächeln. „Du musst nicht den starken Mann spielen", sagte sie leise. „Wir wissen, dass du mutig und tapfer bist."

„Ich spiele nicht –", fing er an, doch verstummte.

„Versuch nicht zu schlecht von mir zu denken. Aber du erinnerst mich sehr an einen Freund, den ich mal hatte. Er war auch mutig und stark und gerecht und genau das brachte ihm einen frühen Tod ein." Sie seufzte und blickte auf ihre Fingernägel. „Es ist vielleicht ein Jahr her, so genau weiß ich das nicht einmal. Aber seitdem... naja."

„Tut mir leid", erwiderte er mehr aus Reflex.

„Schon okay. Mir tut es leid, dass ich so besorgt mit dir umgehe, Eos. Ich weiß ja, dass wir uns nicht wirklich kennen und ich kein Recht dazu habe."

„Aber irgendwie gefällt es mir", platzte es aus ihm heraus und Calypsos Blick schoss nach oben.

Eos wurde tiefrot. „Ich meine – also, dass du so besorgt reagierst. So allgemein gesehen, meine ich, weißt du."

„Ah." Ihr Mund verzog sich zu einem Lächeln und strahlte es heller als die mondfarbene Wand. „Dann bin beruhigt." Calypso strich sich über ihr Gewand, dann erhob sie sich langsam. „Du solltest schlafen, Eos. Ruh dich aus. Gute Nacht."

Sie streckte ihre Hand aus, als wolle sie seine Schulter berühren, doch dann ließ sie sie wieder sinken und ging davon.

Lyra und Castor hatten sich ebenfalls bereits auf den Boden gelegt und die Augen geschlossen.

Calypso ging hinüber zum Eingang des Raumes und setzte sich an die Wand.

Damit er sie nicht anstarrte, drehte Eos seinen Kopf auf die andere Seite und legte sich dann auf den Boden. Er war angenehm warm und keinesfalls so hart, wie er sich den Stein vorgestellt hatte.

Der Schlaf fand recht schnell zu ihm. Wenige Momente, nachdem er die Augen geschlossen hatte, war die Erschöpfung in seinen Körper eingedrungen und durchtränkte jeden seiner Knochen und jede seiner Faser.

Im Traum hatte er Calypso vor sich. Sie hatte einen so schönen, weißen Chiton an. Ihre Haare waren geflochten und fielen in langen Strähnen über ihre Schulter, dass die junge Frau so wie eine wahre Göttin aussah. Ihre Augen strahlten und sie redete. Worüber, das wusste er nicht. Er hörte lediglich ihre Stimme und es beruhigte ihn. Er achtete auf die Bewegungen ihres Mundes, wie ihre Haare in einer nicht bemerkbaren Brise durcheinandergewirbelt wurden und wie sie sich manchmal am Handgelenk entlangstrich, wenn sie lächelte.

Und wenn sie lächelte, dann gingen nicht nur die Sonne und der Mond auf, dann schlug sein Herz schneller und die Winde jagten sich über den Himmel und das Meer schäumte auf.

Der Traum wurde zum Albtraum, als Calypsos Gesicht verzerrt wurde. Ihr Mund blieb offen und weitete sich, ihre Haut wurde bronzefarben und rostig, ihre Arme dehnten sich zu Flügeln mit schartigen, tödlichen Klauen. Hände und Füße wurden zu blutbenetzten Krallen und Dampf quoll pfeifend aus ihrem Schädel. Ihr Gesicht war zu der Fratze der Sirene verzerrt und jetzt hörte Eos ihren schrecklichen Schrei, der in seinen Ohren klingelte. Im Rachen der mechanischen Frau rotierten rasiermesserscharfe Zähne und er wollte sein Schwert ziehen oder wegrennen, doch erst da bemerkte er, dass er nackt war und nichts bei sich hatte.

Sein Schrei war stumm. Er konnte sich nicht bewegen. Die mechanische Sirene ließ ein lautes, klackendes Geräusch mit in ihr Geschrei einfließen. Er bemerkte, dass sich ihre bronzenen Federn schlangengleich um seine Arme gewickelt hatten. Sie zerrten an seinen Gliedmaßen und brachten seinen Kopf immer näher ihres Schlundes, als wolle sie ihm einen tödlichen Kuss schenken.

Eos wollte sich wehren, wollte schreien, treten oder irgendetwas tun, doch er konnte nicht. Es war, als wäre er in der Zeit eingefroren.

Die Sirene fuhr mit ihren blutverschmierten Krallen über seine Haut und hinterließ rote Striemen, tiefe Schnitte, längst verheilte Narben... Sie drückte ihren Rachen immer näher an ihn heran und er konnte die rotierenden Zähne nun genau sehen. Es würden nur noch wenige Momente vergehen, ehe sie sein Gesicht zerfleischen würden.

Das Gefühl der Stase wollte nicht vergehen. Eos fühlte sich hilflos und ängstlich. Kein bisschen seines Mutes war übrig, welchen Calypso noch bewundert hatte. Er war verschwunden, genau wie sie es war. Er war entblößt und hatte Angst und würde sterben und –

Mit dem Schrei der Sirene noch im Ohr, wachte Eos auf.

Sein Gewand war getränkt mit kaltem Schweiß und er atmete schwer und zitternd ein und aus. Im Schlaf hatte er seine Finger über den Steinboden kratzen lassen und sie sich an einigen Stellen aufgeschürft. Eos schloss die Augen und konnte wieder die mechanische Sirene vor sich sehen, die sein Gesicht mit ihren rotierenden Zähnen zerfetzen wollte.

Castor und Lyra lagen noch seelenruhig auf dem Boden und schliefen.

Calypso saß an der Wand und hatte die Arme verschränkt und den Blick zur Decke gerichtete. Obwohl ihr Atem sehr gleichmäßig ging, konnte er erkennen, dass sie blinzelte, also noch wach war. So vorsichtig wie möglich wischte er sich mit der Hand über das verschwitzte Gesicht, damit er sie nicht auf sich aufmerksam machen würde.

Unsinn, dachte er wütend. Er würde keine Angst vor einer Traumgestalt haben. Wenn er nicht einmal die Traum-Sirene besiegen konnte, wie sollte er es dann erst mit der echten, weitaus tödlicheren aufnehmen können? Nein, ich habe keine Angst vor ihr.

Noch viele Minuten lag er wach und konnte sich nicht selbst dazu bringen, die Augen wieder zu schließen. Stattdessen war sein Blick an die Nachthimmeldecke gerichtet, die ihm so fern und unwirklich vorkam, dass er sich ständig fragte, wie sie wohl zustande gekommen war und wieso sie überhaupt existierte.

Als er es nicht mehr aushielt, legte er sich seinen Unterarm über die Augen. Wenn er sich auch zwingen musste, er schlief nach kurzer Zeit wieder ein und diesmal glitt er in einen traumlosen Schlaf, ohne tödliche Sirenen und auch ohne das Bildnis einer göttlichen Calypso.

„Bis jetzt schlagen sich die Kinder außerordentlich gut", murrte die Stimme eines Mannes und klang dabei nicht sehr erfreut.

„Sie haben Potenzial", stimmte ihm eine Frauenstimme zu, die samtig und weich klang, aber auch irgendwie einen tiefen Baritonton innehatte, „aber nicht alle von ihnen. Niemals werden sie alle die sieben Tage und sieben Nächte überleben. Am Ende gibt es immer Opfer, nicht wahr?"

„Besonders unter Helden", sagte der Mann. „Helden sind doch dafür bekannt, dass sie sich opfern und keine schönen Enden haben. Jetzt heißt es wohl abwarten, nicht wahr? Bis sie einer nach dem anderen fallen und ihre Seelen in die Unterwelt einkehren."

„Und wer von ihnen wird wohl in die elysischen Felder einkehren können?", fragte die Frau.

„Ich habe ein paar im Blick", erwiderte der Mann und es klang so, als müsste er lächeln. „Und bei ihnen kann ich mir sogar sicher sein, dass sie diese Tage nicht überstehen werden. Vielleicht sollte ich noch einige Gefahren ins Labyrinth bringen, was meinst du?"

„Hm, ich habe schon eine Idee, von welchen Gefahren du sprichst, mein Liebster. Aber ob sie damit überhaupt fertig werden können?", entgegnete sie gurrend. „Ob das nicht noch ein bisschen zu viel für die kleinen Helden ist?"

„Wir warten noch einen oder zwei Tage. Wer bis dahin noch am Leben ist, hat auch Chancen, mit diesem Monster fertig zu werden." Nun lachte der Mann, aber es war nicht bösartig oder kalt, sondern vielmehr erfreut. „Sie hatten doch schon so lange keinen Spaß mehr."

„Oder ein ordentliches, saftiges Stück Fleisch. So jung sind sie noch besonders zart", antwortete die Frau.

„Ich setze auf das Mädchen", sagte der Mann. „Sie wird einen wahren Heldentod sterben."

„Hm und wahrscheinlich wird sie dabei den Jungen retten. Was junge Liebe doch so anrichten kann, nicht wahr?", fragte die Frau lachend.

„Davon könntest du sicherlich ein Lied singen, nicht wahr, meine Liebste?"

„Das könnte ich, wie wahr." Sie machte eine Pause und lauschte. „Ich kann sie schon wieder dort draußen keifen hören."

„Sie werden immer so aufgeregt, wenn solche Opfer bevorstehen. Lass sie sich noch ein bisschen freuen, meine Königin. Sie haben nicht jeden Tag die Chance auf solch ein Fest", sagte der Mann beruhigend. „Bald werden sie sich wieder beruhigt haben."

„Ach, na schön. Aber sie sollen fern von meinem Garten bleiben, sonst verwandele ich sie in Rhododendronbüsche."

„Ich werde dafür sorgen, dass sie deine kostbaren Blumen nicht anrühren."

Die Stimmen schienen wie im Rauch zu verfliegen.

Als Eos geweckt wurde, war die Nachthimmeldecke von einer hellgrauen Färbung und die Sterne waren weitergewandert. Lyra, Castor und Calypso hatten ihn die restliche Nacht schlafen lassen und als er sich aufsetzte, um seine Wunde zu betrachten, mussten sie alle drei voller Erstaunen feststellen, dass von den drei tiefen Schnitten nicht mehr als graue Narben übrig waren.

„Aber... wie ist das möglich?", fragte Lyra verwirrt.

„Ich kann es nicht erklären", sagte Eos und streckte zum Versuch seine Arme in die Höhe. Die Narben zwickten etwas, aber sie brannten nicht und es tat nicht weh. „Das muss Gotteswerk sein."

„Dein Schutzgott muss dein Gebet erhört haben", vermutete Castor.

„Vielleicht sind sie uns wohlgesonnen, weil wir im Labyrinth sind", sagte Calypso. „Was auch immer der Grund ist, wir sollten dankbar dafür sein. Lasst uns den Göttern mit einem weiteren Gebet für Eos' rasche Genesung danken."

Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top