4.1 Neró - Wasser
In den Geschichten, die Dias über das Labyrinth von Kreta gehört hatte, wurde es als das atemberaubendste Bauwerk der Geschichte beschrieben. Mit goldenen Türmen und Wänden aus Silber. Mit den schönsten Verzierungen und Stuckleisten, die man in der Welt finden konnte.
Doch das, was er hier sah, war vielmehr der Eingang zu einem gewöhnlichen Kellergewölbe. Die Tür war aus Bronze, aber an den Ecken und Kanten hatte sich ein schmutzig brauner Überzug gebildet und die Stufen, die hinabführten, waren stellenweise gebrochen und schmutzig, wie der Rinnstein. Es war alles andere als beeindruckend und doch... und doch hatte er großen Respekt davor.
Als er und die drei anderen, mit denen man ihn zusammengesteckt hatte, ins Labyrinth gebracht worden waren, hatte Finsternis alles Licht verschluckt und der einzige Geruch, der an seine Nase gedrungen war, war modrige Erde gewesen. Jetzt, da sie die Augenbinden abgenommen und sich einen Überblick verschafft hatten, roch er gar nichts mehr. Die Luft um sie herum war klamm und feucht; jeder Stein im Boden und an der Wand war genau gleich.
Mit nichts weiter als einem Schwert und einem Schild bewaffnet, die beide ganz sicher schon bessere Tage gesehen hatten, war er vorsichtig in Begleitung der anderen drei tiefer ins Labyrinth eingedrungen. Eines der Mädchen, welches bei ihm war, ihr Name war, so meinte er sich zu erinnern, Vaia, hatte den Vorschlag gemacht, dass sie auch all die Wände absuchen sollten.
„Dädalus war ein genialer Baumeister", hatte sie gesagt. „Deswegen glaube ich nicht, dass er nur Dinge gebaut hat, die sofort für das Auge sichtbar sind. All die Statuen und Monumente, die er entworfen hat, die haben alle so unendlich viele Details, die man nur wahrnehmen kann, wenn man wirklich genau hinsieht. Wenn man die groben Umrisse vergisst und sich auf bestimmte Stellen verlässt. Ich glaube, so ist es auch hier. Irgendwo müssen versteckte Hinweise sein. Vielleicht ein Schalter. Oder eine Tür, die so nahtlos in den Stein gebaut wurde, dass sie mit dem Auge nicht zu erkennen ist."
Ihre Worte hatten Sinn ergeben, deswegen hatten sowohl Dias als auch Elara, ein wirklich kleines Mädchen, welches sich an einen viel zu großen Bogen klammerte und sich immer in seinem Schatten aufhielt, und Sotiris, ein Junge, der sich sofort damit gebrüstet hatte, dass er schon oft in den Irrgärten in Athen war und sich niemals verlaufen hatte, jeden Stein an den Wänden abgetastet. Es war eine mehr als mühselige Arbeit, doch Vaia war der Ansicht, dass sie sich irgendwann auszahlen würde.
„Ich habe gehört, König Minos hat Dädalus in seinem eigenen Labyrinth eingeschlossen, in einem Raum in der Mitte. Wenn man diesen Raum finden würde, dann könnte man vielleicht Dädalus unvollendete Werke betrachten. Vielleicht gibt es sogar eine Karte!" Sie war aufgeregt und das, obwohl sie sich noch zuvor beklagt hatte, dass man sie von ihrer Zwillingsschwester getrennt hatte.
Also hatten sie alle die Wände abgesucht; hatten jeden Stein abgetastet, auf jede Bodenplatte mit dem Fuß gedrückt, jede Fuge mit den Fingern nachgefahren und waren nicht fündig geworden.
„Das bringt doch nichts", sagte Sotiris eine halbe Ewigkeit später, aufgebracht und mürrisch. „Wir suchen bestimmt schon seit Stunden diese verdammten Steine ab! Es wäre so viel leichter, wenn wir einfach weiterziehen würden, damit ich dem Minotaurus mein Schwert in den Rachen rammen kann."
So sehr Dias seinen Tatendrang auch schätzte, so musste er auch zugeben, dass sie es mit dem Minotaurus nicht aufnehmen konnten. Er hatte die Bestie zwar noch nie von Angesicht zu Angesicht betrachten dürfen, doch alleine die Mythen, die sich um sie rankten, reichten vollkommen aus, damit er sich nicht in die Nähe dieses Ungeheuers wagen wollte. Nicht für den größten Berg aus Gold, den es auf dieser Welt gab.
„Vielleicht sollten wir eine Pause einlegen. Uns ein bisschen mehr verständigen, wie wir vorgehen wollen", sagte er. „Ich unterstütze deine These, Vaia, aber auf Dauer können wir das nicht aufrechthalten. Wir werden fahrlässig und dann etwas übersehen, da bin ich mir sicher. Wir sollten uns ausruhen. Es ist körperlich vielleicht nicht besonders anstrengend, dafür aber geistig."
„I-Ich stimme zu", murmelte die kleine Elara, die sich noch immer an Dias' Seite aufhielt und versuchte, sich so klein und unauffällig wie möglich zu machen. Durch das schummerige Licht sahen ihre Gesichtszüge im Schatten eingefallen aus. Ihm fiel auf, dass sie ziemlich blass wirkte. Mehr, als es gesund wäre.
Sotiris machte ein schnalzendes Geräusch mit seiner Zunge, stimmte aber schließlich zu, dass sie sich ausruhen sollten.
„Geht es dir gut?", fragte Vaia an Elara gewandt, deren Gesicht vor Schweiß glänzte.
„J-Ja, schon. Mach dir keine Sorgen um mich." Sie versuchte sich an Lächeln, von welchem Dias dachte, das es vielleicht aufmunternd wirken sollte, doch es war grotesk und verzerrt. „Nein, wirklich", fügte sie hinzu, als Dias ihr einen besorgten Blick schenkte. „Ich bin immer ein bisschen krank. Das ist nichts, wirklich."
„Immer?", fragte Dias. „Wieso das denn?"
„Ich weiß nicht. Meine Mutter sagt immer, das kommt, weil ich nicht genug bete. Aber ich bete jeden Tag zu den Göttern, wirklich!" Sie wirkte so verletzlich. Er hatte irgendwie den Drang, sie in eine warme Stoffdecke zu wickeln und ihr ein heißes Getränk zu bringen, damit es ihr bessergehen würde. Elara sah so winzig aus, dass er Angst hatte, sie würde bei einer falschen Berührung zerbrechen.
Vaia runzelte die Stirn. „Das - ", fing sie an, unterbrach sich aber. Sie schüttelte den Kopf und versuchte dann, ein Lächeln aufzusetzen. „Ich würde vorschlagen, dass wir uns immer links halten. Wenn wir immer an einer Wand bleiben, dann ist die Gefahr klein, dass wir uns verlaufen. Wir werden uns so oder so nicht orientieren können, dafür ist das Labyrinth zu wirr aufgebaut. Dädalus wusste eben genau, was er tat." Das sagte sie keinesfalls betrübt, sondern eher so, als würde ihr dieser Fakt ganz besonders gefallen. Ja, fast so, als wäre sie sehr stolz darauf.
„Es wird für uns keine Möglichkeit geben, uns ohne Hilfe hier zurechtzufinden", sagte Dias, der ihr in diesem Punkt zustimmen musste. Die Hand, die er auf den Ledergriff seines alten Schwertes gelegt hatte, das ihm die Wachmänner gegeben hatten, spannte sich bei diesem Gedanken an. „Ich denke, die einzige Möglichkeit, wie wir hier überleben werden, ist, dass wir versuchen, dem Minotaurus aus dem Weg zu gehen. Wenn wir ihn sehen, müssen wir rennen. Wir können ihn nicht schlagen."
„Du redest Unsinn!", rief Sotiris aus. „Wir sind doch hier, um den Minotaurus zu schlagen! Ich werde sicherlich nicht vor diesem haarigen Biest weglaufen."
„Ich werde dich nicht aufhalten, wenn du in dein eigenes Verderben laufen willst", erwiderte Dias kühl und Sotiris funkelte ihn an.
„Wir werden sehen, wer in sein Verderben laufen wird. Ich werde nicht nur mit meinem Körpergewicht in Gold wieder nach Hause einkehren; dabei werde ich den Kopf des Untiers auf eine Speerspitze spießen und ihn gen Himmel halten! Dann werden selbst die Götter sehen, dass ich ein Held bin, ein Sterblicher, der sogar dem Olymp würdig ist!"
„Du redest geschwollen und verblendet", mischte sich Vaia ein. „Würden die Götter dich testen wollen, dann würden sie warten, bis du das Mannesalter erreicht hast. Kein Kind wird jemals in den Olymp aufgenommen werden."
„Hüte deine Zunge, Weibsbild!"
„Sprich nicht so mit ihr!", warf Dias ein und Vaia nickte fleißig. „Wir dürfen uns nicht streiten. Nur mit gemeinsamen Zielen und Kräften können wir diese sieben Tage und sieben Nächte überleben."
„Was dann?", fragte Elara leise und aller Augen richtete sich auf sie.
„Wie bitte?", fragte Vaia und gab sich große Mühe, trotz ihrer Bestürzung, freundlich zu wirken.
„Was tun wir nach sieben Tagen und sieben Nächten, wenn wir keinen der Ausgänge gefunden haben? König Minos wird uns nicht suchen und holen lassen. Was also, wenn wir keinen der Ausgänge finden?" Ihre Stimme war leise und zittrig und erinnerte Dias an einen kleinen Bach im Wald.
„Wir werden einen Ausgang finden", versicherte ihr Vaia. „Es gibt mindestens vier Eingänge." Sie hob vier Finger hoch und zählte ab. „Unseren und die drei anderen, durch die die anderen Gruppen geschickt wurden. Ich vermute, sie werden relativ weit auseinanderliegen. Minos hat uns nicht umsonst getrennt. Zusammen wären unsere Überlebenschancen sehr hoch, getrennt und dadurch geschwächt, sinken sie aber je Gruppe. Deswegen wird er dafür gesorgt haben, dass die Eingänge weit genug auseinanderliegen, damit wir uns nicht sehr früh zufällig über den Weg laufen. Ich hege die Hoffnung, dass wir dennoch auf eine der anderen Gruppen stoßen werden. Das Labyrinth mag zwar riesig und verworren sein, aber wenn die Götter wirklich über uns wachen, dann werden sich unsere Wege kreuzen."
„Du bist ganz schön zuversichtlich", gab Dias zu.
Sotiris schnaubte. „Zuversicht wird die Bestie auch nicht töten."
„Wir müssen sie auch nicht töten", sagte Vaia. „In diesem Moment sind wir die Eindringlinge in sein Heim, wir sind die Parasiten, die er auslöschen will. Aber wenn wir eine Konfrontation vermeiden, dann stehen unsere Chancen sehr gut, dass wir all die Tage und Nächte heil überstehen, vielleicht auch ohne Verluste." Sie verzog das Gesicht und wandte den Blick von den anderen ab. „Es wird schwierig, das hier ohne Opfer zu überleben."
Dias biss sich auf die Unterlippe, Elara blickte betrübt zu Boden, Sotiris schwieg, doch keiner von ihnen kam noch zu einer Antwort.
Ein ohrenbetäubender Lärm durchschnitt die Stille. Alarmiert sprangen sie auf. Das schrille Echo in den schmalen Gängen, das sogar seine Knochen vibrieren ließ, war so laut, dass Dias' Ohren sicherlich anfingen zu bluten,
„Was ist das!?", schrie er und kaum, dass er die Lippen wieder geschlossen hatte, sah er, was diesen Lärm verursacht hatte. Über ihnen, an der Decke, fast vollkommen in den Schatten verborgen, hingen mindestens ein Dutzend silbrig glänzende, riesige Vögel, die metallischen Schnäbel weit aufgerissen. Von ihnen kam ein weiterer Schrei, der Dias dazu veranlasste, schmerzerfüllt die Augen zu schließen.
Die Vögel kamen aus in der Decke erbauten Nestern und fingen alle an zu schreien und zu kreischen. Der Lärm war so laut und beinahe nicht auszuhalten, dass er begann, mit seinem Schwert unnütz die Luft zu zerschneiden, in der vagen Hoffnung, diese Vögel damit zu vertreiben.
„Das sind stymphalische Vögel!", rief Vaia und griff nach dem Bogen, den Elara fallengelassen hatte. Das kleine Mädchen hielt sich selber schreiend die Ohren zu und kauerte sich auf dem Boden zusammen. Vaia jedoch griff sofort an.
Ein Pfeil schoss in den Schwarm von metallischen Vögeln, den Dias, dessen Muskeln vor Anspannung zum Zerreißen gespannt waren, nicht wagte, aus den Augen zu lassen. Seine Hand, die noch immer seine Ohren vergeblich zu schützen versuchte, schnellte reflexartig zum Griff seines Schwertes, als sich einer der Tiere aus der Masse löste und drohte, sich auf sie zu stürzen. Er hatte seine Waffe erhoben, doch bevor er auf den Angreifer losstürmen konnte, erkannte er ungläubig, dass das Tier wie ein Stein und ungelenk zu Boden stürzte. Es war tatsächlich getroffen worden! Grimmig und erstaunt zugleich betrachtete er den zuckenden Vogel, der einige Meter von ihm entfernt auf dem steinernen Boden aufgekommen war. Von nahem betrachtet, sah er, dass die Vögel nicht komplett metallisch waren. Lediglich Krallen, Schnabel und Federn glänzten so silbrig wie Eisen und waren so scharf wie Schwerter. Sie waren in etwa so groß wie ein ausgewachsener Mann.
Durch den Tod ihres Kameraden bestürzt und aufgebracht, fingen die restlichen Vögel an, ihre Federn wie Pfeile auf sie herabregnen zu lassen. Die Kinder hatten es den alten Schilden zu verdanken, dass sie einem schmerzvollen Tod entkamen. Wie aus Reflex hatten sie sie über ihre Köpfe gehalten. Dias hatte sich geistesgegenwärtig über Elara gestellt.
„Schießt sie runter!", schrie Vaia über den Lärm der kreischenden, stymphalischen Vögel und den pfeifenden Federn, die schnell wie der Wind hinabsirrten und von den Steinplatten abprallten. Ihre Schilde würden dem sicherlich nicht lange standhalten. Vaia spannte den Bogen erneut und wollte einen weiteren Vogel von der Decke schießen, musste aber mit einer Ausweichrolle beiseite hechten, um dem spitzen Schnabel eines übermütigen Angreifers zu entgehen. In einer einzigen, flüssigen Bewegung, die so wirkte, als hätte sie jahrelang nicht anderes getan, tauschte sie Bogen gegen Schwert und rammte dem Vogel die Spitze tief in die Kehle. Ein metallisches Schaben ertönte und der Schrei des Tiers verebbte zu einem kläglichen Kreischen, ehe es komplett verstummte. Dem tödlichen Chor der stymphalischen Vögel fehlte eine weitere Stimme.
Dias hatte indes das einzige getan, was ihm möglich war, ohne seine Deckung aufzugeben – er hatte gezielt und sein Schwert mit einem weiten Schwung in die Luft geworfen. Entgegen seiner Erwartungen bohrte es sich tief in die Brust eines der Vögel und einige Tropfen an feuchtem, warmem Blut regneten auf ihn herab. Der zuckende Vogelkörper kam einige Meter neben ihm gefährlich klirrend auf dem Boden auf, das Schwert noch immer aufrecht in der Brust steckend.
Mit jedem Verlust, den die stymphalischen Vögel einstecken mussten, wurden sie aggressiver und gewagter. Jetzt stürmten sie herunter und griffen mit ihren scharfen Schnäbeln nach ihren Händen, oder versuchten mit ihren rasiermesserartigen Krallen ihre Schilde zu greifen. Dias hatte schon genug damit zu tun, Elara vor den tödlichen Vögeln zu schützen, jetzt konnte er nicht mal mehr sein Schwert erreichen. Er keuchte vor Anstrengung, den Schild zu halten und versuchte sich und das Mädchen immer weiter zurückzudrängen, ohne seiner Verteidigung dabei aufzugeben.
Sotiris tat hingegen sein Bestes, damit Vaia freie Schussbahn hatte und nicht, wenn sie den Bogen spannte, bereits von ihren Angreifern aufgeschlitzt wurde. Er schlug mit dem Schwert nach den Vögeln, schrie ihnen zu, lenkte die Aufmerksamkeit auf sich.
Sie kämpften ohne Absprache wunderbar zusammen und ergänzten sich, wie in einem Uhrwerk.
Vaia hatte noch zwei Vögel erlegt, da stieß einer der Tiere einen noch lauteren und noch schrilleren Schrei aus, als zuvor und stieß auf sie herab. Die restlichen folgten.
„Pass auf!", schrien Dias und Sotiris wie aus einem Munde, doch Vaia brauchte ihren Ruf gar nicht. Sie wich aus und rollte über den Boden, als würde sie den ganzen Tag lang nichts anderes tun. Mit einer unglaublichen Schnelligkeit hatte sie ihr eigenes Schwert gezückt und gleich zwei heranstürmenden stymphalischen Vögeln die Krallen abgehackt. Obwohl ihre Waffe alt und schartig war, ging es durch die metallischen Glieder ihrer Gegner wie durch warme Butter.
Da die Vögel sich Vaia als ihr Ziel ausgesucht hatten, drückte Dias Elara den Schild in die Hand, stürmte vor und zog sein Schwert aus dem toten Vogel zu seinen Füßen. Erneut schossen sie Federn wie Pfeile auf sie herab, doch alle konzentrierten sich nur auf eine Person, sodass er und Sotiris sich von hinten an ihre Gegner heranwagen konnten, die dem Boden so nah gekommen waren, wie nie zuvor.
Mit einigen gezielten Schwerthieben überraschten sie die Vögel. Sie rammten ihnen die Spitzen in die Flügel und hackten nach ihren Krallen und Schnäbeln. Als Dias bereits der Arm drohte vor Schmerz abzufallen, stieß einer der Vögel erneut einen lauteren Schrei aus, anders als die zuvor. Er ging durch Mark und Bein und ließ seine Nackenhaare aufrecht stehen.
Durch den erneuten Schrei stoben die Vögel auseinander, flatterten kreischend und schreiend den Gang entlang, hinterließen Blut und Federn auf dem Steinboden, bis sie irgendwann nicht mehr zu hören waren.
Verschrammt und erschöpft ließen sie ihre Waffen sinken und versuchten zu Atem zu kommen. Schweiß stand ihnen auf der Stirn und Dias' Brust hob und senkte sich, als wäre er gerade den Weg von Kreta bis nach Athen gerannt.
Schwer atmend ließ sich Vaia auf den Boden fallen. Der Bogen fiel ihr dabei aus der Hand und sie schloss die Augen. Erst da bemerkte Dias, das sich eine der Federn durch ihren linken Oberschenkel gebohrt hatte. Dunkelrotes Blut sickerte durch ihr Gewand und tropfte auf den Boden.
„Oh, ihr Götter", murmelte Dias und eilte sofort an ihre Seite.
„Es ist nicht so schlimm", sagte sie mit zusammengebissenen Zähnen und noch immer geschlossenen Augen. „Sie steckt nicht tief." Sie hob ihre Hand an die Feder, doch Dias packte ihr Handgelenk.
„Lass mich das machen", erwiderte er. „Du hast wirklich genug getan." Ein stolzes Lächeln erschien auf seinen Lippen, bevor er es verhindern konnte. „Wie du gekämpft hast... unglaublich."
Ihre Wangen nahmen einen leichten Rosaton an. „Ich weiß nicht, wie...", fing sie an, biss dann jedoch schmerzerfüllt die Zähne zusammen, als Dias ihr mit einem Ruck die Feder aus dem Oberschenkel gerissen und ihr dann die Hand auf die Wunde gedrückt hatte.
„Wir sollten das trotzdem verbinden", sagte er. Er sah zu Sotiris, der mit hängenden Schultern neben ihm stand, und dann zu Elara, die mit großen Augen zu der verletzten Vaia blickte. Wenn er sich nicht täuschte, dann schwamm ihr Blick in Tränen.
Trotzdem war sie es, die einen Vorschlag hatte. „Wie wäre es mit den Vögeln", sagte sie kleinlaut, als hätte sie Angst, dass jemand sie deswegen schlagen würde. „Wir...wir könnten die weichen Federn aus der Brust nehmen und sie zusammenbinden..."
Vaia öffnete die Augen. Neben ihrem Arm lag ein stymphalischer Vogel, dessen Hals von einem gut platzierten Pfeil durchbohrt war. Sie legte dem toten Tier eine Hand auf den riesigen Brustkorb und fuhr dann sanft darüber. „Könnte gehen", murmelte sie und griff in die Federn. „Sie sind weich und stabil."
Ohne zu zögern ging Sotiris in die Knie, um dem ihm am nächsten Tier die Federn aus der fleischlichen Brust herauszureißen.
Elara saß noch immer auf dem Boden, Dias' verschrammten Schild mit beiden Händen umklammert. Einige der metallischen Federn steckten in der Oberfläche. Sie schluckte ihre Tränen herunter.
Zusammen hatten Dias und Sotiris Hände voll mit den weichen Federn der stymphalischen Vögel herausgerissen. Sie zogen eines der zwei Bänder aus Vaias Proviantbeutel heraus und banden damit die Federn an ihrem Bein zusammen, die, trotz einer behelfsmäßigen Säuberung, vom Blut der Vögel verklebt waren. „Das wird nicht allzu lang halten", sagte er und half Vaia auf die Beine.
„Es ist besser als gar nichts", erwiderte sie grimmig und belastete ihr Bein. Anscheinend konnte sie gut stehen und auch teilweise schmerzfrei laufen. „Aber wir sollten weiterziehen. Ich kann mir nicht erklären, warum die stymphalischen Vögel hier im Labyrinth sind, aber sie werden definitiv zurückkehren. Sie verlassen ihre Nester nur, wenn sie sterben. Wahrscheinlich sind die Überlebenden gerade auf der Suche nach Verstärkung." Sie atmete noch immer schwer.
„Du hast Recht", sagte Sotiris, der etwas zur Vernunft gekommen zu sein schien. „Lasst uns weiterziehen. Hier, halt dich an meiner Schulter fest."
Dankbar legte Vaia ihm eine Hand auf die Schulter und ließ sich stützen, während Dias Schwerter und Schilde einsammelte. Den Bogen, den Vaia fallengelassen hatte, gab er wieder an Elara.
„Achte gut darauf", sagte er. „Du hast gesehen, wie er uns helfen kann." Er lächelte das ängstliche Kind an.
Sie nickte und fragte dann: „Sollten wir nicht etwas von dem Fleisch mitnehmen?"
Sie deutete mit ihrer blassen Hand auf die Leichen der Vögel, doch sowohl Vaia als auch Dias schüttelten den Kopf. „Stymphalische Vögel sind ungenießbar", erklärte sie. „Ihr Fleisch ist mit metallischen Substanzen verdorben. Sie sind verfluchte Wesen, manche behaupten sogar, sie seien eine Strafe der Götter. Wieder andere glauben daran, dass der Gott der Schmiedekunst Hephaistos sie aus einem Schwert und einem Stück Putenfleisch hergestellt hat, um seine Lager zu schützen. Was auch immer davon sich bewahrheiten wird", knurrte sie grimmig, „ich weiß, dass diese Vögel gefährlich und mehr als tödlich sind."
„Lasst uns einfach gehen", sagte Sotiris. „Hier lang, weg von ihnen." Er führte sie in die andere Richtung, weg von den stymphalischen Vögeln und wieder tiefer in das Labyrinth von Dädalus.
Einige Zeit schwiegen sie. Vaia wollte nicht anhalten, um die Wände zu untersuchen, Elara schien augenscheinlich viel zu verängstigt zu sein, um überhaupt den Mund zu öffnen und Sotiris war offensichtlich auf der einen Seite in Gedanken versunken zu sein, auf der anderen Seite aber mit dem Stützen von Vaia beschäftigt, weshalb er vor Mühe die Lippen fest zusammenpresste.
Dias holte nach ein paar Minuten zu den beiden auf. „Das war ziemlich unglaublich, wie du gekämpft hast", sagte er noch einmal zu Vaia. „Ich habe noch nie gesehen, wie sich jemand so schnell und so präzise bewegt hat."
Sie blickte zu ihm, doch ihr Blick war in die Ferne gerichtet. „Das wollte ich vorhin schon sagen. Das war ich nicht. Ich weiß nicht, wie ich das gemacht habe. Ich... ich bin keine wirkliche Kämpferin."
„Sei nicht bescheiden", warf Sotiris mit hochgezogener Augenbraue ein. „Du kämpfst wie ein wahrer Feldherr! Jemand wie du könnte wahrscheinlich die athenische Armee anführen und damit Kreta in wenigen Stunden einnehmen."
„Nein! Nein, ich sage euch doch, ich weiß nicht, wie ich das getan habe. Ich... ich hatte meinen Körper nicht mehr im Griff. Es war, als wäre ich gesteuert worden. Es war... unheimlich." Vaia atmete zittrig ein und aus und verstärkte ihren Griff in Sotiris' Schulter so sehr, dass ihre Fingerknöchel weiß hervortraten. „Vielleicht... nein, das ist Irrsinn. Das kann nicht sein."
„Was denn? Sag schon", verlangte Dias, der kaum glauben konnte, was sie dort sprach.
„Ich... ich habe zur Göttin Athene gebetet. Vielleicht hat sie mir geholfen. Vielleicht hat sie meine Bewegungen übernommen und für mich gekämpft?" Sie sah selber so aus, als würde sie es nicht glauben. „Ich habe doch gesagt, das ist Irrsinn. Unmöglich!"
Dias und Sotiris tauschten einen ungläubigen Blick. „Ich denke, du solltest mehr in deine eigenen Fähigkeiten vertrauen", meinte Ersterer langsam. „Aber... vielleicht hat die Göttin Athene dir Kampfesweisheit geschenkt. Manchmal helfen uns die olympischen Götter, wenn die Situation es verlangt, oder nicht?"
Elara blieb ständig an Dias' Seite. Er hatte das Gefühl, es würde nicht mehr lange dauern, dann würde sie sich an seinem Arm festklammern, wie an einem Stück Treibgut auf offener See.
Vaia schüttelte stumm den Kopf, wollte oder konnte aber wohl nicht widersprechen. „Lasst uns einfach weiterziehen. Je mehr Entfernung wir zwischen uns und die stymphalischen Vögel bringen, desto besser", sagte Sotiris schnell.
Stumm stimmten sie ihm zu und ließen einen weiteren Gang hinter sich.
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