27.1 Elpída - Hoffnung

Eos fiel es nicht schwer, wach zu bleiben. Jedes Mal, wenn er die Augen schloss, krochen die Bilder aus den Tiefen des Tartarus hervor und mit ihnen kamen die Schreie. Es war einfacher, wenn er nicht schlief. Wenn er wach blieb und mit seinem Finger gemächlich, langsam über die lange Seite seiner Klinge strich, immer und immer wieder, eine monotone Beschäftigung, die seinen Geist lang genug besetzt hielt, damit er nicht denken musste. Das Metall des Schwerts war kalt auf seiner Haut, aber es verbannte das heiße Gefühl der Scham und des Versagens nicht, welches den Jungen eingenommen hatte. Keine Sekunde verging, in der er nicht daran dachte, dass er es nicht geschafft hatte. Dass sein Schwert in dem Moment versagt hatte, in dem er es am meisten gebraucht hatte. Lyra war tot. Medeia war tot. Und dass nur, weil er nicht stark genug gewesen war, um es zu verhindern.

Wenn er stark genug Luft holte, dann spürte er den brennenden Schmerz in seiner Nase, die beim Kampf gegen den Minotaurus augenscheinlich gebrochen war. Calypso hatte sie mit vorsichtigen Fingern betastet, aber jegliche Berührung schmerzte wie ein Nadelstich und keiner von ihnen wusste, was man tun musste, wenn eine solche Stelle verletzt war. Also hatte das Mädchen lediglich das Blut aus seinem Gesicht getupft und jedes Mal entschuldigend gelächelt, wenn er vor Schmerz zusammengezuckt war.

Sein Blick fiel auf Calypso. Sie lag mit dem Rücken zur Wand, hatte beide Hände unter ihren Kopf gepresst und war ihm zugewandt. Dennoch fühlte er sich nie entfernter von ihr. Ihr Gesicht war von Albträumen geplagt; die Lippen zu einer dünnen Linie verzogen, die Stirn in Falten gelegt, die Nase gekräuselt. Ein Ausdruck von tiefem Schmerz beherbergte ihr Antlitz und Eos hätte alles gegeben, wenn er ihr nur hätte helfen können.

Mehr als einmal hatte er vorgehabt, ihr die Feder zwischen die Finger zu legen, die er von Hypnos bekommen hatte, aber er konnte sich nicht dazu aufraffen, aufzustehen. Wenn er aufstand, dann würde er der Welt nur ein weiteres Zeichen geben, dass er lebte. Er lebte und sie nicht. Und das konnte er nicht. Der Hass auf sich selbst saß zu tief.

Ein Stechen ging durch seinen Zeigefinger und er zischte. Blut quoll an der Stelle hervor, an der er sich den Haut an seiner Klinge aufgeschnitten hatte. Eos steckte sich seinen Finger gedankenverloren in den Mund. Der metallische Geschmack ließ ihn würgen.

Für sein Leben hatte er genug von Blut. Lyras Gesicht war blutig gewesen, als der Minotaurus sie beiseite geschleudert hatte. Es war blutig gewesen, als die Bestie sie gepackt und zerquetscht hatte. Blut hatte sich als widerliche Lache unter seiner anderen Pranke gesammelt, in der Medeia verschwunden war.

„Immer noch wach", murmelte Calypso verschlafen. Sie richtete sich mit bleichem Gesicht auf und rieb sich die Augen. „Du sollst schlafen." Ihre Stimme war kratzig.

Eos nahm seinen Finger aus dem Mund. „Du auch", erwiderte er leise.

Calypso schüttelte den Kopf. „Ich bin nicht wirklich müde", log sie offensichtlich. „Ich kann auch nicht mehr."

Der Hauch eines Lächelns bildete sich auf seinen Lippen, verschwand aber genauso schnell, wie es erschienen war. „Ich weiß. Du hast schlecht geträumt", fügte er hinzu, ehe er es verhindern konnte.

Die ineinander verhakten Finger, die sie auf ihren Knie liegen hatte, waren auf einmal ein wesentlich spannenderer Blickfang als Eos' Augen. „Es waren keine guten Träume", flüsterte sie schließlich.

„Tut mir leid", antwortete der Junge, auch wenn er nicht ganz wusste, wofür er sich entschuldigte. „Mir geht es auch so."

„Du hast nicht geschlafen."

„Muss ich nicht." Er erlaubte es sich, die Augen für einen Moment zu schließen, doch kaum hatte die Schwärze sein Blickfeld eingenommen, erschien das blutige, blasse Gesicht Lyras, das ihn bat, ihre Geschichte zu erzählen. Der Schmerz in ihren Augen, als ihr Körper den massiven Pranken des Minotaurus zum Opfer fiel, war zu viel für Eos. „Kann ich auch nicht."

Calypso schaute auf. Ihr Blick war gerötet und feucht. „Ich hatte gehofft, sie wäre da, wenn ich aufwache", sagte sie leise. „Als wäre das alles nur Teil meines Albtraums gewesen. Aber sie ist... einfach weg."

„Von Castor konnten wir uns wenigstens verabschieden. Einigermaßen", fügte Eos brummend hinzu. Er rieb sich die Augenwinkel.

„Ja", nickte sie. „Wenigstens das konnten wir. Aber wieder konnten wir nichts tun. Lyra ist – wir konnten ihr nicht helfen und ich fühle mich so", sie stockte und holte rasselnd Luft, „ich fühle mich einfach so nutzlos."

„Du bist nicht nutzlos. Du hast dein Bestes getan", erwiderte der Junge mit angespannten Schultern.

„Es war nicht genug", sagte Calypso. Ihr Blick schwamm in Tränen, aber sie ließ es nicht zu, dass auch nur eine einzige davon ihre Haut benetzen würde. „Ich konnte Castor nicht retten und jetzt konnte ich Lyra nicht retten. Sie sind tot und ich lebe."

„Sie sind nicht tot, weil du lebst", antwortete Eos.

„Lüg dich nicht selbst an, Eos." Calypsos Stimme war wie ein Stich ins Herz. „Du bist auch von Schuld zerfressen, das sehe ich doch. Lüg also bitte nicht, nur damit es mir besser geht."

Der Junge öffnete den Mund, um zu antworten, schloss ihn aber wieder, als ihm keine richtigen Worte in den Sinn kamen, die er ihr sagen könnte. Stattdessen nickte er kraftlos und wandte den Blick ab.

Es war eine kleine Ewigkeit, bis das nächste Wort gesprochen wurde. Aineas, der sich langsam ebenfalls aufgerappelt hatte und seit ihrer Flucht keine einzige Silbe gesagt hatte, meldete sich mit kratziger, rauer Stimme zu Wort. „Was sollen wir jetzt tun?"

Eos hätte beinahe, „Wir?", gefragt, aber hielt sich zurück. Es war nicht die richtige Zeit, um sich zu streiten und, so ungerne er das auch zugab, der andere Junge hatte das Geschick mit dem Schwert, das ihnen jetzt fehlte. Er konnte den anderen zwar nicht leiden, musste aber dankbar sein, dass er bei ihnen war.

„Weiter", sagte Calypso. „Einfach weiter und hoffen."

„Hoffen", wiederholte Aineas langsam. Er schnaubte. „Hoffnung ist töricht. Hoffnung ist der Weg ins offene Grab."

„Wenn du so denkst, kannst du auch hier liegen bleiben und warten", zischte Eos leise. Er hasste sich zwar und er fühlte, wie Schuld und Scham seinen Körper verbrannten, aber die Hoffnung leuchtete noch immer als kleine Flamme am Horizont seiner Gedanken. Er würde nicht aufgeben, nur weil sie erneut einstecken musste. Bis er seinen letzten Atem nicht verbraucht hatte, würde er nicht aufgeben.

„Ich habe nicht gesagt, ich würde aufgeben", erwiderte der Junge kühl. „Aber ich habe gelernt, dass Hoffnung ein unnötiger Ballast ist. Das ist hier kein Ort dafür."

„Hoffnungslosigkeit wird uns den Weg nicht zeigen", sagte Calypso.

„Hoffnung ist kein Schlüssel", fügte Aineas an. Dann seufzte er tief und rieb sich mit der Hand übers Gesicht. Seine Züge waren von Müdigkeit geprägt.

„Lasst uns gehen", sagte Eos und stand auf. Aufstehen fiel ihm noch nie so schwer. Seine Knie zitterten und drohten unter seinem Gewicht einzuknicken, aber er biss sich auf die Zunge. Er wollte die Augen schließen und sie nie wieder öffnen. Es fühlte sich falsch an zu stehen, wenn Lyra es nicht mehr konnte. „Sitzen bringt uns genauso wenig wie streiten."

„Du siehst nicht so aus, als könntest du dich überhaupt auf den Beinen halten", sagte Aineas an ihn gewandt. Sein Ton war kühl aber sein Blick besorgt. „Sicher, dass du dich nicht noch ein wenig ausruhen willst?"

„Ausruhen kann ich mich, wenn", er stockte kurz. Sein Blick flatterte zu Calypso, die ihn schmerzerfüllt anschaute. „Ausruhen kann ich mich, wenn wir hier rauskommen", sagte Eos mit lahmer Stimme.

Calypso konnte er nicht täuschen. Sie wusste, was er sagen wollte. Sie wusste ebenfalls, dass sie nicht mit ihm diskutieren sollte. Das Mädchen zog sich ebenfalls auf die Beine, dann sagte sie mit fast gefühlsloser Stimme: „Der Gang ist noch lang. Kommt schon." Ihre linke Hand schwebte einen Moment lang in der Distanz, die zwischen ihr und Eos herrschte, doch bevor der Junge irgendwie auf eine mögliche stumme Einladung reagieren konnte, ließ sie die Hand fallen und ging voran.

Aineas fing Eos' irritierten Blick auf, hob eine Augenbraue in die Höhe und grinste ihn schmal an, bevor er begann seiner neuen Kameradin zu folgen.

Es dauerte nicht lange, bis Calypso wieder sprach. Sie hatte gerade eine Wand mit einem ihrer Zeichen versehen – ein mit ihrem Schwert in die Wand geschlagenes X – und den linken der zwei Gänge gewählt, da wandte sie sich an Aineas, der von der plötzlichen Aufmerksamkeit kurzzeitig eingeschüchtert wirkte.

„Wie war es, nachdem Lyras Schwester starb?", fragte sie leise. „Tut mir leid, ich kann mir einfach nicht vorstellen, wie sowas passieren konnte. Lyra war der festen Überzeugung, dass Medeia so etwas hätte niemals tun können."

Der Angesprochene schwieg lange. Sein Blick war starr in die Ferne gerichtet, kaum darauf achtend, wo er hintrat, aber Eos sah, dass er nachdachte. Die Stirn hatte Aineas in Falten gelegt und seine Finger, die zuvor locker an seinen Seiten gehangen hatte, zogen nun immer wieder im versengten und verschmutzten Stoff seines Gewands. Schließlich sagte er: „Es war anders. Ich maße mir nicht an, Medeia gut gekannt zu haben, aber sie war verändert. Zuvor war sie... ich weiß nicht, ob das passt, aber sie war locker und fröhlich. Selbst wenn alles verloren wäre, hätte sie einen Grund gefunden, um zu lächeln. Aber nachdem Theia", er holte tief Luft, „nachdem Theia starb, war sie kaum ein Schatten ihrer selbst. Es war beängstigend. Ich... Ich habe versucht so gut es ging, zu ihr zu halten, damit sie nicht komplett ins Elend rutscht, aber es hat nicht funktioniert. Die Umstände haben gegen sie gespielt und am Ende wollte sie nicht mehr weitermachen."

„Hattest du Angst vor ihr?", fragte Eos.

Aineas schüttelte den Kopf. „Anfangs schon, ja. Aber ab einem gewissen Punkt hatte ich einfach nur Mitleid mit ihr. Sie hatte ihrer Schwester nie wehtun wollen und ihre Tat hatte sie innerlich so zerrissen, dass sie einfach nur bereit war, aufzugeben. Sie wollte sterben. Und selbst, wenn sie in irgendeiner Weise gefährlich gewesen wäre – sie wäre es mehr zu sich selbst als zu mir gewesen. Ich war nicht ihr Ziel gewesen." Er seufzte leise. „Ich wünschte, ich hätte mehr tun können, aber sie war verloren, als sie zugelassen hatte, dass Eris in ihre Gedanken eindringt."

Calypso schwieg, ehe sie mit dünner Stimme zu einer Antwort ansetzte. „Die kurzen Moment, den ich sie gesehen habe, hat mir gereicht, um zu sehen, wie schuldig sie sich fühlte. Ich bin nur froh, dass es ihr wenigstens vergönnt war, ihre Schwester wiederzusehen, bevor sie – naja. Es hat ihren Tod weniger einsam gemacht."

„Es war das gnädigste Ende, was sie hätte ereilen können", stimmte der Junge zu. Er blieb stehen und krallte die Hände in sein Hemd. „Ich bin nicht der beste Begleiter gewesen. Ich habe ihr das Gefühl gegeben, dass ich Angst vor ihr hatte, ich weiß es. Ich bin zusammengezuckt, wenn sie mich aus Versehen berührt hat. Ich habe ihr nicht gesagt, dass ihre Schwestern sie noch immer liebten, egal, was sie getan hat." Seine Schultern spannten sich. „Ich hätte viel mehr tun müssen."

„Du hast bestimmt getan, was du konntest", sagte Calypso vorsichtig. Sie und Eos waren ebenfalls stehen geblieben und sie hatte sich zu dem neuen Jungen umgedreht. „Aber... sie war nicht deine Verantwortung. Immerhin war sie ein nahezu fremdes Kind."

„Das weiß ich", erwiderte Aineas mit distanzierter Stimme. „Trotzdem. Ich hätte mehr tun müssen. Ich hätte ihr vielleicht helfen können."

„Ich dachte, du glaubst nicht an Hoffnung?", sagte Eos leise. „Wie hättest du ihr Hoffnung geben sollen?"

Aineas wandte sich zu ihm um, ein düsteres Leuchten in den Augen.

Eos hielt seinem Blick stand und fügte hinzu: „Ich sag's nur. Was hättest du großartig machen können? Wenn du selbst nicht an Hoffnung glaubst, dann solltest du auch nicht versuchen, sie bei anderen zu entfachen."

„Vielleicht sollten wir einfach weiter", sagte Calypso schnell. „Tut mir leid, es war dumm zu fragen. Lasst uns das vergessen." Sie warf Eos einen vernichtenden Blick zu, den der Junge mit einem Schulterzucken seinerseits quittierte.

„Schon gut. Lass uns einfach gehen." Aineas streckte den Rücken durch und ging weiter, dicht gefolgt von Eos und Calypso. Obschon die Luft vor Spannung knisterte, sagte keiner mehr ein Wort.

Eos spürte, wie der fehlende Schlaf langsam seinen Tribut von ihm forderte, aber er hielt die Augen offen, egal wie sehr er den Drang verspürte, sie einfach zu schließen und sich nur für ein paar Minuten hinzulegen. Doch jedes Mal, wenn er seine Lider auch nur ansatzweise schloss und die Dunkelheit sein Sichtfeld einnahm, tauchten die Bilder vor ihm auf. Dinge, die er nicht sehen wollte, die er nicht ertragen konnte. Die zurückgelassenen Schwestern in ihrem eigenen Blut, die stechenden, hungrigen Augen des Minotaurus, als sie davonrannten, die Krallenspuren, die Lyras Körper zeichneten. Eos wollte nichts mehr sehen. Er würde nicht mehr schlafen können, bis sie wieder aus dem Labyrinth herauskämen würden. Im Gegensatz zu dem anderen Jungen verspürte er noch Hoffnung in sich. Er wollte daran glauben, dass sie es lebend schaffen würden. Sie mussten es schaffen. Wenn nicht, dann würden Castors und Lyras Geschichte für immer verloren sein. Niemand würde je erfahren, mit welch einem Mut diese Kinder bis zum bitteren Ende gekämpft hatten, mit welch einer Stärke sie sich gegen das Unausweichliche aufgelehnt hatten. Sie sollten nicht umsonst gestorben sein.

Jeder Stein, der dem nächsten folgte, war ein weiteres monotones Puzzlestück in diesem Rätsel der Unendlichkeit. Eos hatte nicht einmal den Drang dieses Rätsel zu lösen. Das Labyrinth und seine Geheimnisse waren ihm egal. Er wollte leben und er hoffte. Hoffte, dass es besser werden würde.

Eos hatte am Anfang noch geglaubt, das Labyrinth selbst wäre das schlimmste, was er erleben würde. Aber er hatte sich geirrt, soviel stand fest. Das Labyrinth von Kreta war schrecklich und es war töricht überhaupt daran zu denken, dass man es überleben könnte, aber sollte man eben dies schaffen – wie machte man weiter? Würde man überhaupt genug Energie übrig haben, damit man leben wollte?

Bis zu diesem Zeitpunkt war der Junge der festen Überzeugung gewesen, dass der Tod die grausamste Strafe von allen gewesen wäre, aber langsam war er sich sicher, dass das Leben in so vielen Aspekten an Grausamkeit überhaupt nicht übertroffen werden konnte. Wenn er an die kleine Medeia dachte... für sie war der Tod eine süße Erlösung gewesen, von einem Leben voller Schuld und Qual. Der Tod musste nicht immer etwas Schlimmes bedeuten.

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