25.2 Ktíni - Bestien
Die jüngere Schwester kam zu keiner Antwort. Ein widerlicher Luftzug durchschnitt den Raum, ließ Eos straucheln und würgen. Feuer brannte in seiner Nase und seinem Mund. Jeder Atemzug fühlte sich an, als würde alles in seinem Inneren verdorren. Tod quoll durch seine Körperöffnungen. Der Gestank des Verderbens, der Versagens drang in jede seiner Poren. Eos fühlte sich besiegt, erschöpft, verloren.
Dann erschütterte die Welt. Sie zerbrach entzwei. Ein Stampfen und ein Beben erfüllten die Luft. Seine Ohren explodierten. Er konnte nichts sehen, nichts hören, nichts riechen. Eos war sinneslos, ohne Orientierung. Flog er? Fiel er? Wo war oben und wo unten? Warum verging die Zeit, obwohl die Welt bereits starb? Es folgte ein erneutes Beben. Etwas zerrte an ihm. Sein Arm wurde in eine Richtung gezogen. War das der Tod, der nach ihm griff? Hatte der Fluss Styx seine weißen Fluten geschickt, damit seine Seele auf ewig in seinen Nebelwassern verbringen würde?
„Eos!" Calypsos Stimme war das einzige, was er hörte. Sie schrie in sein Ohr. „Eos, steh auf!"
Er spürte etwas Warmes an seinem Kopf und realisierte einen Moment später, dass es sich um Blut handelte. Er konnte sich allerdings nicht erinnern, sich verletzt zu haben. Vielleicht war es gar nicht sein Blut?
Mit wenig Kraft versuchte er die Augen zu öffnen, aber alles, was er sah, war ein verschleiertes Bild eines vor ihm schwebenden Gesichtes.
„Eos, bei allen Göttern, steh auf! Ich lass dich nicht zurück!" Jemand schlug ihn und Fingernägel kratzten über seine Haut. „Öffne deine verdammten Augen!"
„Was", murmelte er leise, brachte nicht einmal eine Frage hervor.
Calypso war über ihn gebeugt. Sie kniete auf dem Boden, ihre linke Hand war in seinen Unterarm gekrallt – etwas, das er nicht spürte – und ihre rechte war erhoben, erneut zum Schlag bereit. „Du bist gestürzt!", schrie sie ihn an. „Da kommt etwas, steh auf!" Ihre Stimme war ein stilles Echo in seinem Kopf. Irgendwo in der Ferne konnte er noch jemanden hören. Dann wieder ein Weltenbrechen. War der Hades aufgebrochen und die Monster des Tartarus kamen, um sie zu verschlingen?
Sie schlug ihn erneut und dieses Mal klärte es seinen Geist. Um ihn herum rieselte Staub von der Decke. Lyra hatte ihren Dolch gezogen und stand vor den beiden, Aineas und Medeia waren aus seiner Sicht verschwunden, aber er konnte ihre hastigen Schritte vernehmen. Irgendwo klirrte etwas und er stellte fest, dass Lyras Schwert nicht an ihrem Gürtel hing.
„Jetzt steh auf! Du bist hingefallen und hast dir den Kopf am Boden aufgeschlagen. Wir müssen weiter, irgendwas kommt." Panik schwang in Calypsos Stimme mit, als sie sprach, ihre Augen waren mit glitzernden Perlen gefüllt. Strähnen ihrer blonden Haare krümmten sich im Feuerschein.
Ein erneutes Stampfen, Beben ließ ihn wirklich realisieren, was geschehen war.
„Was ist das?", rief er und rappelte sich mit Calypsos Hilfe auf. Seine Hand fand automatisch den Griff seiner Klinge, die andere krallte er in das Gewand des Mädchens.
„Ich will es nicht herausfinden!", schrie Lyra über den Lärm eines weiteres Bebens. „Jetzt hör auf zu träumen, Eos. Wir sollten verschwinden!"
Die Welt roch nach Feuer und Tod, als Eos von Calypso weitergezogen wurde. Aineas und Medeia warteten mit todesbleichen Gesichtern im Ausgang des kleines Raumes. Das Mädchen zitterte am ganzen Leib, obwohl Eos schwitzte, als wäre er in einem Schmiedeofen gefangen.
„Los, los!", rief Aineas aus, die Finger fest um Lyras Schwert geschlungen. „Ich will nicht sehen, was uns dort entdeckt hat!"
„Das ist meine Schuld", wimmerte Medeia leise, als das Echo eines weiteren Bebens verklungen war. „Ich wusste, ich bringe Unglück."
„Jetzt halt den Mund und lauf!", schrie Lyra sie an, ihr Dolch wie ein mahnender Finger vor sich gehoben. „Ich weiß, wie ich diese Klinge nutze, also reiz mich nicht."
„Tu es doch", erwiderte ihre Schwester katatonisch. „Dann ist es vorbei."
„Streitet später", brüllte Aineas mit solch einer Wucht in der Stimme, dass Eos für einen Moment zu atmen vergaß. Es hatte beinahe etwas Beruhigendes an sich. Aineas' Wut stand im Gegensatz zu Eos' Furcht und vielleicht war es die Kombination beider Dinge, aber Eos fühlte sich besser. Sicherer. Er könnte später seinen Gefühlen erliegen. In diesem Moment war das nicht wichtig.
Lyra blickte den Jungen irritiert an, dann nickte sie verhalten. „Du hast Recht. Los!" Sie stieß Medeia an, damit sie loslief und dieses Mal protestierte das Mädchen nicht, sondern ließ das Echo ihrer Schritte mit denen von Aineas und Calypso verschmelzen.
Kaum waren sie allerdings losgerannt, erschien das Verderben hinter ihnen. Der Minotaurus schnaufte und derselbe widerwärtige Luftzug durchzog den Steingang, ließ Eos innerlich verrotten. Mit einem Schritt seines massiven, behuften, haarigen Beines ließ es die Erde erzittern, mit dem nächsten ließ es den Himmel zerbrechen. Zwei gierige, blutrünstige Augen funkelten durch den von der Decke rieselnden Staub zu ihnen herüber, Geifer tropfte von den spitzen Reißzähnen. Das Feuerlicht ließ die Hörner auf dem Haupt des Untiers wie die Klingen von Schwertern wirken; bereit, ihre Körper zu zerfetzen und ihr Fleisch zu zerreißen. Mit klauenbesetzen Pranken griff es nach einer der Steinsäulen und zerquetschte sie wie einen dünnen Ast, ließ Geröll zu Boden krachen und ganze Wolken aus Staub durch die Welt fegen.
Ein Atemzug des Minotauren war stark genug, dass er Eos und die anderen Kinder vom Wegrennen hinderte, das Ausblasen der Luft hingegen ließ sie straucheln; dieses Mal verlor Lyra mit einem spitzen Schrei das Gleichgewicht.
„Er hat mich eingeholt", konnte Eos die Stimme von Medeia hören, allerdings war er sich überhaupt nicht mehr sicher, von wo sie kam. „Ich bin mit dem Leben geflohen, aber eine Beute lässt er nicht entkommen." Sie wimmerte.
„Du bist ihm begegnet?", schrie Lyra panisch und rappelte sich auf. Ihr Gewand war an den Knien blutig.
„Nicht die richtige Zeit!", erinnerte Aineas sie.
„Richtig!" Lyra packte ihren Dolch fester. An weglaufen war nicht mehr zu denken. Der Minotaurus hatte sie eingeholt, starrte sie mit seinen hungrigen Augen an und er würde sie nicht gehen lassen.
Eos packte die kalte Angst im Angesicht des Ungeheuers des Labyrinthes. Die Geschichten machten dem Untier zwar alle Ehre, doch sie konnten die furchterregende Realität, die der Minotaurus war, nicht einfangen. Es war viel schlimmer, als er es sich je vorgestellt hatte. Es war, als wäre der Tartarus entzweigebrochen und hätte diese Abscheulichkeit geboren. Dichtes, schattenschwarzes Fell bedeckte den Körper der Monstrosität und schon bald würde es mit dem frischen, roten Blut seiner Opfer verschmiert sein. Der Junge konnte beinahe vor seinem Auge sehe, wie der Minotaurus mit seiner riesenhaften Pranke nach einem von ihnen greifen würde. Die schiere Kraft hinter seinem Griff würde ausreichen, damit ihre Rippen brechen und ihre Körper zerquetscht würden, noch bevor das Untier überhaupt zudrücken konnte. Es musste sich nicht anstrengen, um sie zu töten. Sie waren wie Fliegen vor der Katze; leichte Beute, nichts weiter als ein kleiner Happen. Sein Hunger würde nicht gestillt werden. Der Minotaurus würden brüllen und wüten während er sie einen nach dem anderen verspeisen würden.
Angstschweiß tropfte ihm von der Stirn, als die Hoffnung seinen Kopf durchfloss, dass er der erste sein würde, der dem Monster zum Opfer fiel. Wenn er tot war, müsste er nicht mitansehen, wie Calypso auseinandergerissen werden würde. Er müsste nicht sehen, wie der Minotaurus Lyras Versuche zu kämpfen unter seinen Hufen begrub. Er würde Medeias erstickten Schrei nicht hören, während das Untier ihr den Schädel zerdrückte –
Calypso kniff in seinen Unterarm. „Komm zu dir, Eos!" Ihre Stimme klang tausend Jahre entfernt, aber reichte aus, damit der Junge seinen Kopf vehement schüttelte. „Ich – Wir brauchen dich!"
Sie hatte ihre Klinge gezogen und einen der Schilde von ihrem Rücken an Aineas gegeben, der ihn Medeia in die Hand drückte. Sie wirkte unglaublich klein mit der Schutzrüstung vor sich.
Lyras Klinge befand sich noch immer in Aineas Hand und er hielt sie ausgestreckt vor sich. Sein Gesicht war von Schatten befallen, aber der Ausdruck in seinen Augen sagte alles aus, was Eos wissen musste: Er würde nicht kampflos aufgeben.
„Wir haben ihn einmal besiegt", rief er über die Schulter.
„Wir sind weggerannt", erwiderte Medeia mit zittriger Stimme.
„Und sind entkommen", sagte der Junge und knirschte mit den Zähnen.
Der Minotaurus starrte die Kinder an. Er schnaufte erschreckend ruhig und betrachtete seine Beute mit einer Gelassenheit, die Eos einen kalten Schauer durch den Körper jagte. Das Untier war sich seines Sieges viel zu sicher. Es wartete. Spielte mit der Angst seines unausweichlichen Angriffs. Es würde lossprinten und sie zerreißen, Eos wusste es. Er wusste, sie würden sterben. Aber er würde nicht aufgeben. Nicht, solange alle um ihn herum bereit waren, zu kämpfen. Er schuldete es ihnen. Er schuldete es Castor. Jemand von ihnen musste leben, um seine Geschichte zu erzählen.
„Sobald er rennt, sind wir tot", knurrte Lyra.
Eos setzte schon zu einer Erwiderung an, dass ihnen diese Erkenntnis nicht half, da sprach sie weiter: „Aber wenn wir zuerst angreifen, können wir ihn vielleicht verwirren. Der Minotaurus ist groß und schwer, aber wir sind viele, wir sind klein und schnell. Wir müssen ihn nicht besiegen", sagte sie und blickte nach hinten. Ihr Blick streifte Eos' und ein kampfmutiges Lächeln erschien auf ihren schmalen Lippen. „Wir müssen nur Zeit verschaffen, damit wir entkommen können."
„Wir könnten auch rennen", sagte Medeia so leise, dass es im Schnaufen des Untiers beinahe unterging. „Das hat letztes Mal geholfen."
„Ich werde nicht wegrennen", antwortete Lyra mutig und edel und dumm.
Dann werden wir sterben, dachte Eos, packte sein Schwert fester und hob seine Mundwinkel. Ein schmales, halbes Lächeln erschien auf seinen Lippen, als er dem Minotaurus entgegenblickte. Die Erwartung könnte sein Tod sein oder sie würde seine Klinge schärfen. Er würde es in wenigen Momenten wissen.
„Bleib zurück", sagte Lyra zu ihrer Schwester. Zu den anderen sagte sie: „Angriff auf mein Zeichen. Zielt auf die Beine. Wir müssen wegrennen können, wenn er geschwächt ist."
Einstimmiges Nicken war die Antwort.
Eos warf Calypso einen letzten Blick zu, sog jedes ihrer Details auf; wie ihr Haar im Feuerschein beinahe golden brannte, wie ihre Augen mit Wille zum Kämpfen leuchteten, wie ihr Mund zu einer harten Linie gezogen war. Er wollte sie sehen, sie aufnehmen. Spüren, fühlen, verinnerlichen. Wenn sie das letzte sein würde, das er sehen würde, dann wäre das akzeptabel für ihn. Calypso war tausend Jahre entfernt und doch direkt neben ihm, wie ein fallender Stern am Himmel und er ein Meer aus Gras darunter. Entfernt und verbunden. Ihre Finger suchten seine. Für einen kurzen Moment der Unendlichkeit berührten sie sich, schickten kleine Gewitter durch ihre Körper, teilten den Augenblick der Stille vor dem Aufprall.
Dann explodierte die Luft. Lyra schrie etwas, aber ihre Worte gingen im Echo der Welt unter, Eos stürmte ihr hinterher, rannte dem Verderben direkt entgegen. Er sah die klauenbesetzte Pranke zugreifen und rollte zur Seite, spürten jeden harten Stein auf seiner Haut. Seine Klinge fand Fell und schnitt, aber er hätte genauso gut gegen die Mauern des Olymp schlagen können.
Der Minotaurus brüllte, ein tödliches Geräusch in seinem Kopf, welches laut genug war, damit es sich anfühlte, als würde sein Blut verdampfen. Das Monster war es nicht gewohnt, dass seine Beute zurückschlug, soviel war sicher. Verwirrt von den kleinen Angriffen schlug es aus. Beinahe begrub es Eos unter seinem Huf, aber eine wie aus dem Nichts auftauchende Calypso rannte ihn um und die beiden gingen in einem Knäuel aus Gliedern zu Boden, ehe das Bein des Monsters die Welt entzweibrach. Seine Brustverletzung ging in Flammen auf und raubte ihm den Atem, aber er versuchte sie auszublenden.
Der Junge konnte gerade so ein, „Danke", hervorwürgen, da hatte sich Calypso bereits aufgerappelt und ihr Schwert gegen den fleischigen, massigen Rücken des Untiers geschlagen. Eos wartete nicht, bis sie ihn einlud. Er sprang in einer einzigen Bewegung auf und drückte seine Klinge mit so viel Kraft, wie er in den Armen besaß, gegen die fellbesetzte Haut, wie er konnte. Der Schmerz fraß sich durch seine Brust. Seine Muskeln brannten und brachen und zersprangen, aber er presste solange, bis der kleinste Tropfen an Blut seine Schwertschneide entlangrann. Es war ein kurzer Erfolg. Es war ein schwacher Erfolg. Aber er reichte aus, damit in Eos' Kopf nur noch ein Gedanken erklang: Es konnte verletzt werden und was verletzt werden konnte, konnte sterben.
Irgendwo zu seiner Linken erklang ein lautes Brüllen gepaart mit der unabwehrbaren Angst, die Aineas verspüren musste, als er dem Schlag der Bestie auswich und auf dem Boden aufkam. Seine neue Klinge klapperte auf dem Stein, aber er beeilte sich, sie aufzusammeln, bevor der Minotaurus mit seinen Hufen drauftreten könnte.
Eos' Abneigung gegen den anderen Jungen schwand, als er sah, wie verbissen er sich aufrappelte und wieder versuchte zu kämpfen. Er wusste zwar nicht, wie er jemandem vertrauen sollte, den er erst Stunden zuvor kennen gelernt hatte, aber in einem Kampf um Leben und Tod konnte er sich nicht aussuchen, wen er mochte oder nicht.
Lyra rannte in sein Blickfeld, das verschwitzte Gesicht mit Blut verschmiert, aber sie präsentierte das breiteste Grinsen, dass er je bei ihr gesehen hatte. „Weiter, weiter!", schrie sie und stach mit ihrem Dolch in die linke Flanke der schwerfälligen Bestie, welche gerade zu einem Huftritt gegen Aineas ansetzen wollte. Der flinke Stich von Lyras Klinge reichte nicht aus, damit der Minotaurus auch nur zusammenzuckte oder Schmerzen verspürte, aber er genügte, damit er sich dem neuen Angreifer zuwandte. Lyra ließ sich nicht viel Zeit, damit die Bestie sich erblicken konnte; sie schlüpfte unter seinen Beinen hindurch, kratzte mit ihrer Klinge über die Hufen und die dunkle Haut, schnitt ins Fleisch und verschwamm dann wieder wie ein Schatten im Fackelschein.
Ihr Glück hielt nur so kurz an. Die Ungeduld des Minotaurus wuchs mit jedem Stich, mit jedem vergossenen Tropfen seines halb menschlichen, halb tierischem Blutes. Das Monster brüllte und entblößte dabei seinen hungrigen Rachen. Fauliger Gestank erfüllte die Luft, der Duft des Verderbens drang in sie ein. Sie vervielfältigte die Angst, extrahierte ihren Willen zu Kämpfen. Eos wollte einknicken. Zu Boden fallen.
Einen Augenblick später holte die Bestie aus und warf den in der Mitte des Raumes stehenden Tisch zur Seite. Holz splitterte und all die Kleinigkeiten flogen durch die Luft, Kollateralschaden eines massiven Wutausbruchs. Der Minotaurus wartete nicht, bis seine Feinde wieder angriffen. Mit polternden Schritten durchquerte es den Raum, schlug links und rechts aus und peitschte mit einer solchen Kraft durch die Luft, dass Eos jede einzelne Bewegung in seinem Körper spürte. Allein die schiere Muskelmasse der Bestie reichte aus, damit er sich klein und unbedeutend fühlte.
Dann sah er Calypsos kampfgetrübtes Gesicht. Sie stellte sich dem Minotaurus entgegen, kein Funken der Angst war in ihren Augen zu erkennen. Ihr Schwert war der Bestie entgegengereckt, stetig und fest, es zitterte nicht.
Eos stand. Es war nicht verloren. Sie konnten kämpfen. Sie waren Kinder und sie hatten keine Erfahrung, Narben und Blasen an den Händen, aber sie konnten kämpfen. Sollten die Götter auf sie niederblicken, sie würden vor ihrem Siegeswillen erzittern. Der Olymp würde beben. Die Welt brechen. Sein Wille würde nicht stürzen, solange er nicht allein war.
Ein Kampf war erst dann vorbei, wenn der letzte Kämpfer fiel und Eos würde nicht fallen.
„Wir können siegen!", brüllte er die geglaubte Lüge hinaus. Sein Herz raste und mit jedem Schritt wurde sein Atem weniger. Die Angst floss durch seinen Körper. Seine Haut war kalt und heiß zugleich. Er wusste nicht, wo oben und unten war, aber er konnte sein Schwert noch immer halten und noch waren sie nicht in Sicherheit.
Der Minotaurus ließ sich nicht von ihrem Kampfglauben beirren. Er stampfte mit dem Huf auf den Boden auf und schlug laut brüllend aus. Seine krallenbesetzte Pranke durchschnitt die Luft und raubte ihnen den Atem. Er rannte ein paar Schritte los, direkt auf Aineas und Calypso zu, die in seinem Weg standen und hektisch aus dem Weg springen mussten. Das Mädchen verlor bei ihrem Manöver ihre Klinge, die kreischend über den Stein rutschte, während sie sich versuchte schnell genug wieder aufzurichten. Ihr Gesichtsausdruck war nicht gebrochen, aber ihre Hände zitterten.
Aineas hatte sich nach einer Hechtrollte wieder auf die Beine gerichtet. Seine Klinge war nur wenige Zentimeter vom linken Oberschenkel der Bestie entfernt, als diese nach hinten austrat. Es passierte schnell und dieses Mal hatte der Junge keine Zeit, auszuweichen. Es war lediglich dem Fakt zu verdanken, dass der Minotaurus nicht gezielt hatte, dass Aineas nur vom steinharten Huf gestreift wurde. Der Junge ließ einen schmerzerfüllten Schrei hören, als er nach hinten flog und über den Stein rutschte. Er kam unweit des umgestürzten Tisches auf.
Ein zweiter Schrei erklang, als Aineas getroffen wurde und Eos' Blick flog zu Medeia, die sich an ihren übergroßen Schild klammerte. Sie stand allein im Gang und sah unfassbar verloren aus, während sie hilflos beobachten musste, wie ihr Kamerad verletzt wurde.
„Bleib zurück, Medeia!", schrie Lyra im selben Moment, in dem Eos nach vorne stürmte. Der Junge versank seine Klinge im weichen Bauchfleisch des Monsters, ignorierte das Brennen und Platzen seiner Muskeln.
Lyra sprang ebenfalls vor, rannte um die Beine der Bestie, stach und schnitt wo sie konnte, versuchte so viel Schaden anzurichten, wie möglich. Sie war nichts weiter als ein Floh auf seiner Haut, nicht einmal Wert der Beachtung, aber der Minotaurus richtete seine hungrigen Augen direkt auf das verschwitzte, schwer atmende Mädchen. Sie starrte zurück, die Augenbrauen eng zusammengezogen. Ihre Stirn war in Falten gelegt, ihre Brust hob und senkte sich rapide. Sie hielt einen Moment inne, Feuer in ihren Augen, bereit es allein mit dem Minotaurus aufzunehmen, wenn sie musste.
Der einzelne Augenblick der Ruhe, den das Mädchen sich gewährt hatte, um ihre Wut auf die Bestie zu fokussieren, war schnell vorbei.
Der Minotaurus holte aus und schleuderte das Mädchen zur Seite. Ihr Schrei ging im Krachen ihres Körpers unter, als sie gegen den demolierten Tisch flog und daran hinabglitt.
Eos wurde eiskalt.
„Nein!" Medeias Schrei hallte tosend in seinen Ohren. „Lyra!", kreischte das Mädchen.
Aus den Augenwinkeln konnte er sehen, wie Calypso zu der am Boden liegenden älteren Schwester rannte. Blut breitete sich in einer glänzenden Lache unter Lyras Kopf aus, aber noch bewegte sie sich. Calypso half ihr auf die Beine und auch wenn Lyra strauchelte und ihr Gesicht vor Schmerz verzerrte, sah sie nicht so aus, als würde sie zurücktreten. Die Wut in ihren Augen sagte alles.
Aineas, der sich wieder auf die Beine gezogen hatte, und Eos nutzten ihre Zeit und versuchten die schattenfellbesetzte Bestie weiter zu verletzen und von Lyra abzulenken. Der Minotaurus interessierte sich wenig für ihre schwächlichen Angriffe, schlug aber weiterhin aus und scharrte mit den Hufen über den Boden, in der Hoffnung, einen der beiden Jungen zu erwischen, die wie Fliegen um ihn herumrannten.
„Wir halten das nicht ewig durch!", brüllte Aineas und rollte sich unter den Beinen der Bestie hindurch. „Er ist zu groß. Wir müssen fliehen!" Sein linker Arm war kreischend rot vor Blut, aber er war nicht schwer genug verletzt, um ihn nicht mehr verwenden zu können.
Eos warf einen raschen Blick auf Lyra und sein Magen drehte sich ihm um, als er ihren schmerzerfüllten Ausdruck sah. Sie klammerte sich noch immer an ihren Dolch und es war nur dank Calypsos Hilfe, dass sie überhaupt stand. Unmöglich würden sie fliehen können, wenn Lyra so verletzt war. Heiß und kalt durchfloss es seinen Körper, als ein abscheulicher Gedanke seinen Kopf einnahm: Wenn sie Lyra zurücklassen würden, hätten sie vielleicht genug Zeit, in der der Minotaurus mit ihr beschäftigt wäre.
Ihm wurde bei dieser Option speiübel und er musste den Blick von den beiden Mädchen abwenden, von denen eines mit ihrem eigenen Blut verschmiert war.
„Konzentriert euch auf einen Punkt", rief Calypso irgendwo hinter ihm.
Er konnte nur hoffen, dass sie schlau genug war, um Lyra aus der Gefahrenzone zu bringen. Sein Magen drehte sich erneut um, als Calypso einen Augenblick später neben ihm auftauchte und wie ein Schatten in die Flanke des Monsters stach. Sie tänzelte zurück.
„Ihr müsst fliehen!", kreischte Medeia laut. „Er ist hinter mir her!" Ihre Stimme war von Angst und Tränen durchsetzt.
„Halt den Mund", brüllte Aineas auf der anderen Seite des Minotaurus zurück. „Bleib einfach zurück." Er rammte der Bestie sein Schwert in die Pranke, stolperte aber zurück, als er erneut ausholte, um ihn abzuwimmeln.
Viele Dinge geschahen gleichzeitig. Eos und Calypso sprangen auf ein unsichtbares Signal hin los, um mit ihren Klingen zuzustechen; Aineas brüllte etwas; Medeia schrie angsterfüllt; ein Dolch flog durch die Luft und der Minotaurus schlug mit seinen Pranken in beide Richtungen aus. Lyras Dolch prallte am schwarzen Fell ab und landete klappernd auf dem Boden. Aineas presste sich mit einem gepeinigten Schrei auf den Stein, damit er nicht vom Schlag des Minotaurus erwischt wurde. Eos und Calypso waren nicht schnell genug.
Der muskelbesetzte Unterarm des Minotaurus krachte durch die Luft und riss ihnen die Beine weg. Tyche lächelte auf sie herab, denn keiner der beiden wurde von seiner eigenen Klinge aufgespießt oder brach sich einen Knochen, aber Eos schmeckte Blut und spürte, wie seine Nase beim Aufprall brach.
Calypso japste neben ihm nach Luft und rollte sich auf den Rücken, ihr Brustkorb hob und senkte sich rapide, ihre Augen waren weit aufgerissen. Ihr Gesicht war zerschrammt und blutig.
Der Minotaurus brüllte und stampfte weiter, setzte seinen Weg fort. Seine linke Pranke kratzte über die Wand und demolierte zwei weitere Säulen, während er auf das zitternde Mädchen zustürzte, welches sich an einen viel zu großen Schild klammerte. Die Hörner glänzten blutrot im Feuerschein, von seinen Zähnen tropfte der widerliche Geifer.
„Weg von meiner Schwester!" Lyras Schrei war außerweltlich. „Ich lasse mich nicht erneut von ihr trennen!" Schneller, als sie eigentlich laufen sollte, sprintete sie los. Blut floss ihr aus den Haaren, Schmerz tropfte wie Schweiß von ihrem Gesicht.
„Lyra!", rief Eos aus, aber er konnte sie nicht aufhalten. Sie war an ihm, Calypso und Aineas vorbeigelaufen und auf Höhe des Minotaurus angelangt, noch bevor er ein Bein bewegen konnte.
„Weg! Weg von ihr, du Abscheulichkeit", peitschte ihre Stimme durch den Raum. Der Boden zitterte, als die Bestie für einen Moment Halt machte und seine Beute anstierte.
Lyra blieb ein einziger Augenblick, in welchem sie Eos ansehen und sagen konnte: „Verschwindet von hier!", ehe die massive Pranke des Monsters hervorstieß und sie mit schwarzen Klauen packte. Sie brüllte vor Schmerzen auf. Ein Schrei, der dem von Castor in nichts nachstand. „Los", würgte das Mädchen hervor.
„Verschwindet endlich!", schrie jetzt auch Medeia. Der Schild flog mit einem lauten Schaben zu Boden und sie rannte auf den Minotaurus zu, ihr Gesicht von Tränen verschmiert.
Das erste Mal, seit Eos sie gesehen hatte, sahen ihre Augen nicht aus, als hätte sie aufgegeben. Sie brannten mit demselben Feuer wie die ihrer Schwester und sie sprintete so schnell ihr zerbrechlicher Körper es zuließ. Eos wusste nicht, was ihr Plan war, aber er konnte nur mit blankem Horror mitansehen, wie der Minotaurus mit der zweiten Klaue zu griff.
„Nein!" Calypso musste von Aineas an den Armen gepackt werden, damit sie nicht ebenfalls auf die Bestie zulief und der gepeinigte Ausdruck in ihrem Gesicht reichte aus, damit er jedem das Herz entzweibrechen würde.
„Aaaargh!" Medeias Schmerzensschrei mischte das Echo des Kampfes neu. „Verschw-"
Ihre letzten Worte wurden abgebrochen, als der Minotaurus ihren Körper in seiner Pranke vergrub. Medeias Beine baumelten wie zwei nasse Leinen zwischen seinen Krallen über dem Boden.
„Erzählt unsere Geschichte." Lyras leise Stimme brüllte wie ein Orkan in Eos' Ohren. Er spürte, wie seine Dämme brachen. Schmerz und Wut und Tränen verließen ihn.
Lyra blickte feurig auf die andere Pranke der Bestie, in der ihre Schwester verschwunden war. Sie weinte, Blut hatte ihr Gesicht verschmiert. Ein schmerzhaftes Lächeln schlich sich auf ihre Züge und sie nickte.
Er schrie, ehe er sich umwandte. Seine Hände schlangen sich um Calypso und er zerrte sie mit sich, Aineas dicht hinter ihnen. Seine Sicht war von Salz verschleiert, aber für diesen Moment kümmerte er sich nicht an den verschwommenen Steingängen. Schnell wie ein Adler flogen seine Füße über den Stein. Die Kinder rannten in den Gang, aus dem der Minotaurus gekommen war, ließen die Bestie und die Schwestern zurück. Das wütende und triumphierende Brüllen der Bestie verfolgte sie.
Eos hasste sich in diesem Moment mehr als alles andere, aber er würde Lyras und Medeias Opfer nicht auf sich beruhen lassen. Er würde leben und aller Welt erzählen, welch mutige Kinder starben, damit sie leben konnten. Selbst, wenn er seine Zweifel gegen die jüngere Schwester gehabt hatte; sie waren mit ihrem Körper zerdrückt worden. Sie war eine Heldin und er hoffte, dass sie und Lyra ins Elysium einkehren würden.
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